Sie stehen sich gegenüber, Hannah und Gísli, abwartend, wie zwei Cowboys bei einem Revolverduell. Hannah versucht, das Messer zu entdecken, doch ohne Erfolg. Er schaut sie mit einem verletzten Blick an, oder ist es vielleicht nur der Schleier des Alkohols? Hannah atmet tief ein, um Ruhe zu bewahren. Ruft sich in Erinnerung, dass Gísli nicht unbedingt weiß, dass sie von seiner Tat erfahren hat. Vielleicht kann sie ganz normal mit ihm reden, ihn in dem Glauben lassen, dass er von ihrer Seite nichts zu befürchten hat. Dann könnte sie eventuell an ihm vorbeikommen und nach Hause gehen, ohne dass sich die Situation in eine gefährliche Richtung entwickelt. Zurückrennen ist keine Option. Das Risiko, dass er sie einholt, ist zu groß. Aber sie kann auch nicht einfach an ihm vorbeistapfen und so tun, als sei nichts. Sie versucht es mit banalem Smalltalk.
»Der Schnee ist ziemlich aus dem Nichts gekommen, oder?«
Gísli erwidert nichts. Starrt sie nur an. Bis zu ihm sind es ungefähr zehn Meter. Zu weit, um ihn richtig einschätzen zu können, und zu nah, um seine Anwesenheit zu ignorieren.
»Was machst du eigentlich, wenn es schneit? Ich meine, du kannst ja nicht draußen in deinem Unterschlupf sein, wenn es so kalt ist.«
Nichts als Schweigen zur Antwort. Der Schnee fällt jetzt dichter. Hannah kann Gísli immer schlechter sehen.
»Ich hab ja meine Wohnung.«
Ah, welche Erleichterung … Hannah hatte seine Wohnung nicht vergessen, aber sie hat ihn dazu gebracht, über etwas ganz Alltägliches zu reden. Also wirkt ihre Ihn-in-dem-Glauben-lassen-dass-alles-normal-ist-Strategie. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht, und sie spielen sich beide etwas vor. Ein Stück, in dem sie jetzt die nächste Replik liefert.
»Ich hatte deine Wohnung ganz vergessen. Ist sie weit weg?«
»Ich kann jetzt nicht dorthin.«
Gísli klingt aufrichtig frustriert. Hannah bleibt in ihrer Rolle.
»Warum nicht?«
»Ich kann es einfach nicht.«
In seiner Stimme liegt ein gewisser Trotz. Hannah weiß genau, warum er das Thema nicht vertiefen will, und hat nicht vor, diesen Punkt weiter zu strapazieren. Gerade will sie einfach an ihm vorbeigehen, als er etwas sagt, was sie überrascht und in helle Panik versetzt.
»Vielleicht kann ich mit dir nach Hause kommen?«
Hannah blickt ihn an. Hat sie richtig gehört? Ist das ein Test? Die Schneeflocken sind wie Wattebäusche, die einen Dämpfer auf die Welt legen und die Situation noch unwirklicher machen. Hannah wird klar, dass es schwierig werden könnte, überhaupt nach Hause zu kommen, wenn der Schnee weiterhin so dicht fällt. Ihre Gedanken machen sich selbstständig und sie stellt sich vor, wie Gísli ein Messer in ihren Körper rammt und die frisch gebackene Schneelandschaft von ihrem Blut verfärbt wird. Durch das Schneetreiben ist seine Miene nicht zu deuten. Sie braucht die Gewissheit, dass er nicht vorhat, Ella und sie abzuschlachten. Aber sie weiß auch, dass sie ihr Misstrauen nicht loswerden wird, ganz gleich, welchen Grund er dafür angibt, mitkommen zu wollen. Sie beschließt daher, das einzige völlig Unvernünftige zu tun. Sie lädt ihn zu sich ein.
»Na dann los, lass uns aus diesem scheußlichen Wetter rauskommen.«
Sie gehen schweigend, während Hannahs Gedanken darum kreisen, ob sie gerade auf dem Weg in den Tod ist, mit ihrem Henker zwei Schritte hinter sich, und wie sie Hilfe bekommen kann, sobald sie zu Hause ist. Sie traut sich nicht, ihr Handy herauszuholen und jetzt jemanden anzurufen, das wäre viel zu unsicher, mit Gísli, der seinen Blick auf ihren Rücken geheftet hält. Ein eher alltäglicher Gedanke mitten in der Todesangst: Was Ella wohl sagen wird? Und was soll sie zu Ella sagen? Es gelingt ihr nicht mehr, sich etwas auszudenken, bevor sie das Haus erreichen. Hannah sieht zu ihrer Erleichterung, dass Ellas Auto draußen geparkt ist und dass drinnen Licht brennt. Schließlich muss es schwieriger sein, zwei umzubringen als eine.
