41

Hannah ist tot. Sie ist in eine Wolke eingehüllt, in Watte, sie ist ein großes Büschel Baumwolle, das daliegt und darauf wartet, dass jemand Wasser darauf gießt, damit seine Fasern sich in eine andere Struktur verwandeln können und es wieder lebendig wird. Ihre Augen sind wie Watte. Alles ist neblig und wollig weiß, Schatten bewegen sich wie Wirbel in einem Traum, so sieht also der Himmel aus. Ihr Mund ist auch wie Watte, sie versucht, ihn zu öffnen, etwas zu sagen, aber die Toten haben keine Stimme. Sie will sich rühren, eine Hand heben, doch ihr Arm wiegt tausend Kilo, und sie spürt ihre Finger nicht. Hat sie Füße? In Gedanken bewegt sie ihre Beine, aber sie kommt nirgendwo hin.

»Ist sie wach?«

Hannahs Ohren sind nicht mit Watte gefüllt, eine Frauenstimme dringt direkt in ihr zentrales Nervensystem. Ist das Gott, der da spricht? Sie schärft ihren Sehsinn, zwingt die Augen dazu scharfzustellen, durch den milchigen Nebel. Licht, grelles Licht in ihren Augen, Dunkelheit, als sie sie schließt. Das Licht ist fort, als sie sie wieder öffnet. Dann die Konturen einer weiß gekleideten Frau, die forschend direkt in ihre Seele blickt. Gott?

»Sie ist kurz davor.«

Hannah ist verwirrt, kurz vor was? Wieder blinzelt sie lange, und es ist, als würde jemand eine kleine Schicht Watte aus ihren Augen entfernen. Sie sieht, dass die Frau mittleren Alters ist, grauhaarig, und dass es sich bei ihrer weißen Kleidung um eine Uniform handelt. An der Uniform ist ein Namensschild befestigt. Gott braucht doch wohl kein Namensschild? Hannah versucht zu entziffern, was dort steht. Ewas mit Dr. med. Und ein Name, ein isländischer. Zwei Gedanken: Sie ist nicht tot, und sie ist im Krankenhaus. Langsam erinnert sie sich an den Sturz aus dem Fenster, Gíslis Gesicht im Fenster, die Schneeflocken, die auf ihr Gesicht fielen, als sie dalag und in den Himmel sah. Wie sie ins Krankenhaus gekommen ist und wie lange sie sich schon dort befindet, ist dagegen völlig unklar.

»Meinen Sie, sie ist bald wieder bei Bewusstsein?«

Hannah registriert eine andere Stimme, eine Männerstimme. Sie kennt sie, kann sie aber nicht einordnen. Eine Art Erkenntnis über die wirkliche Welt formt sich in ihr: Sie liegt im Krankenhaus, umgeben von Ärzten und vielleicht von anderen Menschen, die sich um ihr Wohlbefinden sorgen. Sie ist am Leben, erwacht aber erst nach und nach aus ihrer Bewusstlosigkeit. Eine zweite Erkenntnis schlägt in ihr ein: Ella! Ihre Stimme hat sie nicht gehört, sie ist nicht im Raum, und nach Hannahs Sturz war sie allein mit einem Mörder im Haus. Hannah brummt durch ihre wattierte Kehle:

»Ella …«

»Entschuldigung, wir können Sie nicht verstehen …?«

Die Wahrnehmung eines Menschen, der sich dicht zu ihr herunterbeugt.

»Ella?«

»Sie fragt nach Ella.«

Wieder die Männerstimme. Es ist Viktor. Jetzt spürt sie auch seine Hand auf ihrem Arm. Eine beruhigende Geste.

»Ella ist auf der Beerdigung.«

Zuerst missversteht Hannah – soll Ella begraben werden? Aber dann wird ihr klar, dass Viktor Thors Beerdigung meint und dass sie daher nicht mehr als etwa zwölf Stunden weg gewesen sein kann. Sie versucht zu sprechen, doch sie hat Sandpapier im Hals.

