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Eiskalt und leblos. Tränen steigen in Hannah auf, als sie Viktors Arm ergreift, der auf dem kalten Betonboden liegt. Sie lässt das grelle Licht des Handys über seinen blutverschmierten Körper gleiten, den jemand – vermutlich Jørn – nach besten Kräften zu verbinden versucht hat. Das durchtränkte Hemd, das fest um die Schulter mit der Schusswunde gewickelt ist, scheint die Blutung einigermaßen gestoppt zu haben, und Hannah schöpft wieder etwas Hoffnung, dass noch ein klein wenig Leben in Viktors kaltem Körper steckt. Sie schlägt ihm kräftig auf die Wange.

»Viktor! Hallo! Wach auf!«

Hannah legt das Ohr dicht an seinen Mund, hält zwei Finger an seinen Hals, in einem verzweifelten Versuch, einen Puls zu fühlen. Ihr eigener arbeitet auf Hochtouren, genauso wie ihr Gehirn, während sie fieberhaft versucht, sich an brauchbares Wissen über Wiederbelebung zu erinnern.

»Komm schon, komm schon!«

Warum hat sie denn nie auch nur einen einzigen Erste-Hilfe-Kurs gemacht? Warum stammt ihr gesamtes Wissen über Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung aus schlechten amerikanischen Arztserien? Und dann auch noch das ganze Blut! Hannah schließt die Augen. Der Anblick der roten Flüssigkeit treibt ihr den Schweiß auf die Stirn und lässt sie fast ohnmächtig werden. Hannah wäre wohl die Letzte, von der gefunden zu werden sich ein Schwerverletzter wünschen würde. Sie blickt über die Schulter zurück durch den kleinen Eingang. Kann Jørn ihr nicht helfen? Mit seiner Erfahrung als Soldat muss er doch ein Meister in Erster Hilfe sein. Ihre Stimme bricht, als sie verzweifelt durch die Öffnung nach draußen ruft.

»Jørn! Komm, wir müssen Mund-zu-Mund-Beatmung machen! Oder Herzmassage.«

Es kommt keine Antwort. Hannah späht hinaus, kann nichts sehen. Wo ist er? Sie will gerade wieder rufen, als sie plötzlich etwas spürt. Einen schwachen, schwachen Puls. In einem Glücksrausch presst Hannah die Finger um Viktors Arm zusammen, rüttelt an ihm, schlägt ihm auf die Wangen.

»Viktor! Wach auf! Du lebst!«

Im selben Augenblick erscheint eine Hand in der Türöffnung, Jørns Hand, mit einem Glas Wasser.

»Hier. Gib ihm das, er ist völlig dehydriert.«

Hannah schaut das Wasser an. Wie soll das einem Verletzten mit Schusswunde helfen? Trotzdem hebt sie Viktors Kopf vorsichtig etwas an, führt das Glas an seine Lippen.

»Hier, trink ein bisschen.«

Viktors Augen sind noch immer geschlossen, doch sein Mund öffnet sich ein wenig und er nimmt die Tropfen entgegen, die Hannah ihm vorsichtig zwischen die Lippen gießt. In Hannah breitet sich Wärme aus – er ist nicht tot. Mit vereinten Kräften ziehen Hannah und Jørn Viktor aus dem Loch und schleppen ihn die steile Kellertreppe hinauf. Mit Hannahs gebrochenem Arm und Jørns verletztem Bein ist das ein ziemlicher Kraftakt, und Hannah kann sich nicht erinnern, jemals auf diese Art mit einem anderen Menschen zusammengearbeitet zu haben. Gemeinsam hieven sie ihn auf ein Sofa und breiten eine wärmende Decke über ihm aus. Hannah muss all ihren Mut zusammennehmen, um einen Blick auf die Wunde zu werfen, doch sie wirkt tatsächlich weniger schrecklich und lebensbedrohlich als anfangs angenommen. Hannah entdeckt in der Küche etwas Alkohol, reinigt vorsichtig die Wunde, begleitet von Viktors Wimmern. Sie findet etwas, das wie ein sauberes Geschirrtuch aussieht, und beobachtet bewundernd, wie Jørn ihn verbindet. Plötzlich wird sich Hannah ihres eigenen Atems bewusst, es ist, als hätte sie die Luft angehalten, seit sie die Hütte betreten hat. Sie hat sich bisher ausschließlich auf Viktor konzentriert, doch jetzt läuft es ihr kalt den Rücken hinunter. Sie greift nach Jørns Arm.

