Hannah fühlt sich unruhig. Sie läuft mit Margrét und den Kindern die letzten hundert Meter bis zum Polizeihaus hinunter, es ist eigentlich ein Umweg, aber sie hat keine anderen Pläne und gleich wird der Ausflug vorbei sein. Dann weiß sie nicht, wann sie Margrét wiedersehen wird. Mit oder ohne Kinder. Sie beobachtet, wie die Schneeanzüge nach der anstrengenden Tour nun ihre letzten Kräfte mobilisieren und zum Haus rennen. Sie selbst geht ein paar Schritte hinter ihnen und denkt darüber nach, ob sie vielleicht eine Entschuldigung findet, um noch ein bisschen zu bleiben. Doch als sie sich dem Haus nähern, beschleicht Hannah ein bohrendes Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Viktors Auto ist merkwürdig geparkt, als hätte er zu früh angehalten, etwas zu weit vom Haus entfernt. Ein paar Schritte weiter sehen sie, dass beide Vordertüren offen stehen.
»Was ist hier los?«
Margrét bleibt stehen, hat dasselbe gesehen wie Hannah. Die Kinder sind jetzt kurz vor der Eingangstür, die ebenfalls offen steht. Beide Frauen verstehen die Ungereimtheit im selben Moment und rennen gleichzeitig los, um die Kinder daran zu hindern, ins Haus zu stürmen. Auf der Schwelle fängt Hannah ein Bündel Kinder in Schneeanzügen, zieht sie zurück und bemerkt Flecken auf dem Dielenboden. Blutflecken.
»Bíddu!«
Margrét steht ebenfalls mit zwei Kindern in den Armen da, kreideweiß im Gesicht. Die Kinder lachen ein bisschen, vielleicht glauben sie, es sei ein lustiges Spiel. Sie winden sich, um freizukommen. Hannah begegnet Margréts Blick, aus dem unverhohlene Angst strahlt, die Vulkanfrau wirkt plötzlich, als könne sie zersplittern wie eine zarte Eisskulptur. Etwas, das Hannah um alles in der Welt verhindern will.
»Bleib mit den Kindern hier, ich geh rein.«
Ohne ein weiteres Wort gelingt es Hannah, alle Schneeanzüge in Margréts schützende Arme zu bringen. Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie Margrét die Schar etwas vom Haus wegtreibt, unter beruhigendem Gemurmel, das vielleicht bei den Kindern wirken mag, sie selbst jedoch offensichtlich nicht überzeugt.
»Sei vorsichtig!«
Hannah hört die Warnung kaum, sie tritt durch die Tür, die ebenfalls blutverschmiert ist. Ihr Herz pocht wie wild, als sie sich langsam in Richtung Wohnzimmer bewegt. Sie hat genug Thriller gesehen, um zu wissen, dass jetzt der Zeitpunkt wäre, an dem sie eine Waffe ziehen oder auf Verstärkung warten sollte. Doch sie hat keine Waffe, die sie schützen, und es gibt keine Verstärkung, die ihr helfen könnte. Hannah stellt fest, dass sie keine Angst hat, nur wirklich gespannt ist, was sie vorfinden wird. Sie schleicht sich zur Wohnzimmertür, erwartet das Schlimmste, tritt mit einer raschen, ruckartigen Bewegung ein und steht mitten im Raum, in dem alles ruhig und normal zu sein scheint. Abgesehen von einem umgestürzten Glas auf dem Wohnzimmertisch, von dem etwas Wasser auf den Teppich tropft. Eine gefühlte Ewigkeit lang betrachtet Hannah das tropfende Glas, doch dann hört sie ein Geräusch aus der Küche. Es läuft ihr kalt den Rücken hinunter. Erst jetzt bekommt sie Angst. Aber es gibt keinen Weg zurück, sie muss das Haus durchsuchen, muss es für die Kinder sichern, die draußen stehen, frierend und müde. Sie bewegt sich auf die Küche zu, blickt sich schnell nach einer Waffe um, nimmt einen Messingkerzenständer von einer Kommode, hält ihn hoch über ihren Kopf. Mit der Absicht, gefährlich und furchtlos zu wirken, und der ehrlichen Bereitschaft, dem Eindringling den schweren, scharfkantigen Leuchter auf den Schädel zu donnern, betritt sie die Küche mit einem Gebrüll, das sie selbst überrascht. Es überrascht auch die Gestalt am Spülbecken, die sich erschrocken zu Hannah umdreht und mit einem gellenden Schrei ihr Gesicht bedeckt. Eine Millisekunde bevor das Adrenalin Hannahs Arme dazu bringt, einen wohlplatzierten Angriff zu starten, wird ihr klar, dass sie jemandem gegenübersteht, den sie kennt: Viktor.
Hannah lässt die Arme sinken, ihr Pulsschlag sprengt beinahe ihre Venen, verwirrt schaut sie Viktor an, der bleich und blutleer ist und versucht, seinen rechten Arm zu verbinden. Ein Lappen auf dem Tisch vor ihm ist bereits blutdurchtränkt. Der Schweiß von seiner Stirn tropft um die Wette mit dem Blut aus einer Wunde, die lang und tief aussieht. Hannah blickt sich um.