»Da sind wir schon.«
Hannah versucht sich an einem verkrampften Lächeln, während sie Gísli bittet, die Stiefel draußen unter dem kleinen Vordach stehen zu lassen. In ihrem Kopf blitzt plötzlich ein neuer Titel für ihr Buch auf: Der barfüßige Mörder . Ganz barfüßig ist er jedoch nicht, es fällt ihr schwer, den Blick von seinen dreckigen und löchrigen Wollsocken abzuwenden, als sie über die Schwelle treten und von einer duftenden Kaminwärme und Ella empfangen werden, die mit einem besorgten Mutterblick im Eingang steht.
»Ich hab einen Gast mitgebracht, ich hoffe, das ist okay? Ich weiß nicht, ob du Gísli kennst?«
Hannah versucht, ruhig und gefasst zu wirken. Ob die anderen wohl bemerken, dass ihre Stimme ein bisschen zittert? Ella nickt, als hätte sie schon erwartet, dass Hannah einen obdachlosen lochstrumpfigen Mann mitbringt, und sagt etwas auf Isländisch, vielleicht etwas über den plötzlichen Wintereinbruch und Kaffee. Gísli folgt ihr jedenfalls in die Küche, wo Ella an der Kaffeemaschine herumzuhantieren beginnt. Hannah bleibt etwas zurück. Tastet nach dem Telefon in der Tasche, sucht nach einer Gelegenheit, rauszugehen und Viktor anzurufen. Aber soll sie Gísli wirklich mit Ella allein lassen? Was, wenn er sie überfällt und als Geisel nimmt? Aber andererseits – wenn sie nichts tut, reißt er vielleicht plötzlich das Küchenmesser heraus und sticht sie beide ab. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er ahnen wird, dass Hannah mehr weiß, als sie sich anmerken lässt. Hannah muss um Hilfe telefonieren. Sie entschuldigt sich auf Englisch, aus Rücksicht auf Gísli.
»Ich geh kurz auf die Toilette.«
Gísli blickt sie an – auf eine seltsame Weise? Hannah ringt um ihr Urteilsvermögen, während sie spürt, wie ihr Puls sich beschleunigt und ihre Füße sich mit schnellen Schritten auf das Badezimmer zubewegen. Scheiße, fuck! Panik breitet sich in ihr aus, als sie die Tür hinter sich schließt und ihr einfällt, dass es kein Schloss gibt. Instinktiv dreht sie den Wasserhahn auf, als könnte das irgendetwas übertönen. Drei Klicks auf dem Telefon und ein langsames Tuten in der Leitung. Komm schon! Hannah blickt nervös zur Tür. Die Sekunden verstreichen. Und endlich!
»Polizei Húsafjörður, Viktor am Apparat.«
»Ich bin’s, Hannah! Er ist hier. Bei Ella.«
»Wer ist dort?«
Am anderen Ende der Leitung klingt Viktor wie der Prototyp des begriffsstutzigen Polizisten. Hannah ist verzweifelt, er sollte jetzt schon im Auto sitzen und auf dem Weg hierher sein! Sie schreit beinahe:
»Gísli ist hier!«
Im selben Moment sieht Hannah ihr eigenes Spiegelbild in der Scheibe des dunklen Fensters, doch sie sieht auch noch etwas anderes. Gísli, der in der offenen Tür steht und sie anstarrt.
Hannah setzt sich mit weichen Knien aufs Sofa, das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Sie wagt nicht aufzusehen. Spürt Gíslis Blick auf sich, kann ihr Telefon in seiner Hosentasche erahnen. Sie hatte ihre Aussage Viktor gegenüber zurückgenommen, gesagt, es wäre nur ein Scherz gewesen. Eine ausgestreckte Hand hatte genügt und Hannah hatte Gísli ihr Telefon gereicht, ein Nicken mit dem Kopf hatte genügt und sie war ins Wohnzimmer gegangen, ruhig und normal. Kaffee und Kuchen werden auf den Tisch gestellt. Ella setzt sich Hannah gegenüber, plumpst in den gemütlichen Sessel, in seliger Unwissenheit, dass es vielleicht die letzte Tasse Kaffee sein wird, die sie jemals trinken, das letzte Stück Sandkuchen, das sie jemals essen wird. Das Sofa senkt sich tiefer, als Gísli sich neben Hannah niederlässt, sie kann ihn riechen, den scharfen Gestank des wilden Mannes, kann seine Anwesenheit spüren und fast seinen Puls hören, als wäre er ein Teil von ihr. Oder sie ein Teil von ihm. So muss sich wirkliche Angst vor einem anderen Menschen anfühlen. Hannah schluckt, starrt das viel zu große Messer an, das Ella zum Teilen des trockenen Fertigkuchens mitgenommen hat. Sie hält den Atem an, als Gísli das Messer nimmt, er zögert einen Augenblick, beginnt dann den Kuchen aufzuschneiden. Blickt er Hannah dabei in die Augen? Er klingt freundlich in seinem Stanford-Englisch.
