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»Halt dich gut an mir fest!«

Hannah schließt die Augen, unterdrückt jegliche Abneigung und presst ihren Körper so eng wie möglich an Jørns Rücken, der auf dem Motorschlitten Vollgas gibt. Es fühlt sich an wie eine absurde Metapher, dass sie hier sitzen muss, hilflos an ihn geklammert, auf dem Rücksitz, während er wie ein Superheld mit ihr losrast. Und sie kann sich ja nur mit dem einen Arm an ihm festhalten. Hannah fühlt sich in jeder Hinsicht amputiert. Dennoch muss sie einräumen, dass Jørns Angebot, sie zu Stefan zu fahren, damit er sich die Bilder anschauen und hoffentlich den Mörder identifizieren kann, eine willkommene Hilfe war, die schwerer wiegt als ihr Stolz. Sie hätten ihm die Bilder natürlich auch einfach schicken können, aber Hannah will Stefans Reaktion gern miterleben. Die Möglichkeit haben, seinem Gedächtnis ein bisschen auf die Sprünge zu helfen. Hannah hat ihr Gesicht in Jørns teurer Outdoor-Jacke vergraben, die sicher mit echtem Gore-Tex und Hightech-Futter versehen ist. Bei dem eiskalten Schneesturm, der durch ihren eigenen Mantel dringt, wünschte sie, sie wäre in ihrer Kleiderwahl genauso praktisch veranlagt wie Jørn. Er scheint für jede Gelegenheit ein passendes Outfit zu besitzen. Aber er kann sich das natürlich auch leisten. Hannah reißt sich am Riemen: Nein, sie hat es nicht nötig, Jørn sein Vermögen zu missgönnen. Gerade ist sie einfach nur dankbar, dass er ihr dank seiner Mittel wieder einmal aus einer Sackgasse hilft.

»Ich gebe jetzt noch ein bisschen mehr Gas!«

Bevor Hannah erwidern kann, dass die Geschwindigkeit ihrer Ansicht nach schon mehr als ausreichend ist, beschleunigt Jørn, und sie muss sich anstrengen, um sich auf dem Sitz zu halten. Ein kleiner, erschrockener Schrei entgleitet ihrer Selbstkontrolle, und ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich aufs Überleben zu konzentrieren. Nach etwa zehn Minuten Todesfahrt durch den Schnee bremst Jørn endlich vor Stefans Haus. Hannahs Herz pocht wild, das Adrenalin bringt ihren Körper zum Zittern.

»War das nicht lustig?«

Jørn lächelt breit, Hannah blickt ihn gereizt an.

»Ungefähr genauso lustig wie hinten an einem Auto festgebunden zu sein, das mit 200 Stundenkilometern über die Autobahn rast.«

Stefans Mutter öffnet die Tür, und es dauert einige Minuten, bis sie versteht, wer Hannah und Jørn sind und warum sie mit ihrem Sohn sprechen wollen. Doch als sie endlich hereingelassen werden, eilt die Mutter – eine kleine, flinke Frau mit einem Doppelnamen, den Hannah schon wieder vergessen hat – in die Küche, um Kaffee zu kochen, und benimmt sich, als hätte sie königlichen Besuch im Haus. Hannah fühlt sich durch und durch unwohl, als sie im warmen Wohnzimmer der Familie warten. Ein kleines Mädchen sitzt vor einem großen Fernseher und schaut einen Zeichentrickfilm an, der Hannahs Ansicht nach gewalttätig und dumm wirkt. Aber vielleicht ist er für Kinder lustig, das kleine Mädchen lacht jedenfalls und beachtet die Fremden gar nicht. Vielleicht ist sie an erwachsene Ausländer gewöhnt, die mitten in einem Schneesturm hereinplatzen, vielleicht sind sie ihr auch egal. Eine Ewigkeit vergeht, ohne dass Stefan auftaucht, und Hannah beobachtet zunehmend irritiert, wie Jørn völlig in dem Zeichentrickfilm aufgeht und mitgluckst, wenn jemand auf die Nase fällt. Das kleine Mädchen kichert und lächelt ihn strahlend an, es scheint glücklich zu sein, jemanden zu haben, mit dem sie ihr Filmerlebnis teilen kann. Endlich kommt die flinke Mutter mit Kaffee und einem ganzen Eimer Schokokaramellbonbons herein, wie man sie auf Flughäfen kaufen kann. Glücklicherweise ruft sie erneut nach Stefan, und kurz darauf tritt der Fitnessbär ins Wohnzimmer, etwas jugendlich-verwirrt und offensichtlich ohne Hannah wiederzuerkennen. Wie kann ein siebzehnjähriger Junge zehn Minuten brauchen, um aus seinem verdammten Zimmer zu kommen? Hannah verzieht das Gesicht zu einem Lächeln.

»Hallo, Stefan, ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst, aber wir haben uns auf der Party kennengelernt …?«

Stefans Gesicht leuchtet plötzlich auf.

»Klar! Du bist die alte Dame da, die Iðunn mitgebracht hat.«

Hannah bemüht sich weiter um ihr angestrengtes Lächeln, kommt gleich zur Sache.

