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Eigentlich ist es völlig verrückt, das ist ihr bewusst. Um drei Uhr nachts bei anderen Leuten vor der Tür aufzutauchen und ein vernünftiges Gespräch zu erwarten. Aber Hannah hat keine andere Wahl. Entweder konfrontiert sie Margrét mit ihrem geheimnisvollen nächtlichen Besuch bei Ella, bevor es Tag wird und Viktor aufwacht, oder sie wartet ab und lässt andere den Verlauf der Ereignisse lenken – mit weiß Gott was für einem Ergebnis. Doch Hannah erlebt schon wieder eine Überraschung, als sie nach vorsichtigem Klopfen und Rufen plötzlich in Viktors Gesicht starrt. Er steht in der Tür und schaut sie an, als hätte er auf sie gewartet. Doch in seinem Blick ist auch Enttäuschung zu erkennen.

»Wo ist Margrét?«

Hannah begreift, dass Viktor auf seine Frau gewartet haben muss und dass sie nicht nur ihr eigenes Vorhaben, diskret zu sein, zum Scheitern gebracht hat, sondern auch vergeblich hierhergelaufen ist. Margrét ist gar nicht da.

»Ich dachte, sie wäre zu Hause. Deshalb bin ich gekommen.«

»Mitten in der Nacht?«

Viktor sieht Hannah prüfend an, die sich nicht einmal in der Lage fühlt, eine schlechte Ausrede zu finden.

»Margrét hat vorhin Ella besucht, sie hatten eine Art Streit. Das Ganze hat sehr … rätselhaft gewirkt. Margrét ist rausgestürmt, und Ella wollte nicht sagen, worum es ging, deshalb …«

Hannah zögert. Weiß genau, dass sie von diesem Punkt an nichts Vernünftiges mehr zu sagen hat.

»Deshalb dachtest du, du läufst durch den Schneesturm zu Margrét und fragst sie?«

Hannah nickt schlotternd. Der Schneesturm hat nachgelassen, doch es ist immer noch bitterkalt, vor allem, wenn man auf einer Türschwelle steht und nicht weiß, wie es weitergehen soll.

»Darf ich vielleicht reinkommen?«

Viktor läuft hin und her, verdaut Hannahs Bericht über die Ereignisse der Nacht, er hat sich alles mehrmals berichten lassen, wollte alle Details erfahren, auch wenn es nicht sehr viele gibt. Hat Hannah wirklich gar nichts von dem verstanden, was gesprochen wurde? Wie lange, glaubt sie, ist Margrét bei Ella gewesen? Wirkte sie eher wütend oder besorgt? Welche Richtung hat sie eingeschlagen und wie schnell ist sie gelaufen? Seine vielen Fragen nerven Hannah, doch gleichzeitig bestätigen sie ihr, dass er keine Ahnung hat, was los ist. Viktor schaut auf seine Uhr.

»Du sagst, du bist aufgebrochen, kurz nachdem Margrét Ellas Haus verlassen hat?«

Hannah nickt. Noch einmal.

»Wie gesagt, komme ich gerne mit und helfe dir, sie zu suchen.«

»Die Kinder schlafen, ich kann sie nicht einfach allein lassen.«

Viktor blickt Hannah an, einen Moment lang befürchtet sie voller Schrecken, dass er sie als Babysitterin einsetzen will.

»Es tut mir leid, aber ich kann nicht … Wenn sie aufwachen. Ich weiß gar nicht, was ich dann tun soll.«

»Das Letzte, was ich meinen Kindern zumuten will, ist die traumatische Erfahrung, mitten in der Nacht aufzuwachen und der einzige Mensch, der da ist, bist du.«

Hannah nickt. Erleichtert und beleidigt zugleich.

»Aber es könnte trotzdem so weit kommen. Wir geben ihr noch zehn Minuten. Wenn sie dann nicht zurück ist, geh ich raus und suche sie.«

Hannah würde am liebsten protestieren, aber obwohl sie beide einen verbundenen Arm haben, ist es wohl trotz allem am vernünftigsten, dass Viktor sich in den Schnee hinausbegibt. Es ist seine Frau, die verschwunden ist, und er kennt das Dorf am besten. Aus, Schluss, basta. Zehn Minuten sind eine lange Zeit, wenn man sich Sorgen macht und mit einem Menschen wartet, den man hintergangen hat.

»Das mit mir und Margrét. Das war nur … Also, kurz. Und bedeutungslos. Und vor allem ist es jetzt vorbei.«

Hannah spürt, dass irgendeine Form von Entschuldigung angebracht ist, auch wenn sie es nicht ehrlich meint. Jedenfalls nicht, dass es bedeutungslos war. Sie rutscht auf ihrem Stuhl herum, will sich nicht anmerken lassen, dass sie sich große Sorgen um Margrét macht. Welche Angst sie hat, dass ihr etwas zugestoßen ist und dass sie sie nie wiedersieht. Es ist jedoch nicht Hannahs Rolle, die Besorgte zu sein; schließlich geht es um Viktors Frau, die Mutter seiner Kinder, die verschwunden ist. Viktor sieht sie an, forschend.

»Als wir uns im Bragginn zum ersten Mal begegnet sind … Da war etwas an dir, das ich wirklich mochte. Auch wenn du dich seitdem in vielerlei Hinsicht als extrem lästig erwiesen hast.«

Hannah schaut ihn etwas unsicher an, worauf will er hinaus?