»Sind wir sicher, dass niemand anderes im Haus ist?«

Jørn schaut sie an, nickt beruhigend.

»Sie sind gegangen, nachdem sie uns eingesperrt haben.«

»Gegangen, wohin? Ich stand die ganze Zeit draußen vor der Tür.«

»Zur Hintertür raus, sie sind auf Skiern verschwunden.«

Hannah wirft ihm einen fragenden Blick zu.

»Woher weißt du das, wenn du eingesperrt warst?«

»Die Skier standen draußen auf der Rückseite, als wir gekommen sind, und jetzt sind sie weg. Und das Haus hat nicht mehr Räume als die, die du siehst, und hier sind sie ja nicht.«

»Was ist mit oben?«

Jørn sieht sie ermutigend an.

»Ich hab’s überprüft, hier ist niemand. Ich habe auch die Polizei angerufen, als ich oben war, um Wasser zu holen. Jetzt müssen wir nur noch auf Hilfe warten.«

Hannah schüttelt den Kopf. Hier sitzen und warten ist das Letzte, was sie jetzt kann.

»Du hast gesagt, ›sie‹ haben auf euch geschossen. Wer sind sie?«

»Ella und eine andere Frau.«

»Margrét?«

Jørn schüttelt den Kopf.

»Eine andere Frau. Ich hab sie noch nie gesehen.«

Hannah wird ein kleines bisschen schwindelig, sie muss sich hinsetzen. Eine andere Frau, die Jørn noch nie gesehen hat? Dann kann es auch nicht Vigdis sein. Sie wendet sich wieder an Jørn.

»Jung? Alt?«

Jørn zuckt mit den Schultern.

»Mittel.«

Hannah steht auf, das bringt sie alles nicht weiter. Viktor, der während ihres Wortwechsels auf Dänisch wie in einem Dämmerzustand gelegen hat, schaltet sich plötzlich ein.

»Ich hab sie erkannt.«

Hannah starrt ihn überrascht an.

»Ich weiß nicht, wie sie heißt, sie ist, glaube ich, vor Kurzem ins Dorf gezogen. Aber es ist diese Frau, die immer im Bragginn sitzt und komisch guckt. Die Frau mit dem Hund.«

Verdammt! Es hat sie kostbare Minuten gekostet, Jørn dazu zu überreden, den beiden flüchtenden Frauen auf dem Motorschlitten nachzusetzen. Und leider kann Hannah ihn mit ihrem einen Arm nicht selbst steuern, deshalb muss sie wieder hinten sitzen und sich an Jørns Gore-Tex-Rücken festklammern. Jørn war nicht gegen die Verfolgung an sich gewesen, es ging ihm eher darum, dass sie einen schwerverletzten Mann in einer abgelegenen Hütte zurücklassen mussten. Glücklicherweise hatte Viktor selbst dafür gestimmt, die Verfolgung aufzunehmen; vermutlich stark motiviert durch den Gedanken, dass Margréts Leben noch immer in Gefahr sein könnte. Hannah hätte wohl eigentlich anbieten sollen, als Sanitäterin zu bleiben, aber es schien ihr sinnlos, Jørn allein hinauszuschicken, mit seinem Hinkebein und seinem geringen Wissen über Ella und die Frau mit dem Hund. Die Frau mit dem Hund – wer ist sie? Und in welcher Verbindung steht sie zu Ella? Hat sie etwas mit den Morden an Thor und Gísli zu tun? Hannah bemerkt Blutspuren an Jørns Bein, Tropfen fliegen in die – wie es scheint – ewige Nacht hinaus und sprenkeln den Schnee mit roten Tupfen wie bei einer morbiden Version von Hänsel und Gretel. Sie schaudert. Die Kälte schneidet in ihren Körper, und irgendwo hinter ihrem nervös pochenden Herzen lauert die Müdigkeit. Glücklicherweise ist es einfach, den beiden Langlaufspuren zu folgen, die in den Ort zurückführen. Eine Viertelstunde später erreichen sie den Rand des Dorfs, dort endet die Spur. Vor ihnen liegt der Hafen, kalt und erleuchtet, mit seinen Fischerbooten und den kleinen geschlossenen Restaurants. Jørn hält den Motorschlitten an. Der Hafenplatz selbst ist von Schnee freigeräumt, und es sind keine Langlaufspuren mehr zu sehen. Hannah blickt sich um. Wo können die beiden Frauen sein? Sie wendet sich zu Jørn.