»Erinnerst du dich noch, wie du mir erzählt hast, dass du gesehen hast, wie Thor in der Nacht seines Todes in ein Auto eingestiegen ist?«

Im Gesicht von Stefans Mutter zeigt sich Besorgnis.

»Worum geht es hier eigentlich?«

Hannah wendet sich mit all ihrer Freundlichkeit an die Mutter, in der plötzlichen Einsicht, dass Stefan ja noch nicht volljährig ist.

»Wir haben ein paar Bilder von Autos mitgebracht, die wir Stefan gern zeigen würden. Wir glauben, eins davon könnte der Wagen sein, in den Thor in der Nacht, in der er starb, eingestiegen ist. Und wenn Stefan ihn identifizieren kann, ja, dann …«

»Dann können wir den Mörder finden.«

Jørn blickt mit väterlich ernstem Blick in die Runde, und Hannah bekommt Lust, ihm für seinen dämlichen Kommentar einen spitzen Ellenbogen in die Nase zu rammen. Stefans Mutter schaut ihn verwirrt an.

»Ich dachte, es wäre dieser Alkoholiker gewesen, der … Also, der Thor das Leben genommen hat … Bedeutet das, dass da draußen noch immer ein Mörder frei herumläuft?«

Jetzt hat auch das kleine Mädchen das Interesse an dem Zeichentrickfilm verloren. Ob sie das Wort Killer verstanden oder nur die ernste Erwachsenenstimmung im Raum wahrgenommen hat, ist schwer zu sagen. Auf alle Fälle ist es bereits unnötig schwierig geworden, Stefan dazu zu bringen, die verschissenen Bilder durchzusehen. Hannah versucht, ruhig und vertrauenswürdig zu wirken.

»Wir wollen nur gern alle Informationen über die Umstände an diesem Abend zusammentragen. Ich wohne, wie gesagt, bei Thors Tante, Ella, und das alles nimmt sie natürlich sehr mit. Und als ich zufällig erwähnt habe, was Stefan mir erzählt hat, ja, ist ihr das nicht mehr aus dem Kopf gegangen … Deshalb habe ich ihr versprochen, der Sache mit dem Auto auf den Grund zu gehen, damit sie wieder ruhig schlafen kann. Da ist sicher gar nichts dran, nur eine Art seelische Beruhigung, wenn Sie verstehen.«

Die Mutter blickt sie skeptisch an, es ist vollkommen still im Raum. Jørn patscht mit seiner großen Hand in den Schokokaramelleimer und holt ein farbenfrohes Bonbon heraus, das er langsam und knisternd öffnet und in den Mund steckt.

»Ihr seid also nicht von der Polizei?«

Hannah lächelt beruhigend und schielt genervt zu Jørn hinüber, der schmatzt und versucht, mit dem kleinen Finger Karamell aus seinen Zähnen herauszupulen.

»Nein. Wir sind nur Freunde der Familie, die einer alten Dame etwas Beruhigung verschaffen wollen.«

Es gelingt ihnen, ohne die Mutter und die kleine Schwester mit Stefan in sein Zimmer zu gehen. Stefan setzt sich auf sein ungemachtes Bett und bietet ihnen an, ebenfalls dort Platz zu nehmen. Jørn lässt sich fröhlich darauf plumpsen, doch Hannah würde lieber bei lebendigem Leib verbrannt werden, als mit Jørn ein Bett zu teilen. Auch wenn sie nur darauf sitzen und Bilder anschauen wollen. Sie reicht Stefan die Sichthülle mit den Ausdrucken der Überwachungskamera.

»Lass dir ruhig Zeit.«

Stefan nickt, nimmt die Anweisung ernst und studiert das erste Bild sehr, sehr lange eingehend. Hannah schaut ungeduldig auf die Uhr. Wenn er jedes Bild so lange anglotzen will, sind sie bis Weihnachten noch nicht fertig. Es ist stickig im Zimmer, als wäre es seit Ewigkeiten nicht mehr geputzt oder gelüftet worden. Hannah sieht Jørn an und plötzlich wird ihr übel. Sie klammert sich mit der Hand an einer Stuhllehne fest, die voller Kleidung hängt.

»Ich muss kurz … Toilette. Bin gleich zurück.«

Hannah stürzt aus dem Raum, entdeckt das Badezimmer, schließt sich darin ein und öffnet das Fenster in den Schneesturm, lässt sich beinahe hinaussaugen. Eine Weile steht sie so da, findet wieder eine Art Gleichgewicht in ihrem Körper. Nimmt einen letzten tiefen Atemzug und schließt das Fenster mühsam mit dem gipsfreien Arm. Sie schaut sich im Spiegel an. Sie sieht grau und verbraucht aus. Ihr Haar ist völlig verfilzt, vermutlich von der Fahrt auf dem Motorschlitten, sie hat dunkle Ringe unter den Augen. Versteht plötzlich nicht recht, warum Stefans Mutter sie hereingelassen hat. Vielleicht haben sie das Jørns Charme zu verdanken.

