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Die Flammen hüpfen und tanzen, Hannah starrt wie hypnotisiert ins Feuer. Was kann sie sonst tun? Das Gespräch mit Viktor hat das Gefühl der Ohnmacht in ihr noch verstärkt. Laut Vorhersage wird es ein paar Tage dauern, bis die Straße nach Reykjavík wieder befahrbar sein wird, und offenbar ist im Dorf noch immer ein Mörder auf freiem Fuß. Einer, der kaltblütig genug ist, Gíslis Selbstmord zu inszenieren, um seinen Mord an Thor zu vertuschen. Hannah rutscht unruhig auf dem Sofa hin und her. Der Arm pocht, und es juckt irgendwo unter dem Gips. Glücklicherweise lässt Ella sie mit ihren Gedanken allein, aber es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis Hannah sich an irgendeiner gemeinschaftlichen Aktivität wie Backen oder einem Gespräch beteiligen muss. Ella hat bereits die Zutaten für einen traditionellen isländischen Kuchen herausgestellt. Sie könnte natürlich auch ausprobieren, ob es möglich ist, mit der linken Hand ein paar Zeilen für das Buch in die Tasten zu hämmern, etwas Vernünftiges tun, jetzt, wo sie eingeschneit sind. Funken springen aus dem Kamin, und Hannah gibt den Gedanken an Arbeit auf, am liebsten will sie sich einfach nur aufs Sofa legen und schlafen und davon träumen, zu Hause zu sein. Sie schwingt die Beine hoch, legt den Kopf auf die Armlehne, schließt die Augen und stellt sich auf einen Dämmerzustand ein, als sie plötzlich von neuerlichem Unbehagen erfasst wird: Wenn der Mörder bereit ist, Gísli zu töten, um seine Spuren zu verwischen, und wenn sie das nun durchschaut hat, könnte der Mörder dann auf die Idee kommen, auch sie töten zu wollen? Hannah steht entschlossen wieder auf. Sie kann nicht einfach nur hier sitzen und darauf warten, das nächste Opfer zu werden. Und was für ein leichtes Opfer sie wäre! Verletzt und isoliert in einem abgelegenen Haus zusammen mit einer älteren Dame. Nein, sie muss selbst die Initiative ergreifen, muss sich ein letztes Mal dafür einsetzen, den Fall aufzuklären. Und momentan hat sie einen Vorteil: Der Mörder wird sich sicher fühlen, weil er Gísli alles angehängt hat, und nicht auf der Hut sein. Jetzt ist also der beste Zeitpunkt, erneut ein bisschen herumzuschnüffeln. Und Hannah weiß schon genau, wo sie anfangen wird: Es gibt eine Spur, die sie wieder aufnehmen muss. Jemanden, den sie treffen muss, der bei ihrem letzten Gespräch viel zu einfach davongekommen ist.

Eingepackt wie ein Stück zerbrechliches Porzellan in einer Reisetasche begibt Hannah sich hinaus in den Schneesturm, halb Frau, halb Samurai. Ella hatte natürlich mit Händen, Füßen und Worten protestiert, doch Hannah bestand hartnäckig darauf, dass die Situation eine Packung Zigaretten von der Tankstelle erfordert, zu der sie ohne weiteres selbst laufen kann. Auch wenn das Risiko besteht, in dem peitschenden Schneesturm ihr Leben zu verlieren. Es ist tatsächlich der Weg zur Tankstelle, den Hannah zielstrebig einschlägt, doch die Zigaretten sind ihr egal – sie hofft nur inständig, dass Iðunn gerade arbeitet. Sie stapft durch den Schnee, kann die Leuchtreklame bereits sehen. Zu ihrer großen Erleichterung ist die Straße nicht bis zur Unkenntlichkeit zugeschneit, sie lässt sich als subtiler Leitfaden in Richtung Dorf erahnen. Sie muss ein- oder zweimal geräumt worden sein, bevor der Schneepflug aufgegeben hat, und Hannah schafft es, sich den ganzen Weg durch die dreißig Zentimeter hohe Schneedecke zu kämpfen, bis zu dem grünen Neonschild, das anzeigt, dass die Tankstelle geöffnet ist. Zu ihrer großen Erleichterung entdeckt sie Iðunn hinter dem Tresen. Das junge Mädchen macht vor Schreck einen kleinen Hüpfer, als Hannah wie ein würdiger Konkurrent des sagenumwobenen Yeti den Raum betritt. Sie schüttelt sich den Schnee ab, zieht ihre Mütze herunter und lächelt Iðunn an.