»Was in aller Welt wollen sie mitten in der Nacht am Hafen?«

»Vielleicht wollen sie uns nur auf eine falsche Fährte locken. Sie könnten von hier aus in jede Richtung weitergefahren sein.«

Jørn hebt die Arme, um die endlosen, spurlosen Fluchtmöglichkeiten zu unterstreichen, als könnten sich die beiden zu Lande, zu Wasser oder in der Luft aus dem Staub gemacht haben. Trotz des kleinen Flugplatzes, der nicht weit entfernt liegt, ist Letzteres wohl ziemlich unwahrscheinlich, und dass sie bei diesem Wetter auf dem Landweg weitergegangen sein sollten, scheint unnötig leichtsinnig. Andererseits jagen sie zwei Frauen, die sowohl auf Jørn als auch auf Viktor geschossen und vermutlich zwei Morde auf dem Gewissen haben. Trotzdem wirken für Hannah nur zwei Möglichkeiten realistisch: Entweder verstecken sich die beiden irgendwo im Ort oder sie sind auf dem Weg aufs Wasser hinaus. Sie springt vom Motorschlitten.

»Scheiße noch mal, wenn wir wenigstens wüssten, wo die Frau mit dem Hund wohnt!«

»Ich glaube nicht, dass uns das sonderlich viel helfen würde. Ich meine, wenn du zwei Leute angeschossen hättest, einer davon der örtliche Polizist, würdest du dann einfach heimfahren, die Beine hochlegen und auf die Polizei warten? Nein, zu Hause ist wohl der letzte Ort, wo wir die zwei finden werden. Das haben mich all die Jahre an Recherche gelehrt.«

Hannah muss sich selbst daran erinnern, dass sie jetzt Verbündete sind, und unterdrückt ihre Lust, einen Finger in die große Wunde an Jørns Bein zu pressen, die ihm, wie sie sehen kann, sehr wehtut. Sie zieht den Hut vor seinem gleichbleibenden Wesen, selbst in Krisensituationen schafft er es, nervig zu sein. Aber leider hat er wohl recht. Hannah verspürt den Drang, angesichts der Hoffnungslosigkeit dieser ausweglosen Situation einfach aufzugeben.

»Also, was hast du für geniale Ideen, was wir jetzt machen sollen?«

»Wir könnten uns ja ein bisschen hier am Hafen umschauen. Ich meine, es gibt sicher einen Grund dafür, dass sie hierher gefahren sind. Hier sind viele Schuppen, in denen man sich verstecken kann.«

»Ja, und Boote.«

Hannah blickt sich resigniert um. Der Hafen liegt voll mit größeren und kleineren Fischerbooten, die vermutlich aufgrund des schlechten Wetters alle hier festgemacht haben. Es würde Stunden dauern, das alles zu durchforsten. Sie sieht Jørn an, der mühevoll sein verletztes Bein über den Motorschlitten schwingt, und korrigiert ihren eigenen Gedanken: In ihrem jämmerlichen Zustand würde es Tage dauern, die schneeglatten Boote zu durchsuchen, von der Unmöglichkeit, in Laderäume hinunter- und in Steuerkajüten hinaufzuklettern, ganz zu schweigen. Es geht nicht.