Klopf!

Hannah zuckt erschrocken zusammen. Wieder hört sie ein festes Klopfen gegen die Tür und öffnet. Draußen steht Jørn, sein Gesicht ist kreideweiß.

»Stefan hat das Auto wiedererkannt. Und du wirst nicht glauben, wem es gehört!«

Hannah starrt ungläubig auf das Bild, das Stefan vor ihr hochhält. Aber das kann nicht sein.

»Bist du ganz sicher? Es gibt viele, die so ein Auto haben.«

Stefan schüttelt den Kopf.

»Nicht so eins wie das da. Es ist alt, deshalb hab ich es wiedererkannt. Ich kann mich gut erinnern, dass ich es schon öfter im Dorf gesehen habe, aber erst als ich das Bild angeschaut hab, ist es mir wieder eingefallen … Das Rücklicht da. Es geht nicht.«

»Aber es ist sicher nicht das einzige Auto mit einem kaputten Rücklicht. Wenn du dich nur darauf stützt, ist das ein bisschen wenig …«

»Nein, es ist nicht nur deswegen! Es war dieses Auto, ich schwöre!«

Stefan stehen jetzt fast Tränen in den Augen, wie Kinder es manchmal aus Frustration und Ohnmacht haben, wenn sie für etwas ausgeschimpft werden, das sie nicht getan haben. Und die Erwachsenen ihnen die Wahrheit nicht glauben.

»Also, er wirkt ja sehr überzeugt. Ich glaube ihm.«

Jørn sieht Hannah ernst an, und allmählich wird ihr klar, dass auch sie sich auf Stefan verlassen muss. Oder zumindest die Konsequenz aus seinen Worten ziehen. Erneut starrt sie das Überwachungsbild des Wagens an, von dem er hartnäckig behauptet, es sei der, in den Thor in jener Nacht eingestiegen ist. Es besteht kein Zweifel daran, dass es sich um Ellas Auto handelt.

»Und was jetzt?«

Hannah und Jørn stehen unter dem kleinen Vordach von Stefans Haus, eine Art Notfallberatung, die sie nicht im Haus von völlig Fremden abhalten wollten, aber auch nicht auf dem Motorschlitten im peitschenden Schneesturm. Hannahs Denkvermögen ist wie festgefroren, sie sieht nur das Bild von Ellas Wagen vor sich, sie kann weder einen Plan fassen noch zu einer Handlung übergehen, nicht einmal zu einer vernünftigen Analyse der Situation. Daher blickt sie Jørn nur ratlos an, der bei seiner Frage offenbar davon ausgegangen ist, dass sie wüsste, was zu tun ist. Hannah versucht, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Ich kann nicht nach Hause zu Ella fahren.«

»Das ist klar. Wir müssen diese Information an Viktor weitergeben, dann kann er sie festnehmen. Aber mit seinem verbundenen Arm … Vielleicht ist es besser, ich führe die Festnahme einfach selbst durch.«

Hannah schaut Jørn stirnrunzelnd an.

»Wie soll das gehen? Ellas Hände fesseln, sie über den Scooter werfen und in die Ausnüchterungszelle bringen?«

Jørn überlegt, reibt sich die Bartstoppeln.

»Es ist vielleicht ein bisschen zu gefährlich, ihr die Hände zu fesseln, aber so was in der Art, ja.«

Hannah schüttelt den Kopf.

»Du hast zu viele deiner eigenen Bücher gelesen. Dass Thor offenbar an dem Abend in Ellas Auto gestiegen ist, bedeutet nicht notwendigerweise, dass sie ihn umgebracht hat. Sie könnte ihn irgendwo hingefahren haben, wo er seinen Mörder getroffen hat.«

»Aber warum hat Ella dann nie etwas davon gesagt? Wenn nicht sie die Mörderin ist, warum hat sie dann nicht erzählt, dass sie an diesem Abend mit Thor zusammen war?«

Das ist eine irritierend gute Frage, und Hannah grübelt, versucht, eine Erklärung zu finden, die die Unschuld ihrer Gastgeberin beweist. Dann fällt ihr ein, dass Ella nicht gelogen hat, sondern nur etwas verschwiegen.

»Sie ist nie gefragt worden!«

»Was?«

»Ella hat nicht gelogen, denn es ist nie jemand auf die Idee gekommen, sie zu fragen, was sie an dem Abend gemacht hat und ob sie Thor gesehen hat. Sie hätte diese Information natürlich selbst weitergeben müssen, und die Frage ist, weshalb sie das nicht getan hat. Aber das werde ich herausfinden. Komm!«

Plötzlich ist Hannah vollkommen klar, was zu tun ist. Sie läuft zum Motorschlitten, der bereits von einer Schneeschicht bedeckt ist, mit dem gipsfreien Arm wischt sie sie weg. Jørn steht noch immer unter dem kleinen Vordach, blinzelt in ihre Richtung.

»Wohin wollen wir?«

»Nach Hause zu Ella! Ich muss sie von Angesicht zu Angesicht fragen, warum sie Thor an dem Abend mitgenommen hat.«