»Bin ich froh, dass du bei der Arbeit bist.«

»Ich hab sogar eine Luftmatratze und einen Schlafsack im Hinterzimmer. Bin schon darauf eingestellt, heute Nacht hier zu schlafen, bis sie die Straße wieder ein bisschen räumen können.«

Hannah nickt, leicht beeindruckt von Iðunns Unerschrockenheit. Sie macht ein paar Schritte auf den Tresen zu.

»Sind heute überhaupt schon Kunden hier gewesen?«

»Am Vormittag ein paar, aber nach dem Frühstück, seitdem sie das Schneeräumen eingestellt haben, nur ein einziger, auf Skiern. Aber mein Chef besteht darauf, dass wir geöffnet haben, falls jemand vorbeikommen sollte.«

»Dann ist es ja gut, dass ich genau das gemacht habe.«

Hannah lächelt und schält sich aus ihrer Schneekleidung, was mit dem Gipsarm nur mühsam und wenig elegant möglich ist. Iðunn betrachtet sie forschend.

»Ich will nicht eingebildet klingen, aber man könnte fast meinen, du bist nur hierhergelaufen, um mit mir zu reden.«

Hannah hat es endlich geschafft, sich aus Ellas unmöglicher Schneehose zu winden. Sie schaut Iðunn an.

»Nicht ganz falsch. Ich brauche deine Hilfe, und es wäre mir ganz recht, wenn in der nächsten Stunde niemand kommen würde.«

Es dauert nur ein paar Minuten, bis Hannah ihr Anliegen erklärt hat, und Iðunn macht sich sofort hilfsbereit daran, ihrem Wunsch nachzukommen. Hannah beobachtet sie mit gespannter Konzentration bei der Arbeit an dem großen Computer im Hinterzimmer. Sie scheint glücklich, aus ihrer Tankstellenlangeweile befreit worden zu sein. Und dann auch noch mit einer so spannenden Aufgabe!

»Wie weit soll ich zurückgehen?«

Iðunn dreht sich um und blickt Hannah an.

»Vielleicht von ein paar Tagen vor bis ein paar Tage nach Thors Tod?«

»Klar …«

Iðunn wendet sich wieder dem Bildschirm zu, tippt auf der Tastatur herum. Hannah würde sich am liebsten gegen die Stirn schlagen – warum ist ihr das nicht schon vor ein paar Tagen eingefallen? Der junge Mann, Stefan Haraldsson, den sie in der Toilettenschlange auf der Party kennengelernt hat, ist natürlich ihr bester Zeuge! Wenn sie ihn irgendwie dazu bringen können, sich daran zu erinnern, in was für ein Auto genau Thor an jenem Abend eingestiegen ist, haben sie den Mörder. Und Benzin braucht jeder. Wenn also der Täter an der Tankstelle war, ist nicht nur sein Wagen, sondern auch er selbst gefilmt worden, und sie müssen nur genügend Bilder von Geländewagen durchgehen und sie Stefan zeigen, dann kann er das Auto identifizieren und somit auch den Mörder. Hannah wartet ungeduldig, während Iðunn die Überwachungsbänder herausholt, die gewünschten Tage durchgeht, anhält und Screenshots von allen Autos macht, die am Zapfhahn stehen.

»Soll ich Fotos von allen ausdrucken oder nur von den Geländewagen?«

»Nimm alle, zur Sicherheit.«

»Okay, aber das wird dann etwas dauern.«

Hannah nickt, versucht, verständnisvoll zu sein, aber sie ist ungeduldig. Bekommt plötzlich Lust auf die Zigaretten, die ihre schlechte Ausrede waren.