»Möchtest du?«
Hannah wagt nichts anderes, als zu nicken. Ella plappert etwas auf Isländisch, Gísli antwortet, sie scheinen einander zu kennen und die Gesellschaft des anderen zu genießen. Vielleicht ist es nur das, denkt Hannah. Vielleicht braucht er nur ein freundliches Gesicht, ein Gespräch, Wärme in einem Schneesturm. Vielleicht ist es ihm egal, dass sie Viktor angerufen hat, er isst seinen Kuchen, trinkt seinen Kaffee und geht wieder. Vielleicht ist er gar nicht gefährlich …
»Wenn du Ella etwas sagst, schlitze ich dich mit diesem Kuchenmesser auf.«
Gísli lächelt sie an, und Hannah wird klar, dass er weiß, dass Ella kein Englisch spricht. Er kann alles zu Hannah sagen, ohne sie zu beunruhigen. Blitzschnell kommt Hannah zu dem Schluss, dass das vielleicht ihre Chance ist, ihn zur Vernunft zu bringen, ohne dass Ella wegen der gefährlichen Situation in Panik gerät. Hannah bemüht sich zu klingen, als spräche sie über etwas völlig Alltägliches.
»Du solltest dich bei der Polizei melden. Ich weiß, was du mit Viktor gemacht hast, und sie werden dich früher oder später finden.«
»Sie?«
»Es ist Verstärkung aus Reykjavík unterwegs. Ich weiß, dass du es nicht böse gemeint hast, dass du verzweifelt warst …«
»Du weißt gar nichts.«
Gísli unterbricht sie. Hannah schielt verstohlen zu Ella hinüber, doch sie scheint nicht zu verstehen, worüber sie reden. Sie ist mit einem Kreuzworträtsel beschäftigt.
»Ich hab die Flasche mit deinem Blut darauf gefunden. Aber ich glaube nicht, dass du Thor umgebracht hast.«
Ella blickt zu ihnen auf. Sicher, weil sie gehört hat, dass Thors Name gefallen ist. Hannah geht erklärend ins Dänische über.
»Gísli tut das mit Thor alles sehr leid. Ich versuche ihm nur zu erklären, dass die Polizei tut, was sie kann, um herauszufinden, was an dem Abend passiert ist.«
Ella nickt, nimmt einen Schluck Kaffee. Starrt einen Moment ins Feuer, kehrt dann zu ihrem Kreuzworträtsel zurück. Als wären sie nur drei ein wenig einsame Menschen, die gemütlich zusammensitzen. Hannah versucht es noch einmal, wendet sich an Gísli.
»Um deiner selbst willen, du solltest dich stellen. Sagen, dass du Viktor niedergestochen hast, weil du unter Druck standest. Das werden alle verstehen, du bekommst eine milde Strafe. Aber je mehr Zeit vergeht, je mehr Dummheiten du machst … Ja, dann kommt natürlich immer mehr zusammen. Du machst es nur schlimmer für dich.«
Gísli sieht sie forschend an.
»Was weißt du eigentlich über Verbrechen und Strafe?«
Hannah unterdrückt den spontanen Drang, etwas über Dostojewski zu sagen, und hebt resigniert die Arme. Schwenkt um.
»Du hast recht. Nichts. Aber dann lass mich wenigstens bitten, dass du uns nichts tust. Mir nicht, Ella nicht. Es ist nicht unsere Schuld, dass du in dieser unglücklichen Situation gelandet bist. Aber ich will dir gern helfen. Ich kann dich zur Wache fahren, wir können auch bei dir zu Hause vorbeifahren, falls du etwas holen willst?«
Gísli starrt sie weiter stumm an. Er hat noch immer seine Jacke an. Zieht er ihren Vorschlag in Betracht? Hannah bezweifelt es, es wirkt, als sei er ganz woanders. Dann sieht er sie mit einem eher bittenden als befehlenden Blick an.
»Sprit. Wo habt ihr was?«
Shit! Hannah weiß, dass sie keinen einzigen Tropfen Alkohol im Haus haben, aber sie will alles tun, um ihn zufriedenzustellen, oder vielleicht eher: um zu verhindern, dass er sich aufregt und gewalttätig wird. Ihr fallen die leeren Weinflaschen ein, die sie in ihrem Koffer versteckt hat, sie beschließt zu lügen, um ein wenig Zeit zu schinden.
