Hannah bleibt vor dem Fischkutter stehen, auf dem sie vermeintlich jemanden gesehen hat. War es wirklich hier? Und was, wenn sie tatsächlich findet, wonach sie sucht? Sie schüttelt die Angst ab, klettert an Bord. Der Wind zerrt an ihr, sie muss sich an der Reling festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und versucht sich zu orientieren. Fischkutter ist eigentlich eine Untertreibung. Das Boot sieht eher aus wie ein moderner Trawler, sicher ein kleinerer, doch dennoch groß genug, um enorme Mengen Fisch aus dem Meer zu schaufeln. Und groß genug, um sich darauf zu verstecken. Sie blickt zum Steuerhaus hinüber, das leer wirkt, doch dann bemerkt sie Fußspuren im Schnee. Oder besser gesagt: Schleifspuren. Als hätte jemand einen Sack hinter sich hergezogen – oder einen Menschen. Die Spur ist leicht von frisch gefallenem Schnee bedeckt, deshalb hatte Hannah sie auf den ersten Blick nicht gesehen. Das deutet darauf hin, dass sie mindestens ein paar Stunden alt ist, sie muss aus der Zeit stammen, bevor der Schneesturm sich gelegt hat. Einen Augenblick lang ist sie im Zweifel, ob es wirklich dieses Boot war, auf dem sie die Bewegung gesehen hat, doch dann entdeckt sie frische Fußspuren. Offenbar von zwei Personen. Langsam folgt Hannah den Spuren, die – wie die Schleifspur – zum Steuerhaus führen. Sie klammert sich an die Reling und an die Hoffnung, dass bald alles vorbei sein wird.
Hannah hat sich so weit vorgewagt, dass keine Zeit bleibt, zu zögern oder tief einzuatmen. Sie reißt die Tür des Steuerhauses mit einer gewaltigen Kraftanstrengung auf. Obwohl sie das Schlimmste erwartet, tritt sie mit mutig durchgedrückter Brust ein. Wenn sie jetzt stirbt, kann sie ihrem Schicksal genauso gut selbstbewusst entgegentreten. Aber ein Glück, nichts geschieht. Sie schaut sich um, der Raum ist leer und kalt. Außer einer Menge Geräte, die der kleinen Kommandozentrale eher den Anschein eines Cockpits verleihen, sowie zwei gepolsterten Stühlen, die im Boden festgenietet sind, ist hier nichts zu sehen. Hannah ist überrascht, wie hochtechnisiert und komfortabel das Ganze wirkt, es steht im Widerspruch zu ihrer romantischen Vorstellung von einem Fischerboot mit einem kleinen Holzsteuerrad. Sie will gerade wieder umkehren, als sie ein Geräusch hört. Ein menschliches Geräusch. Sie spitzt die Ohren, blickt zu den beiden Stühlen, von dem einen sieht sie nur die Rückenlehne. Kommt es von dort? Vorsichtig geht sie hinüber, das Geräusch ertönt wieder, jetzt besteht kein Zweifel mehr: Es ist das Wimmern eines Menschen. In sicherem Abstand zu dem Stuhl läuft Hannah um ihn herum und sieht zu ihrer Überraschung und Erleichterung Margrét darauf sitzen – gefesselt, aber am Leben. Sie scheint gerade aus einer Bewusstlosigkeit zu erwachen. Hannah beugt sich zu ihr hinunter.
»Margrét! Was ist passiert?«
Hannah rüttelt sie sanft, sucht ihren Körper nach eventuellen Verletzungen ab, doch außer einem blauen Fleck an der Schläfe scheint es keine zu geben. Mit verzweifeltem Eifer beginnt sie den Strick zu lösen, mit dem Margréts Handgelenke an die Armlehnen gebunden sind. Die Situation kommt ihr merkwürdig unwirklich vor, wie ein Sammelsurium von verhassten Klischees. Als wäre sie in einem schlechten James-Bond-Film gelandet, oder noch schlimmer: in einem von Jørns Büchern. Es ist schwieriger als gedacht, Margrét zu befreien, doch Hannahs Reißen und Ziehen an dem Strick holt die Gefangene ins Bewusstsein zurück. Hannah schaut sie an, während sie mit dem letzten Knoten kämpft.
»Wer hat das getan? War es die Frau mit dem Hund? Oder Ella?«
»Sigrun.«
Hannah blickt Margrét verwirrt an, wie hart ist wohl der Schlag auf ihren Kopf gewesen?