»Wasser …«

Jemand versteht ihre rostige Ansage, ein Strohhalm wird zwischen ihre Lippen geschoben, sie saugt gierig. Es ist, als würde durch das Wasser die Watte von ihrem Körper genommen, wie eine dicke Decke, die weggezogen wird. Sie kann jetzt auch eine Ärztin, Viktor, dessen Oberarm dick verbunden ist, und eine Krankenschwester einigermaßen deutlich erkennen. Hannah versucht noch einmal, Kontakt zu ihrem Körper aufzunehmen, ihn zu bewegen. Aber er gehorcht nicht. Panik überkommt sie.

»Bin ich gelähmt?«

Hannah sucht verzweifelt das Gesicht der Ärztin, begegnet einem Lächeln.

»Sie hatten Glück. Sie hätten sich bei diesem Sturz den Rücken brechen können, aber Sie sind mit einer Fraktur des rechten Unterarms davongekommen. Wir mussten allerdings operieren, also ist Ihr Körper von der Narkose wohl noch immer etwas gefühllos.«

Hannah schaut an sich hinunter, erst jetzt bemerkt sie, dass sie ein weißes Patientenhemd trägt und ihr Arm eingegipst ist.

»Im Lauf der nächsten paar Stunden wird die Betäubung ganz verschwinden, und dann werden sie, denke ich, ziemliche Schmerzen haben, nicht nur im Arm, sondern überall am Körper. Den vielen blauen Flecken nach zu urteilen, wird es in den nächsten Tagen nicht gerade lustig sein, sich zu bewegen.«

»Aber ich kann mich bewegen?«

»Wie gesagt, Sie hatten großes Glück. Sobald Sie sich gesund genug fühlen, können Sie nach Hause. Aber Sie sollten es ein paar Tage ruhig angehen lassen. Ich verschreibe Ihnen etwas gegen die Schmerzen, und dann sagen Sie der Krankenschwester einfach, was Sie brauchen.«

Die Ärztin notiert etwas auf einen Zettel, im Hintergrund nickt die Krankenschwester lächelnd.

»Ich besorge etwas zu essen für Sie, und ansonsten ziehen Sie an der Schnur, wenn irgendetwas ist.«

Die Ärztin und die Krankenschwester gehen. Hannah sieht Viktor an, der sie besorgt betrachtet.

»Wie geht es dir?«

»Als wäre ich aus einem Fenster gefallen und mein Körper wäre betäubt.«

Viktor lächelt.

»Der Sturz hat dir nicht den Humor genommen.«

Sie mustert ihn. Den dicken Verband an seinem Arm.

»Und dir …?«

»Verdammt viele Stiche, aber glücklicherweise war die Wunde weniger tief, als sie auf den ersten Blick aussah. Ein guter Verband und ein paar Schmerzmittel, dann sollte der Arm bald wieder hergestellt sein.«

Hannah versucht sich aufzusetzen, spürt jetzt die Schmerzen im Körper.

»Warte!«

Viktor nimmt eine Fernbedienung, die seitlich an Hannahs Bett steckt, er drückt auf einen Knopf, das Bett bewegt sich, automatisch wird sie aufgerichtet. Als sie sich in Sitzhaltung befindet, breitet sich ein Summen in ihrem Körper aus. Es ist unangenehm, aber das Gefühl, einen Körper zu haben, den sie spüren kann, bringt ihr ein wenig Erleichterung.

»Gísli. Gísli hat mich aus dem Fenster gestoßen, und danach … Was ist dann passiert? Hat er noch jemandem etwas getan …? Ella? Sich selbst?«

Hannah kann die Verzweiflung in ihrer eigenen Stimme hören, doch Viktor blickt sie ruhig an.

»Er ist abgehauen und nirgendwo zu finden. Aber er war so freundlich, das hier zurückzulassen.«

Viktor legt Hannahs Handy auf die Bettdecke.

