Erneut ist Hannah auf dem Anhänger des Motorschlittens zum Passagier dritter Klasse degradiert, doch dieses Mal hat sie nicht genügend überschüssige Energie, um sich über Jørns mörderischen Fahrstil aufzuregen, nur ein Gedanke pulsiert in ihrem Kopf: Was wird sie in Ellas geheimer Hütte erwarten? Es dauert eine Viertelstunde, mit dem Motorschlitten dorthin zu gelangen, der Schein des Mondes folgt ihnen. Hannah ist beeindruckt von Viktors Orientierungssinn, mit dessen Hilfe er sie über die Felder, vorbei an zugefrorenen Seen und fernen Bergen hinaus ins Nichts führt.
Plötzlich taucht die Hütte vor ihnen auf, als ob sie auf sie gewartet hätte. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich jemand dort befindet. Davor steht ein Auto geparkt, und im Inneren brennt ein schwaches Licht.
»Wie gehen wir die Sache an?«
Es ist Jørn, der nach einem Plan fragt, und es klingt nicht, als hätte er selbst irgendwelche Ideen. Vielleicht wird auch ihm endlich der Ernst der Lage bewusst. Hannah und Jørn blicken Viktor erwartungsvoll an, der trotz seiner Erfahrungen als Polizist genauso ungeübt in einer solchen Situation sein muss wie sie. Er nickt ihnen ernst zu, senkt die Stimme.
»Wir müssen vorsichtig vorgehen, wir haben keine Ahnung, was uns dort drinnen erwartet. Und es hat in diesem Fall schon zu viele Tragödien gegeben, wir sollten also keine weitere provozieren. Jørn, du kommst mit mir rein, Hannah, du wartest draußen. Wenn wir in fünf Minuten nicht zurück sind, rufst du diese Nummer an. Das ist der Diensthabende im Nachbarort.«
Viktor reicht Hannah sein Telefon, in dem er bereits die Notfallnummer aufgerufen hat.
»Warum rufen wir nicht sofort an?«
Jørn schaut Viktor fragend an.
»Weil sie in diesem Wetter über eine Stunde brauchen, bis sie hier sind.«
»Dann hilft es ja nichts, wenn Hannah erst in fünf oder zehn Minuten anruft.«
»Doch, es hilft ihr.«
»Inwiefern?«
»Am Leben zu bleiben und sich den Anblick dessen zu ersparen, was mit uns passiert ist, wenn wir nicht in fünf Minuten wieder draußen sind.«
Jørn ist leichenblass geworden.
»Was, glaubst du, kann geschehen?«
Hannah legt ihren gesunden Arm auf Jørns Schulter.
»Bleib du hier, ich gehe mit rein.«
»Nein!«
Viktor schüttelt den Kopf.
»Ich muss jemanden mit zwei gesunden Armen dabeihaben. Du wartest hier.«
Hannah weiß, dass er recht hat; wenn Viktor in eine gefährliche Situation gerät, kann sie nicht viel tun, um ihm zu helfen. Jørn dagegen hat bereits bewiesen, dass er von Nutzen sein kann. Sie nickt. Beobachtet, wie Jørn sich sichtlich zusammenreißt und den Rücken durchdrückt, eine Übung, die seine Angst beinahe unsichtbar werden lässt. Aber nur fast. Hannah spürt Sympathie für ihn und seine mutige Herangehensweise.
»Und denk daran! Wenn wir nicht rauskommen, dann rufst du an und holst Hilfe. Du gehst nicht selbst rein!«
Ihr Herz hämmert in einem ängstlichen Rhythmus, und Hannah könnte nicht angespannter sein, würde sie selbst anstelle von Jørn und Viktor durch die Tür treten. Sie blickt auf die Uhr, die sie so eingestellt hat, dass sie von fünf herunterzählt.