»Wenn wir nur ein paar mehr wären.«

Jørn sagt es eher zu sich selbst, doch Hannah greift seinen Wunsch sofort auf. Das ist es doch! Wenn sie genügend Leute aus dem Dorf zusammenbekämen, könnten sie das ganze Gebiet innerhalb kürzester Zeit durchkämmen. Und ein Alarmsystem einrichten, für den Fall, dass jemand die beiden Frauen aus dem Ort fahren sehen sollte.

»Geniale Idee!«

Hannah schlägt Jørn auf die Schulter.

»Du gehst rauf und holst Lederweste. Er kann eine Truppe zusammenstellen, und dann müssen wir nur an einem Ende anfangen. Es kann nicht lange dauern, wenn wir fünfzehn, zwanzig Leute sind.«

Jørn wirft ihr einen skeptischen Blick zu.

»Erstens, wer ist Lederweste? Und zweitens, bist du vollkommen verrückt geworden? Wir können doch nicht die Dorfbewohner zu einem Versteckspiel mit zwei bewaffneten Mördern schicken.«

»Sag den Leuten, sie sollen Gewehre und Fleischmesser mitnehmen. Und Lederweste ist der Inhaber des Bragginn, er wohnt über der Bar. Grüß ihn von mir.«

Jørn schüttelt den Kopf.

»Und was willst du in der Zwischenzeit machen?«

»Ich fange schon mal an, auf den Booten zu suchen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Nur für einen Moment erlaubt sich Hannah, Jørn nachzublicken, der auf seinem Motorschlitten in den Ort verschwindet, dann wendet sie ihren Blick den Fischerbooten zu. Sie muss systematisch vorgehen und wählt daher einen Kutter aus, der ungefähr in der Mitte des Hafens liegt. Von dort aus will sie sich nach rechts vorarbeiten. Nicht ohne Angst steigt sie an Bord, das Boot schaukelt, und es ist schwierig, sich mit nur einem brauchbaren Arm festzuhalten. Das Deck ist glatt von Schnee, und Hannah muss sich an die Reling klammern, damit sie nicht ausrutscht. Sie stolpert auf das Steuerhaus zu, versucht gleichzeitig, Fußspuren zu erkennen. Auf den ersten Blick sieht sie niemanden, doch zur Sicherheit späht sie zum Fenster des Steuerhauses hinein und steckt den Kopf in einen unverschlossenen Laderaum. Nichts. Mühsam kämpft sie sich wieder an Land, doch es geht alles zu langsam: Wenn sie so auf allen Booten herumtappt, wird sie nie etwas finden. Sie lässt ihren Blick über das Hafenbecken schweifen, versucht Anzeichen menschlicher Anwesenheit zu erkennen oder wenigstens Boote ausfindig zu machen, die sich besonders gut als Versteck eignen würden. Wenn die beiden Frauen überhaupt auf einem der Kutter sind. Es ist ein Schuss ins Blaue, das weiß sie, und vielleicht ist dieser ganze Plan reine Idiotie. Vielleicht sollte sie einfach darauf warten, dass Jørn mit Verstärkung kommt. Was kann sie ohnehin tun, wenn sie Ella und die Frau mit dem Hund entdeckt? Sie dazu überreden, sich zu ergeben? Langsam geht ihr auf, dass die Mission hoffnungslos ist, doch dann hört sie ein Geräusch. Eine Frauenstimme. Sie dreht sich in Richtung der Stimme und erahnt eine Gestalt auf einem der Boote, das in dem schlechter beleuchteten Teil des Hafens liegt. Sie atmet tief ein und geht darauf zu.