»Sicher, damit wir es nicht orten können.«

Hannah schaut zuerst das Telefon an und dann Viktor.

»Und was ist mit Ella?«

»Ella hat dich gefunden. Hätte sie nicht so schnell reagiert, hätte alles viel schlimmer ausgehen können. Sie hat dich ins Haus geschleppt, dich versorgt, bis der Krankenwagen kam.«

Hannah sieht ihn misstrauisch an.

»Ella hat mich reingeschleppt? Sie wiegt doch nur, was wird es sein … achtundvierzig Kilo?«

»Wenn sie das nicht getan hätte, wärst du erfroren. Der Krankenwagen hat fast eine Stunde gebraucht, wegen des Schnees.« Hannah wird klar, dass Húsafjörður kein eigenes Krankenhaus hat.

»Wo bin ich eigentlich jetzt?«

»Gesundheitszentrum Ostisland.«

»Wie weit von Húsafjörður?«

»Eine Dreiviertelstunde. Je nachdem, wie gut die Straßen geräumt sind.«

Hannah blickt sich im Raum um, leicht verzweifelt.

»Wie viel Uhr ist es?«

Viktor schielt auf seine Armbanduhr.

»Kurz vor zehn.«

»Die Beerdigung ist um halb elf!«

Hannah schwingt bereits die Beine über die Bettkante und würde am liebsten schreien, so verdammt weh tut ihr Körper.

»Was machst du?«

Viktor hält sie mit ruhiger Hand auf.

»Wir müssen zu Thors Beerdigung.«

»Das schaffen wir nie.«

»Hast du nicht gesagt, eine Dreiviertelstunde?«

»Doch, aber mit dem Schnee und in deinem Zustand … Wir können frühestens in eineinhalb Stunden da sein.«

Hannah nimmt all ihre Kraft zusammen, um als Gegengewicht zu den Schmerzen ein Lächeln zu bewerkstelligen.

»Meinst du nicht, du kannst das Blaulicht rausholen und so das Ganze ein bisschen beschleunigen?«

Viktor seufzt, hilft ihr aus dem Bett, in ihre Kleidung, in die Schuhe und den Mantel. Eine verdutzte Krankenschwester blickt fünf Minuten später einer dänischen Autorin mittleren Alters nach, die – gestützt auf einen Polizeibeamten – ihren schmerzenden Körper humpelnd den Gang hinunter und aus dem Krankenhaus bugsiert.

Während der ersten Minuten auf dem Weg zurück nach Húsafjörður schweigt Hannah, sie bringt nur eine vage Geste mit dem linken Arm zustande, als sie Viktor um Wasser für ihre Schmerztabletten bitten will. Der rechte Arm hängt in einer Schlinge vor ihrer Brust, er fühlt sich an wie ein Fremdkörper, der nicht zu ihr gehört. Sie betrachtet den dicken, schweren Gips.

»Wie lange muss ich den tragen?«

»Vier Wochen.«

Plötzlich trifft Hannah eine deprimierende Erkenntnis: vier Wochen! Dann wird sie es nicht mehr schaffen, dieses Buch fertig zu schreiben Sie muss ein kleines, resigniertes Grunzen von sich gegeben haben, denn Viktor blickt sie besorgt an.

»Alles okay? Ich versuche, so vorsichtig wie möglich zu fahren, aber mit dem ganzen Schnee … Das ist gar nicht so einfach.«

»Die nächsten vier Wochen kann ich nicht schreiben. Aber das ist jetzt auch schon egal.«

Hannah blickt in den Schnee hinaus, der wie eine Decke über der isländischen Tundra liegt. Es muss ein halber Meter gefallen sein, er hat die Landschaft verändert, als befänden sie sich auf einem anderen Planeten – einem märchenhaften Ort zwischen Traum und Wirklichkeit. Einem Ort, der Hannah erneut das Gefühl gibt, in Watte eingepackt zu sein, und ihren Eindruck, zurückgehalten zu werden, noch verstärkt. Wie wenn man versucht, bei starkem Gegenwind zu laufen oder in einem Traum zu rennen, ohne vorwärtszukommen.