»Ich geh kurz raus und rauche. Ruf mich, wenn du über irgendwas stolperst, das ich sehen sollte.«

»Klar.«

Iðunn schaut nicht einmal hoch, so versunken ist sie in ihre Arbeit. Hannah geht in den Laden, greift nach dem Päckchen Zigaretten mit den am wenigsten scheußlichen Schockbildern darauf und nimmt sich fest vor, daran zu denken, noch zu bezahlen und sich bei ihrer Rückkehr nach Dänemark einen gesünderen Lebensstil anzueignen. Draußen unter dem Vordach zündet sie sich eine Zigarette an, kehrt dem Rauchen-verboten-Schild den Rücken zu und denkt, dass der viele Schnee wohl einen Brand verhindern würde, falls sie einen Funken verlieren sollte. Sie genießt die Stille und den Schnee, der unter das Vordach geweht wird und sich zu großen Wehen auftürmt. Doch plötzlich hört sie ein Motorengeräusch näherkommen, es klingt jedoch nicht wie ein Auto, eher wie ein Motorrad. Welcher Idiot kommt auf die Idee, bei diesem Wetter Motorrad zu fahren? Ungefähr im selben Moment, in dem sie das Fahrzeug sieht, wird Hannah klar, dass es natürlich kein Motorrad ist, sondern ein Motorschlitten. Er rast mit voller Fahrt auf sie zu, beschreibt einen Sprung über einen Schneehaufen, landet weich, verlangsamt die Geschwindigkeit ein wenig und kommt ein paar Meter vor Hannah zum Stehen. Erschrocken starrt sie den Fahrer an, dessen Kopf unter einem großen Motorradhelm versteckt ist. Ist das der Mörder, der ihr den Garaus machen will? Doch im selben Augenblick lüftet sich der Helm, und Jørns jungenhaft fröhliches Gesicht taucht darunter auf.

»Hallo. Ist das nicht ein cooles kleines Spielzeug? Ich hatte so gehofft, dass es genug Schnee geben würde, um meinen neuen Freund hier auszuprobieren.«

Jørn tätschelt den Motorschlitten, als wäre er ein Pferd.

»Wie kannst du ständig wissen, wo ich bin? Es ist, als hättest du mir ein GPS untergeschoben.«

Jørn lächelt. Hinterlistig.

»Wer weiß … Vielleicht hab ich das ja. Hey, war natürlich nur ein Witz. Um ehrlich zu sein, hatte ich einfach Lust, aus dem Haus zu kommen und ein bisschen auf dem hier rumzurasen.«

Der Motorschlitten wird erneut getätschelt. Hannah verdreht die Augen, Jørn sieht es nicht.

»Eigentlich hab ich also keinen guten Grund, hier zu sein. Was ist mit dir?«

»Auch keinen guten Grund. Wollte nur mal ein bisschen raus.«

Jørn nickt. Hannah will ihn auf keinen Fall in ihren neuesten Ermittlungsansatz einweihen, und sie hofft, dass er bald wieder fährt.

»Wir können ja eine Tasse Kaffee trinken, wenn wir schon beide hier sind, wie wär’s? Kurz über den Fund von Gíslis Leiche gestern diskutieren.«

Es gibt nichts, wozu Hannah weniger Lust hätte, doch angesichts ihrer neuen Freundschaft – oder jedenfalls gegenseitigen Toleranz – wäre es viel zu verdächtig, Jørn abzuweisen. Sie folgt ihm also in den Laden und übernimmt die Führung beim Brühen der beiden Tassen am Automaten. Iðunn ist offenbar zu versunken in die Wagen-Recherche, jedenfalls kommt sie nicht heraus. Jørn blickt sich um.

»Arbeitet hier etwa gar niemand?«

»Ob du’s glaubst oder nicht, eigentlich passe ich gerade auf den Laden auf, während das junge Mädchen, das sonst hinter dem Tresen wäre, im Hinterzimmer ist, um ihren Freund anzurufen. Irgendwas mit einem Streit, den sie klären will …«

Jørn sieht nicht so aus, als fände er ihre kleine Lüge seltsam, auch wenn es unwahrscheinlich wirken muss, dass Hannah plötzlich Tankstellenwärterin geworden ist. Sie setzen sich auf zwei hohe Stühle am Fenster, und in vielerlei Hinsicht ist es der ungewöhnlichste Cafébesuch, den Hannah je erlebt hat.