»Ich hab Wein oben in meinem Zimmer. Soll ich ihn holen?«
Gísli nickt.
»Ich komme mit.«
Der Gang die Treppe hinauf dauert nur ein paar Sekunden, die ihr jedoch vorkommen wie Jahre. Hannah bereut ihr Vorhaben. Das hier ist das lahmste Ablenkungsmanöver seit Menschengedenken. In zwei Minuten findet Gísli heraus, dass sie ihn hinters Licht geführt hat und dass es nichts gibt, womit er seine gewaltbereit angespannten Alkoholikernerven beruhigen kann. Ihre Gedanken wirbeln im Kreis, auf der Suche nach einem neuen Plan – warum kommt Viktor nicht? Er muss ihre Verzweiflung am Telefon doch bemerkt haben, sollte alles darangesetzt haben herzukommen, bevor in seinem kleinen Dienstgebiet noch einmal Blut vergossen wird. Als sie ihr Zimmer betreten, wirft Hannah einen Blick aus dem Fenster, das sie offenbar nicht richtig geschlossen hat. Es ist nur angelehnt und Schnee liegt auf dem Fensterbrett. Doch zu ihrer großen Enttäuschung entdeckt sie keine Anzeichen von Autoscheinwerfern, die sich dem Haus nähern, nur schneeweiße Nacht, so weit das Auge reicht. Gísli bleibt in der Tür stehen, Hannah geht zu ihrem Koffer und kniet sich davor. Sie wühlt etwas darin herum. Wenn sie ihn nur dazu bringen könnte hereinzukommen, dann könnte sie ihn vielleicht im Zimmer einsperren, die schwere Kommode vor die Tür schieben, mit dem Jeep fliehen und Ella und sich in Sicherheit bringen.
»Weiß oder rot?«
Hannah hält zwei Weinflaschen in die Höhe und hofft, dass er nicht bemerkt, dass beide längst von Korken und Inhalt befreit sind. Die Lampe hat sie bewusst nicht eingeschaltet, damit die leeren Flaschen schlechter zu erkennen sind, nur das Licht aus dem kleinen Flur fließt weich zur Tür herein.
»Nimm beide mit.«
Hannah nickt, schluckt, richtet sich auf, bereit für die große Enthüllung ihres Schwindels. Gísli hat seinen Platz nicht verlassen, aber wenn ihr Plan gelingen soll, muss er ein paar Schritte ins Zimmer hereinkommen.
»Ist es okay, wenn ich kurz das Fenster zumache? Nur damit ich heute Nacht nicht vor Kälte sterbe.«
Hannah könnte sich selbst mit den beiden leeren Weinflaschen auf den Kopf schlagen, weil sie einem mutmaßlichen Mörder gegenüber den Tod und die nahe Zukunft erwähnt. Anfängerfehler. Gísli nickt, und sie klettert auf den Tisch, um das Fenster zu schließen. Sie tut so, als würde es klemmen, rüttelt daran. Sie wendet sich mit bittendem Blick zu ihm um.
»Könntest du vielleicht …?«
Gísli zögert einen Moment, macht dann ein paar Schritte auf sie zu. Sie lässt ihn ganz nah zu sich herankommen, er fasst mit der linken Hand an den Fenstergriff, zieht ein bisschen, leicht wie nichts. Im selben Moment knallt Hannah ihm die eine Flasche so fest gegen den Hinterkopf, dass sie das Gleichgewicht verliert. Sie muss sich an der Tischkante festhalten, verschwendet dabei wichtige Sekunden, in denen Gísli zu begreifen scheint, was geschehen ist. Gerade noch sieht sie seine gebleckten Zähne und hört seinen Schrei, da stemmt er seine Hände in ihren Rücken und stößt sie mit aller Kraft aus dem Fenster. Hannah greift nach dem Fensterbrett, doch sie rutscht ab. Ihr schießt durch den Kopf, dass dies der schlimmstmögliche Ausgang ihres schwachsinnigen Plans ist und dass sie eine Sache nicht bedacht hat: wie gefährlich ein Kampf gegen einen doppelt so starken Mann vor einem offenen Fenster ist. In den Millisekunden, die der Sturz dauert, merkt Hannah, wie sie rückwärts in den herabfallenden Schnee kippt, dann spürt sie den schmerzhaften Aufprall, landet mit dem Rücken zuerst auf dem gefrorenen Boden. Und sie nimmt noch Gíslis mörderischen Blick wahr, seine Gestalt im Fenster, bevor der Schnee ihr Gesicht bedeckt und ihr schwarz vor Augen wird. Vollkommen schwarz.