»Ist noch jemand hier? Wer hat das getan?«
Viktor schüttelt bedrückt den Kopf, wirkt, als würde er gleich kollabieren. Hannah zieht einen Stuhl heran, schafft es, ihn daraufzusetzen. Übernimmt sein Wundverbindungsprojekt, muss heftig blinzeln, damit sie nicht das Bewusstsein verliert. Blut hat sie noch nie gut sehen können, sie ist einmal in Ohnmacht gefallen, als sie einen sehr blutigen Film im Kino angeschaut hat, und selbst beim Anblick kleiner Wunden wird ihr schwindelig. Doch offenbar hält das Adrenalin sie bei Bewusstsein, während sie rasch die Mullbinde um Viktors Arm wickelt, mit der er schon selbst versucht hatte, die Blutung zu stoppen. Es muss sich um eine lange Schnittwunde handeln, vermutlich von einem Küchenmesser. Auf der Suche nach dem Messer lässt sie den Blick schweifen, doch es ist nicht zu sehen, und erneut bekommt sie Angst, dass die Person, die Viktor offenbar in seinem eigenen Haus niedergestochen hat, sich mitsamt der Waffe noch hier befindet. Sie schenkt ein Glas Wasser ein, stellt es Viktor hin. Er wirkt verwirrt, Hannah hat keine Ahnung, ob wegen der Schmerzen oder des Blutverlusts. Sie führt das Glas an seinen Mund, er trinkt gierig.
»Bist du ganz sicher, dass niemand anders im Haus ist?«
Viktor nickt.
»Ganz sicher. Er ist gegangen. Oder gerannt. Er ist jetzt weit weg.«
»Wer war es?«
Hannah stirbt fast vor Neugierde.
»Gísli. Es war Gísli.«
Die Überraschung schleicht sich auf Hannahs Gesicht, sie starrt Viktor mit offenem Mund an.
»Gísli? Bist du sicher?«
»Natürlich. Ich hab ihn selbst hergefahren.«
Die Kinder, die nicht zum Haus gehören, sind abgeholt worden, und Margrét hat ihre eigenen vor einem Zeichentrickfilm geparkt, weit weg von dem ernsten Gespräch, das nun in der Küche stattfindet. Hannah hatte die Blutspuren so weit aufgewischt, dass die Kinder ins Haus kommen konnten, ohne für den Rest ihres Lebens traumatisiert zu sein. Keins von ihnen scheint etwas von dem Ernst gespürt zu haben, der über dem Haus liegt. Viktors Wangen bekommen wieder etwas mehr Farbe, als er zu erklären beginnt.
»Das Ergebnis von der Flasche ist gekommen. Das Blut darauf stammt tatsächlich von Gísli, also hast du aller Wahrscheinlichkeit nach recht. Er war derjenige, den Thor an dem Abend niedergeschlagen hat.«
»Und war er auch derjenige, der Thor umgebracht hat?«
Viktor zuckt mit den Schultern. Zumindest mit der Schulter, die nicht von einer selbstgemachten Schlinge umwickelt ist.
»Du hast selbst gesagt, dass du nicht glaubst, er wäre imstande, ein Gewaltverbrechen zu begehen. Aber als ihm klar wurde, dass das die Theorie war, die meinem Verhör zugrunde lag, tja … da hat es bei ihm klick gemacht.«
»Aber was ist mit dem Auto? Hat er versucht, damit wegzufahren, oder was?«
Viktor schüttelt den Kopf.
»Nein. Wie gesagt, habe ich ihn draußen bei seinem Unterschlupf gefunden und ihn gebeten, auf ein Gespräch mit zu mir zu kommen. Er war sehr widerwillig, hat die ganze Fahrt über Fragen gestellt, wirkte durch und durch nervös. Ich wollte gern in Ruhe mit ihm reden, nicht im Auto, sondern bei einer Tasse Kaffee und mit einem Tisch zwischen uns. Wollte gern sein Gesicht sehen, während er auf meine Fragen antwortet.«
»Aber ihr seid nicht so weit gekommen?«
Hannah ist ungeduldig, will alles auf einmal erfahren, weiß jedoch im tiefsten Inneren auch, dass Viktor ihr keine zufriedenstellende Erklärung bieten kann. Dass Gísli der Mörder sein soll … Alles deutet natürlich darauf hin, aber es wirkt fast zu einfach. Oder zu traurig. Hannah kann es nicht ganz greifen, aber das hier fühlt sich nicht an wie eine Entwicklung in die richtige Richtung.
»Er hat mich so unter Druck gesetzt, dass ich ihm im Auto von der Flasche und den Proben erzählt habe. Die Theorie, dass das Blut auf der Flasche vermutlich dem Mörder gehört, brauchte ich ihm nicht zu erklären, er fühlte sich instinktiv unter Anklage. Und dann ist er zum Angriff übergegangen. Hat nach mir geschlagen, während ich gefahren bin. Ich hab es geschafft, das Auto nach Hause zu manövrieren und ihn aus dem Wagen herauszuzerren und hier reinzubringen. Es war nie meine Absicht, ihn einzusperren oder ihm Handschellen anzulegen, aber bei dem Widerstand, den er geleistet hat, sah ich keine andere Möglichkeit mehr. Ich bin nur nicht dazu gekommen.«
»Weil er ein Küchenmesser gezogen hat?«
Viktor nickt.