»Hast du Viktor geholfen, nachdem du mich abgesetzt hast?«

Hannah trinkt von ihrem Kaffee und versucht, aufrichtig interessiert zu wirken. Jørn nickt heroisch.

»Ich hab ihm beim Absperren geholfen, es war nicht leicht, die Leute fernzuhalten. In gewisser Weise ist es gut, dass es Selbstmord war, denn sonst würde es schwierig werden, Spuren zu sichern, so wie alle da rumgetrampelt sind.«

Hannah nickt, denkt, dass jetzt noch mehr Druck darauf liegt, das Bild des Wagens zu finden – wenn es am Tatort von Gíslis Tod nichts gibt, woran man anknüpfen kann, könnte es die einzige Spur sein.

»Er ist sympathisch, dieser Viktor. Er hat mich hinterher noch auf ein Bier zu sich eingeladen.«

Hannah durchfährt eine stechende Eifersucht. Sind Viktor und Jørn jetzt Freunde geworden? Und was ist mit Margrét, hat Jørn sich auch bei ihr einschmeicheln können? Nur mit Mühe gelingt es ihr, ihrer Stimme keinen bitteren Klang zu geben.

»War es nett?«

»Ich hab tatsächlich abgelehnt. War viel, viel zu müde. Aber ich hab ein Bier bei ihm gut. Vielleicht können wir es zusammen trinken, wenn der Schnee ein bisschen weniger geworden ist? Ihr seid ja sehr gute Freunde geworden, oder?«

Hannah überlegt, wie viel Jørn tatsächlich über ihr Verhältnis zu Viktor und Margrét herausgefunden hat. Ob Viktor vielleicht etwas gesagt hat? Sie hält es für unwahrscheinlich, aber sie hat das Gefühl, dass Jørn mehr weiß, als er sich den Anschein gibt. Über alles.

»Ich fürchte, ihr müsst leider ohne mich auskommen. Sobald die Straße nach Reykjavík wieder frei ist, haue ich ab. Und dann werde ich den erstbesten Flug nach Dänemark nehmen.«

Jørn nickt, es kann ja auch keine große Überraschung sein, dass Hannah nach Hause will.

»Und das Buch? Ich nehme an, du hast es aufgegeben?«

Liegt ein kleiner Funken hoffnungsvoller Schadenfreude in Jørns Augen? Oder ist es vielleicht nur Sympathie? Hannah ist sich nicht sicher.

»Bevor die Deadline nicht überschritten ist, werde ich mich leider auch nicht geschlagen geben.«

Jørn lächelt. Hält ihr seine dünne Latte macchiato zuprostend entgegen.

»Gut. Ich hatte auch nichts anderes von dir erwartet.«

»Prost.«

Hannah klatscht ihren Pappbecher gegen Jørns, etwas schwarzer Kaffee schwappt auf den Tisch.

»Ich setze darauf, dass ich in Kopenhagen irgendeine Hilfe beim Tippen bekomme, damit ich fertig werden kann.«

»Und du weißt, was passieren wird?«

»Ja. Ich hab alles im Kopf. Es muss nur noch aufgeschrieben werden.«

Hannah trinkt einen Schluck, um ihre Lüge zu vertuschen.

»Wenn du willst, kann ich …«

Sie unterbricht ihn.

»Nein, danke.«

Sie will keine Tipphilfe von Jørn. Im selben Augenblick tritt Iðunn triumphierend aus dem Hinterzimmer, hält einen USB -Stick in die Höhe.

»Ich hab alle Bilder hier! Dann müssen wir sie jetzt nur noch ausdrucken und bei Stefan vorbeibringen.«

Jørn macht ein erstauntes Gesicht. Hannah würde sich vor Ärger am liebsten den heißen Kaffee über den Kopf schütten. Jetzt muss sie ihn in den Plan einweihen. Scheiße, Scheiße, Scheiße.