Nach vierzig Sekunden hört sie ein lautes Geräusch, dann Stille. Nach eineinhalb Minuten Stimmen, für etwa dreißig Sekunden. Dann wieder Stille. Nach drei Minuten ist sie kurz davor, mit dem Telefon Hilfe anzufordern, doch sie wartet trotzdem noch eineinhalb Minuten. In Stille. Dann fallen zwei Schüsse, die sie mehrere Sekunden lang wie erstarrt zurücklassen. Als sie endlich wieder ihren eigenen Atem hören kann, ist es das einzige Geräusch, das die Stille durchbricht. Sie wartet einen Moment, ob nicht doch noch jemand aus der Tür kommt, aber vergeblich. Gegen jede Vernunft, nur getrieben von dem Drang zu handeln, drückt Hannah vorsichtig die Klinke der kunstfertig gezimmerten Holztür herunter und geht hinein, das Herz verkrampft vor Angst. Es scheint, als käme sie direkt in eine Küche, doch der Raum ist völlig dunkel, es könnte also auch eine Art Wohnzimmer sein. Von außen wirkte die Hütte relativ groß, jedenfalls vermutet Hannah, dass es weitere Zimmer im Erdgeschoss und einen einzelnen Raum im ersten Stock gibt. Sie kann jedoch keine Treppe erkennen, würde am liebsten das Licht einschalten, kann auf den ersten Blick keine anderen Personen im Raum sehen, hält es jedoch trotzdem für zu riskant: Sie will sich nicht zur Zielscheibe machen. Langsam tastet sie sich mit zitternden Händen an kalten Möbeln entlang, die Gedanken wirbeln in ihrem Kopf: Wer hat den Schuss abgefeuert, wer ist getroffen worden? Wer war hier, als Jørn und Viktor eingetreten sind, wer ist jetzt noch da? Bemerkt jemand, dass sie gekommen ist, und wenn ja, was hat derjenige als Nächstes im Sinn? Hannah weiß genau, dass es sicherlich besser gewesen wäre, sich an den Plan zu halten und telefonisch Hilfe anzufordern, anstatt ins Haus zu gehen. Sie bereut, dass sie nicht wenigstens angerufen hat, bevor sie eingetreten ist. Wie dumm kann man sein! Aber nun ist es zu spät, hier kann sie nicht telefonieren, und sie kann auch nicht wieder rausgehen. Plötzlich entdeckt sie eine Treppe, doch sie führt nach unten anstatt nach oben. Hannah zögert kurz, geht dann darauf zu und atmet tief ein. In einen fucking Keller hinunter, was für ein verdammtes Klischee! Die Treppe ist steil, und Hannah hat Mühe, das Gleichgewicht zu halten, es gibt kein Geländer, und der gebrochene Arm ist nicht gerade eine Hilfe. Auf der letzten Stufe verliert sie den Halt und rutscht ab, sie stößt einen Schrei aus. Hannah tastet auf einem schmutzigen, kalten Steinboden herum, versucht aufzustehen, desorientiert, aber kampfbereit, ignoriert den Schmerz in ihrem Fußgelenk. Klopf, klopf.
»Hilfe!«
Hannah blickt sich nach dem Ursprung der Klopfgeräusche und des Rufs um und entdeckt eine kleine elektrische Lampe, schaltet sie ein, ein gelblicher Schein erleuchtet den Kellerraum. Es ist offenbar eine Art Vorratslager, in dem Gläser mit allen möglichen eingemachten und eingesalzenen Lebensmitteln ordentlich in Regalen stehen. Wieder Klopfen und Rufen. Da erkennt Hannah eine kleine Tür, die aussieht, als wäre sie für Zwerge gemacht. Sie eilt hin, ein Vorhängeschloss hängt daran.
»Jørn?«
»Ja, ich bin’s! Mach schnell auf, ich bin verletzt, und Viktor …«
»Was ist mit Viktor?«
»Mach einfach auf!«
Am ganzen Körper zitternd vor Angst schaut Hannah sich nach etwas um, mit dem sie die Tür öffnen kann, sieht nichts Brauchbares, entdeckt jedoch schließlich einen Schraubenzieher. Sie steckt ihn hinter das Schloss, nimmt all ihre Kräfte zusammen, um den Beschlag abzustemmen.
»Beeil dich!«
Die Verzweiflung in Jørns Stimme zerrt an Hannahs Nerven, sie wischt sich einen Schweißtropfen von der Stirn. Flucht darüber, dass sie nur mit dem linken Arm arbeiten kann und keinen richtigen Halt findet.
»Der Beschlag sitzt zu fest!«
»Mach weiter! Du musst es aufkriegen, bevor sie zurückkommen!«
Hannah will gerade fragen, wer »sie« sind, als ein kleiner Nagel herausfällt und der Beschlag sich weit genug löst, dass sie den Schraubenzieher zwischen Beschlag und Tür stecken und mit einem kräftigen Ruck das Schloss ganz wegreißen kann. Die kleine Tür schwingt krachend auf und trifft sie fast an der Stirn. Jørn stürzt heraus.
»Argh! Ich krieg keine Luft mehr!«
Hannah tritt zurück, starrt Jørn entsetzt an. Er ringt nach Luft, hält seinen Oberschenkel fest, die Hose ist völlig durchweicht. Von Blut.
»Scheiße! Du hast einen Schuss abgekriegt?«
Hannah deutet mit einem Nicken auf die Wunde, um die Jørn ein Stück Stoff gebunden hat. Er klingt außer Atem und erschöpft.
»Ja, aber ich glaube, die Kugel ist durchgegangen … Und ich hab einen Druckverband angelegt, ich denke also, die Blutung ist gestoppt. Bei Viktor ist es schlimmer …«
»Wo ist er?«
Hannah blickt Jørn angstvoll an, er zeigt in das kleine schwarze Loch, aus dem er selbst gekommen ist.
»Da drin.«
Hannah nimmt den tiefsten Atemzug ihres Lebens, dann beugt sie sich hinunter, die eingeschaltete Taschenlampe ihres Handys in der Hand, und kriecht in die Öffnung.