»Kannst du ein bisschen schneller fahren?«

»Tut mir leid, aber bei diesen Verhältnissen … Wir sollten am besten lebend ankommen.«

Dagegen lässt sich schwer argumentieren, und Hannah verzichtet darauf, ihn weiter unter Druck zu setzen. Die Straße ist weiß von einer kompakten Schneedecke, und auch wenn Viktor das Lenkrad sicher im Griff hat, fühlt es sich an, als würden sie auf einer Eisbahn fahren. Ein wenig Zeit vergeht, ein Auto kommt ihnen entgegen. Hannah dreht die Sitzheizung auf, versucht, mit der Situation ins Reine zu kommen.

»Du und Margrét seid Freundinnen geworden?«

Hannah erstarrt bei der Frage. Versucht, entspannt zu klingen, cool.

»Ja … Oder, wie man’s nimmt. Ich weiß nicht, ob ich es so nennen würde.«

»Wie würdest du es denn dann nennen?«

Viktor sieht sie an. Aus mehr als einem Grund verunsichert sie das.

»Schau lieber, wo du hinfährst.«

Viktor richtet den Blick wieder auf die vereiste Straße.

»Es ist gut für sie.«

»Gut?«

»Mit anderen Erwachsenen zu reden. Den ganzen Tag mit kleinen Kindern zusammen zu sein … Dafür ist sie in gewisser Weise viel zu klug. Sie muss andere denkende Menschen um sich haben.«

»Es scheint doch, als hätte sie Spaß mit den Kindern. Und könnte gut mit ihnen umgehen.«

»Ja, aber es sollte ja nur vorübergehend sein. Während unsere eigenen klein sind. Aber jetzt weiß ich nicht … Ich hab Angst, dass sie nie mehr etwas anderes macht.«

»Was sollte sie denn sonst machen?«

»Sie ist ja ausgebildete Bibliothekarin. Darüber müsst ihr doch gesprochen haben, du warst ja ein paarmal zu Besuch?«

Hannah rutscht etwas unsicher auf dem Sitz herum. Es kommt ihr so vor, als würde die Sitzheizung brennen. Sie stellt sie wieder aus. Wie viel weiß Viktor eigentlich?

»Es ist etwas peinlich, das zuzugeben, aber wenn ich ehrlich bin, hab ich wohl vor allem über mich geredet. Nicht so viel nach ihr gefragt …«

Viktor lächelt.

»Das ist typisch Margrét. Sich den Mist von allen anderen anzuhören … Ich nutze das ja selbst viel zu oft aus. Lade einfach alles bei ihr ab und vergesse zu fragen, wie es ihr eigentlich geht. Ich denke immer, sie ist zu gut für mich.«

Hannah blickt hinaus in den Schnee. Alles weiß. Was soll sie sagen?

»Ich finde, sie wirkt sehr glücklich.«

»Meinst du das ernst?«

Hannah denkt an das, was Margrét über das Gefühl der Sicherheit gesagt hat, über die Freude, etwas für jemanden zu bedeuten. Sie kann überzeugend nicken.

»Das hat sie mir zumindest gesagt. Dass sie sich wohlfühlt und sich kein anderes Leben vorstellen kann.«

Viktor nickt, als würde ihn diese Information aufrichtig freuen. Doch dann verändert sich sein Gesichtsausdruck.

»Ich weiß sehr wohl, dass du Sex mit meiner Frau hattest, aber das ist jetzt vorbei.«

Hannah sieht Viktor an, hat er das gerade wirklich gesagt …? Er zeigt auf ihren Arm.

»Vier Wochen mit Gips. Das macht vieles viel schwieriger für dich.«

Hannah schaut aus dem Fenster, es hat wieder zu schneien begonnen. Kräftig.