»Ich hab es gar nicht mitbekommen, sondern auf einmal den Stich im Arm gespürt und gesehen, dass er abgehauen ist. Ich wollte ihm nachrennen, aber es hat zu stark geblutet.«
Hannah und Margrét schauen sich an. Besorgt. Margrét ergreift das Wort.
»Es war gut, dass du ihm nicht gefolgt bist. Es klingt, als wäre er zu allem bereit gewesen, um seine Freiheit nicht zu verlieren.«
»Wir müssen ihn finden.«
»Ich hab um Verstärkung aus Reykjavík gebeten, ich kann nicht allein mit ihm fertigwerden. Erst recht nicht mit dem hier.«
Viktor deutet mit einem Nicken auf seinen Arm. Der Arzt ist auf dem Weg.
»Wann sind sie hier? Die Verstärkung.«
»So bald wie möglich. Was realistischerweise wohl in ein paar Stunden sein wird.«
Hannah schüttelt den Kopf.
»Das funktioniert doch nicht. Wenn Gísli so unter Druck steht, kann er bis dahin sich selbst oder anderen großen Schaden zufügen. Wir müssen ihn jetzt finden.«
»Wir müssen überhaupt nichts. Du bist keine Polizeibeamtin und wirst nicht rausgehen und einen Mörder mit Küchenmesser jagen.«
»Aber er ist kein …«
»Stopp!«
Viktor erhebt die Stimme, wirkt, als mobilisiere er seine letzten Kräfte, um eine gewisse Kontrolle über die Situation zu behalten.
»Du wirst nicht nach Gísli suchen, verstanden?«
Hannah betrachtet Viktor, der Schmerz scheint nach dem Cocktail von rezeptfreier Medizin, den Margrét ihm verabreicht hat, nicht verflogen zu sein. Sie kann nichts anderes tun, als zu nicken. Im selben Moment klopft es an die Tür. Margrét geht hinaus, um dem Arzt zu öffnen, und Hannah folgt ihr, um nicht noch mehr zu stören als bisher.
Langsam bewegt sich Hannah die Straße hinunter. Alles in ihr zittert, sie kann nicht einfach nach Hause gehen und in rastloser Untätigkeit warten, sie muss etwas tun. Sie ist sich der Gefahr, Gísli gegenüberzutreten und dabei vielleicht ebenfalls das Küchenmesser zu spüren zu bekommen, vollauf bewusst. Ein Schauer läuft ihr über den Rücken bei dem Gedanken, wie die scharfe Klinge in ihr Fleisch eindringt. Nein, das kann sie nicht. Kurz erwägt sie die Möglichkeit, Jørn zu fragen, ob er mitkommt. Was auch immer sie von ihm halten mag, er ist auf jeden Fall ein großer und starker Mann, der sicher mit einem zitternden, nervösen Alkoholiker zurechtkommen würde. Allerdings – Viktor ist es schließlich auch nicht gelungen. Und was, wenn Hannah Gísli unterschätzt hat? Was, wenn er ein kaltblütiger Mörder ist, der nicht davor zurückschreckt, mehreren Menschen das Leben zu nehmen? Wenn sie so darüber nachdenkt, ist er vielleicht sogar besonders gefährlich, weil er nichts zu verlieren hat. Keinen Job, keine Familie, nichts als seine Freiheit, zu trinken und aufs Meer hinauszuschauen. Und die ist es vielleicht wert, sie bis zum Letzten zu verteidigen. Hannah schaudert erneut, spürt etwas auf der Stirn. Eine leichte, kühle Berührung. Sie blickt nach oben und sieht, dass es zu schneien begonnen hat. Große Schneeflocken fallen vom Himmel, sie setzen sich auf ihr Haar und färben ihren Mantel weiß. Nein, natürlich wird sie Jørn völlig aus dieser Sache heraushalten, natürlich wird sie nach Hause gehen und abwarten, keine weiteren Verbrechen provozieren, nicht die Heldin spielen. Sie wird nach Hause zu Ella gehen, Kaffee trinken und mit ihr über die morgige Beerdigung sprechen, ihr ihre Hilfe anbieten. In einem warmen Wohnzimmer sitzen und die Polizei ihre Arbeit machen lassen. Viktor wird sie sicher so auf dem Laufenden halten, dass sie die Ereignisse der kommenden Tage für ihr Buch verwerten kann. Gerade hat sie all diese vernünftigen Gedanken zu Ende gedacht, als sie plötzlich stehen bleibt. Vor ihr ist ein Mensch aus dem dichten Schneetreiben aufgetaucht wie ein Geist aus dem Nebel. Hannah schluckt und versucht, ihre wachsende Panik zu unterdrücken. Es ist Gísli.