»Sigrun?«
»So heißt sie. Die du ›die Frau mit dem Hund‹ nennst.«
Hannah nickt, als würde ihr alles plötzlich klar, aber sie ist durcheinander. Zwar ist nun die mutmaßliche Mörderin identifiziert und sie hat einen leidlichen Überblick über die Beteiligten, doch es stellen sich noch immer mehr Fragen, als es Antworten gibt. Wer ist Sigrun eigentlich? Mit welchem Motiv hat sie diese Kettenreaktion von Gewalt in Gang gesetzt? Warum hat sie Margrét auf einem Boot an einen Stuhl gefesselt? Und das Wichtigste: Wo ist Ella, und welche Rolle spielt sie in alldem?
»Wo ist Ella?«
Margrét sieht Hannah fragend an, als wäre Hannah diejenige, die das wissen müsste.
»Ich dachte, sie wäre mit dir zusammen. Deshalb sind wir im ganzen Dorf herumgefahren, und Viktor hat einen Schuss abgekriegt und …«
Hannah hält inne. Sie sieht, dass Margrét leichenblass geworden ist, und würde sich für ihre unsensible Informationsvermittlung am liebsten selbst ohrfeigen.
»Viktor geht es gut – oder er lebt jedenfalls. Es wird ihm sicher bald wieder gut gehen.«
»Wo ist er?«
»In Ellas Hütte etwas außerhalb des Dorfs, ich dachte, du wüsstest …«
Halt. Schon wieder. Margrét sieht völlig erledigt aus. Hannah begreift, dass Margrét überhaupt nichts weiß.
»Wie lange bist du hier festgebunden gewesen?«
»Ich weiß es nicht … Ein paar Stunden vielleicht … Aber wenn Viktor verletzt in einer Hütte liegt, wer ist dann bei den Kindern?«
Hannah blickt Margrét schuldbewusst an, sie hatte die Kinder völlig vergessen.
»Sie sind zu Hause und schlafen tief und fest.«
»Allein?«
Bevor Hannah noch mehr sagen kann, ist Margrét schon an der Tür, rüttelt verzweifelt daran und wirft Hannah einen entsetzten Blick zu.
»Sie ist versperrt. Hast du sie versperrt?«
Hannah schüttelt den Kopf, geht hinüber und versucht es selbst. Die Tür ist tatsächlich zu, kann sie ins Schloss gefallen sein? Doch im selben Moment entdeckt sie jemanden auf der anderen Seite des Fensters: die Frau mit dem Hund, die sie unangenehm kühl anlächelt. Hannah erschrickt so, dass sie einen kleinen Schrei ausstößt.
»Sigrun! Lass uns raus!«
Hannah klopft ans Fenster, doch Sigrun betrachtet sie nur, als wäre sie eine unerwartete Beute, die sich töricht in eine Falle verirrt hat, die für etwas ganz anderes bestimmt war. Die Gleichgültigkeit in ihrem Blick macht Hannah Angst, sie hämmert weiter und versucht Sigrun zu überzeugen, sie herauszulassen. Doch plötzlich fährt Hannah erschrocken zusammen und verstummt – Sigrun hat eine Pistole. Hannah hält mit geballter Faust in der Luft inne, dann gleitet ihre Hand mit kraftlosen Fingern an der Scheibe herunter. Sigrun scheint Hannahs Furcht nicht bemerkt zu haben, oder vielleicht ist sie ihr auch gleichgültig. Sie sucht Margréts Blick, sagt etwas auf Isländisch. Hannah dreht sich zu Margrét um.
»Was sagt sie?«
»Dass du dein Telefon zerschlagen sollst …«
Hannah zögert. Verdammte Scheiße. Dann schaut sie zu Sigrun hinaus, die auffordernd mit der Pistole wedelt. Hannah holt das Handy heraus. Legt es auf den Tisch. Blickt zu Sigrun, die den Kopf schüttelt. Hannah zögert – wenn sie das Telefon zerstört, zerstört sie ihren Rettungsring. Sigrun klopft mit der Pistolenmündung gegen das Fenster. Margrét sieht Hannah niedergeschlagen an.
»Ich glaube leider, du musst es tun …«
Hannah hält kurz inne. Dann knallt sie das Handy fest gegen die Kante des Stahltischs, wieder und wieder, bis von Bildschirm und Innenleben nur noch unbrauchbare Splitter übrig sind, die im Rahmen hängen. Sie schaut Sigrun an.
»Zufrieden?«
Wieder sagt Sigrun etwas auf Isländisch durch die Scheibe. Margrét blickt sich suchend um.
»Es geht um irgendwelche Kabelbinder, die wir uns um die Handgelenke schnüren sollen.«
Sie entdecken die Packung mit den Plastikstreifen gleichzeitig, sehen sich dann hilflos an. Margrét nimmt die Kabelbinder, geht zur Scheibe, tritt so nah wie möglich an Sigrun heran. Hält das Päckchen hoch, stellt eine Frage auf Isländisch. Sigrun nickt, erwidert etwas. Margrét wendet sich zu Hannah um.