»Aber neben all dem Ärgerlichen bleibt mein erster Eindruck bestehen; du hast etwas an dir, das ich ansprechend finde. In gewisser Weise bin ich froh, dass es dieses Mal mit dir gewesen ist. Und nicht nur, weil du bald wieder nach Hause fährst.«

Touché. Das hat eine gewisse Eleganz. Hannah kommt nicht umhin anzuerkennen, wie freundlich Viktor sie, verpackt in ein Kompliment, zu einer gleichgültigen Episode in Margréts Leben degradiert. »Dieses Mal«. Eine von vielen, ohne Bedeutung. Wahrscheinlich bereits wieder vergessen. Das lässt Hannahs Sorge um Margrét jedoch nicht geringer werden. Sie blickt auf die Uhr. Fünf Minuten.

»Sollen wir los?«

Viktor schüttelt den Kopf.

»Noch fünf Minuten.«

Ein Mann mit Prinzipien. Hannah steht von dem harten Stuhl auf, will sich bewegen. Ziellos schlendert sie zur Wand. Ein Foto von Margrét, Viktor und den Kindern. Sie sehen fröhlich aus. Der Gedanke, dass Margrét etwas zugestoßen sein könnte, scheint ihr plötzlich unerträglich. Unruhig läuft sie weiter durchs Zimmer, versucht ihre Nervosität zu unterdrücken. Es ist seltsam, dass Margrét nicht nach Hause gekommen ist, um diese Zeit kann man hier nirgendwo hingehen. Es sei denn, sie hat irgendwo eine andere Affäre. Nimmt Viktor es etwa deshalb so relativ gelassen? Hannah weiß nicht, welche Vorstellung unerträglicher ist. Ihr Blick bleibt an einem Gegenstand auf einer Kommode hängen. Es ist kein besonderer Gegenstand, aber die Art, wie er daliegt, lässt sie innehalten. In einem Beweisbeutel aus Plastik. Hannah nimmt den Beutel, hält ihn hoch und sieht Viktor an.

»Beweismaterial?«

Viktor springt blitzschnell von seinem Stuhl auf.

»Leg das zurück!«

Hannah ist von seiner Heftigkeit überrascht, beeilt sich, den Beutel wieder hinzulegen … Betrachtet ihn und seinen Inhalt genauer. Begreift dann plötzlich, um was es sich handelt.

»Das ist die Mordwaffe?«

Sie zeigt auf die Tüte, in der sich ein Hammer befindet. Mit einem kleinen Blutfleck an der Spitze. Viktor nickt, leicht entschuldigend.

»Der sollte natürlich nicht hier sein, aber ich warte darauf, dass ich ihn für weitere technische Untersuchungen nach Reykjavík schicken kann. Er wurde gestern gefunden, draußen auf den Wiesen, um die fünfhundert Meter von der Stelle entfernt, wo Thor im Wasser lag. Es wirkte, als hätte jemand versucht, ihn ins Wasser zu werfen, ihn aber nicht weit genug wegschleudern können. Jedenfalls war er im Eis festgefroren, und ja … dann wurde er also entdeckt.«

»Von wem?«

»Einem Mann, der mit seinem Hund unterwegs war. Eigentlich hat ihn wohl eher der Hund gefunden.«

Hannah nickt, doch ihre Gedanken sind woanders. Sie starrt den Hammer an, ein vages Gefühl ist zu einer vollen Überzeugung angewachsen.

»Dieser Hammer … das ist Ellas.«

Hannah erzählt von Ellas etwas merkwürdiger Werkzeugsammlung, die an der Wand im Wohnzimmer hängt, und dass gerade der Hammer die ganze Zeit über gefehlt hat. Viktor wirft ihr einen skeptischen Blick zu.

»Wenn der Hammer schon lange fehlt, woher weißt du dann, wie er aussieht?«

»Er ist antik und genauso gearbeitet wie das restliche Werkzeug.«

Viktor wirkt noch immer nicht überzeugt.

»Du erkennst den Hammer also wieder, weil du dir das andere Werkzeug angeschaut hast?«

Hannah greift nach dem Beutel, dreht ihn um, sucht durch das Plastik nach etwas. Blickt Viktor dann triumphierend an.

»Da! TJ . Das ist auch in alle anderen Werkzeuge eingraviert, die Ella an der Wand hängen hat.«

»TJ sind die Initialen eines Zimmerers, der das halbe Dorf gebaut hat. Er ist längst tot, aber das Geschäft gibt es noch. Und sie gravieren immer noch alles Werkzeug mit seinen Anfangsbuchstaben. Die findest du überall im Dorf.«

»Auch die antiken?«

»Ich denke, fast jeder in der älteren Generation hat etwas von dem alten Werkzeug, ja. Ist doch gewöhnlicher Kram.«

Hannah betrachtet den Hammer enttäuscht. Zögert dann kurz, will nicht diejenige sein, die Ella den Wölfen zum Fraß vorwirft. Aber sie hat das Gefühl, keine andere Wahl mehr zu haben.

»Ich hab mit Stefan gesprochen, der gesehen hat, wie Thor an dem Abend, als er ermordet wurde, in ein Auto einstieg. Und, also … Er hat bestätigt, dass es Ellas Wagen war. Ich hab ihm ein paar Bilder gezeigt …«

Viktor springt auf, als hätte der Stuhl ihm einen elektrischen Schlag verpasst.

»Warum hast du das nicht gleich gesagt? Wann hast du mit ihm geredet?«

»Erst heute. Oder genau genommen war es wohl gestern. Ich hätte es dir erzählt, aber, also … Er könnte sich ja irren. Aber jetzt, nach allem anderen, dem Hammer, Margrét …«

Mehr kann Hannah nicht sagen, Viktor ist schon halb in der Diele. Hannah sieht sich um. Soll sie bei den Kindern bleiben? Dann schüttelt sie den Gedanken ab. Sie haben die ganze Zeit geschlafen, dann wird man sie doch jetzt sicher noch ein bisschen allein lassen können.