»Komm her, dreh mir den Rücken zu.«
Hannah zögert, was ist das jetzt?
»Wir müssen es machen, sonst will sie nicht öffnen.«
»Entschuldige, aber hast du diesen dicken Gipsarm gesehen? Den kann ich mir nicht einfach auf den Rücken zwingen.«
Hannah hält demonstrativ den Arm hoch. Margrét seufzt, offensichtlich hat sie die Gipsherausforderung nicht bedacht. Sie ergreift Hannahs Hände, legt sie übereinander. Hannah hat sich noch nie so machtlos gefühlt wie in diesem Moment, während Margrét die Kabelbinder um ihre Handgelenke festzurrt.
»Au, verdammt!« Hannah windet sich. »Musst du sie so extrem festziehen?«
»Tut mir leid, ich kann sie leider nicht mehr aufmachen.«
Hannahs Gipsarm steht in einer unnatürlichen Position von ihrem Körper ab; sie fühlt sich wie eine verdrehte Barbiepuppe, die Handgelenke pochen, sie ist sich nicht sicher, ob überhaupt Blut in ihre Hände fließt.
»Jetzt machst du es bei mir.«
Margrét wendet sich um, hat die Hände schon in ihrem Rücken zusammengelegt, damit es für Hannah einfacher ist, die Aufgabe zu bewältigen. Plötzlich wird Hannah von einem absurden Gedanken gestreift, sie sieht – völlig unpassend – eine gänzlich andere Situation vor sich, in der dieses Händefesseln zwischen ihnen stattfinden könnte. Der Ernst der Lage vertreibt diese Fantasie, als Sigrun mit der Pistolenmündung gegen die Scheibe klopft.
»Tretet zurück.«
Im nächsten Augenblick hat Sigrun die Tür geöffnet und sie aus dem Steuerhaus geführt. An ihrer Seite läuft der sabbernde Hund, der plötzlich gefährlicher aussieht, als Hannah ihn in Erinnerung hat. Ist es überhaupt derselbe? Mit der Pistole im Rücken werden sie übers Deck getrieben, und Hannah zittert vor Angst, als ihr Blick auf das wogende Eiswasser fällt, das das Boot umgibt. Will Sigrun sie zwingen, über die Planke zu gehen? Wie in einem Film sieht Hannah panisch ihre letzten Zuckungen im eiskalten Wasser vor sich, sie ist selbst ohne gefesselte Hände eine schlechte Schwimmerin. Wenn sie da hinuntermuss, ist sie sofort tot. Aber Sigrun führt sie nicht an den Rand des dunklen Eiswassers, sie werden stattdessen zu einer Luke gescheucht, die in den Laderaum hinunterführt. Hannah bleibt stehen, das ist fast noch schlimmer: in einen finsteren, eiskalten Fischtank gesperrt zu werden, bedeutet nur einen etwas langsameren und übelriechenderen Kältetod. Sie versucht Widerstand zu leisten, indem sie demonstrativ innehält, doch eine Pistolenmündung an der Schläfe aktiviert ihren Überlebensinstinkt.
»Niður.«
Hannah versteht die Anordnung. Sie haben keine Wahl, sie schaut in den dunklen Raum hinunter. Von dem Fischgeruch wird ihr übel. Wie weit es wohl nach unten ist? Zwei Meter, sieben? Auf jeden Fall scheint das Risiko, sich beim Aufkommen entweder die Beine oder gleich das Genick zu brechen, ziemlich hoch.
»Nein, das mach ich nicht, es ist viel zu … Argh!«
Bevor Hannah sich weiter weigern kann, hat Sigrun sie mit einem resoluten Schlag in den Rücken über die Kante gestoßen. Es fühlt sich wie eine halbe Ewigkeit an, bis Hannah in einer Art Purzelbaumfall auf dem harten Boden landet. Glücklicherweise kann sie ihren Kopf schützen, indem sie die Hände vor sich hochhält, doch das kostet sie einen schmerzhaften Schlag auf den Gipsarm, der langsam schon wirklich viel durchgemacht hat. Hannah bleibt nicht viel Zeit zu stöhnen, denn als sie zu dem diffusen Licht hinaufblickt, nimmt sie wahr, wie eine Gestalt zu ihr herunterstürzt: Margrét. Hannah wirft sich zur Seite und sieht Margrét gerade noch landen, perfekt auf beiden Beinen stehend. Wie in aller Welt hat sie das geschafft, obwohl ihr beide Arme auf den Rücken gebunden sind? Kurz bevor die Luke zugeschoben und damit das schwache Licht ausgesperrt wird, gelingt es Hannah, den Abstand von Margréts Scheitel bis zur Decke abzuschätzen; der Raum muss um die zwei Meter hoch sein. Die Luke schließt sich, und um sie herum wird es pechschwarz.