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Hannah steckt im größten Dilemma ihres Lebens: Soll sie sich Sigrun fügen und damit ihr eigenes Leben retten, aber Ellas und Margréts Tod in Kauf nehmen, oder soll sie ihr Leben riskieren, um Sigrun aufzuhalten? Sie sieht die Pistole auf Sigruns Oberschenkel an, deren rechte Hand liegt unangenehm ruhig darauf. Hannahs Chancen stehen schlecht: keine Waffen, ein gebrochener Arm, eine kaum überwindbare Angst, einen anderen Menschen tödlich zu verletzen. Sigrun dagegen hat bereits bewiesen, dass sie nicht zögert, über Leichen zu gehen. Auch wenn sie Hannah braucht, um ihre Geschichte öffentlich zu machen, ist Hannah keineswegs überzeugt, dass sie ihr Leben verschonen würde, falls eine kritische Situation entstehen sollte. Das ist es. Hannah muss eine kritische Situation verhindern. Solange sie die Kontrolle behalten kann, wird niemand sterben. Und vielleicht kommt in der Zwischenzeit Hilfe, vielleicht ist ja schon ein Helikopter unterwegs zu ihnen?

»Ich will dir gern helfen.«

Hannah beugt sich leicht zu Sigrun vor, nicht drohend, sondern um Vertrauen zu schaffen.

Sie weiß nicht, ob es wirkt, doch Sigrun blickt sie zumindest mit einem gewissen Interesse an.

»Du willst also meine Geschichte erzählen?«

Hannah nickt.

»Was Ægir getan hat, ist unverzeihlich. Die Vergewaltigung, die Schwangerschaft, das Verleugnen … das ist das eine. All das, was zu Ellas und deinen Qualen geführt hat. Eine andere Sache ist das, was er nicht getan hat. Er hat weder dir noch Ella geholfen. Er hätte zu seiner Tat stehen, der Schande die Spitze nehmen und euer Leid mittragen können. Und ich stimme dir zu; was er euch angetan hat, soll Konsequenzen haben, die er zu spüren bekommt. Aber wenn du mal darüber nachdenkst, dann hast du dich bereits gerächt. Thor ist tot, und ich werde der Welt die ganze Geschichte erzählen. Es braucht nicht noch weitere tragische Folgen zu haben, es gibt keinen Grund dafür, noch zwei unschuldigen Menschen das Leben zu nehmen, und du musst keinen Selbstmord begehen.«

Ein schwaches Lächeln gleitet über Sigruns Lippen und verschwindet wie eine Wolke, die über den Himmel wandert.

»Um mich wird niemand weinen.«

»Doch, Ella. Und ich auch, jetzt, wo ich dein Schicksal kenne.«

»Ellas Leben endet auch hier. Ich weiß, dass ich ihr Schmerz zugefügt habe, deshalb ist es besser, dass ich ihrem Leiden ein Ende setze.«

»Das solltest nicht du für sie entscheiden. Wer sagt denn, dass sie nicht noch viele gute Jahre vor sich hat?«

Sigrun sitzt nur da, starrt die Pistole an. Sie sieht aus wie eine Frau, die ihre Entscheidung getroffen hat. Hannah spürt, wie ihr ein Schweißtropfen von der Stirn am Ohr entlangläuft – wie lange hat sie wohl noch Zeit, bis das letzte Blutbad beginnt? Sie wünschte, sie hätte mehr Krimiserien gesehen oder auch mehr von Jørns Büchern gelesen, dann wüsste sie vielleicht, wie man einem Mörder das Töten ausredet. Sie ist es gewohnt, Menschen zu beobachten und sich vorzustellen, welche Geheimnisse und Wünsche sie haben, aber sie ist weniger erfahren darin, mit ihnen darüber zu sprechen. Und Sigruns Wünsche und Geheimnisse kennt sie nun. Der Weg der Vernunft scheint unmöglich, doch Hannah wagt einen letzten Versuch.

»Margrét. Es gibt keinen Grund, sie mit in den Tod zu reißen, sie hat nichts getan.«

»Nein, ganz genau.«

Sigruns Blick verdunkelt sich.

»Margrét kennt Ellas Geschichte seit vielen Jahren, aber sie hat sie für sich behalten, wie alle anderen auch.«

»Vielleicht wollte Ella nicht, dass sie ans Licht kommt. Wenn du mich fragst, wirkt es doch so, als hätte Ella sich trotz all des Unrechts, das ihr angetan wurde, ein gutes Leben aufgebaut. Vielleicht war das ihre Art zu überleben?«

Hannah ruft sich die lebhafte und positive Ella in Erinnerung, die sie in ihrem knatternden Jeep abgeholt hatte, gespannt darauf, eine Fremde in ihr Leben einzuladen. Sie spürt einen schmerzhaften Stich von schlechtem Gewissen, dass sie ihrer Gastgeberin nicht von Anfang an offener begegnet ist. Ella hatte sich für ein gutes Leben entschieden, trotz all dem Schrecklichen, das ihr passiert war, und wenn sie sich damals wieder aufrichten konnte, dann wird sie das auch jetzt wieder können, nach dieser ganzen Sache. Ellas Leben darf hier nicht enden, genauso wenig wie das von Margrét – und ihr eigenes. Hannah lauscht erneut in das Brausen des Windes, doch es ist kein Helikopter zu hören, kein Licht von anderen Booten zu sehen. Die Chance, dass Jørn und die anderen aus dem Ort irgendeine Ahnung haben, dass sie sich auf einem Boot weit draußen auf dem Meer befinden, ist gleich null – wenn die vier Frauen überleben sollen, liegt es jetzt bei ihr.

»Ich verstehe, dass du dein Leben für sinnlos hältst. Du denkst sicher, dass du nichts hast, wofür es sich zu leben lohnt, dass die Ereignisse der letzten Wochen dich noch tiefer in das schwarze Loch gezogen haben, in dem du geboren wurdest und aus dem du dich nie befreien konntest. Aber so ist es nicht. Man kann sich immer verändern, immer neue Hoffnung finden. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.«

Sigrun betrachtet sie.

»Hast du dich denn jemals aus einem Leben in Elend und als Ausgestoßene herausgearbeitet und hast weitergemacht, nachdem du jemanden ermordet oder tödlich verletzt hattest?«

Touché . Es ist ihr peinlich, schlechte Buchverkäufe, alles zerfressenden Neid und selbstgewählte verbitterte Einsamkeit mit Sigruns trauriger Situation zu vergleichen. Trotzdem meint sie es ernst, ihre Erfahrungen bestärken sie in dem Glauben, dass es sich auch für Sigruns Leben zu kämpfen lohnt.

»Ich gebe zu, dass du nicht ums Gefängnis herumkommst. Und Thors und Gíslis Leben wirst du auf dem Gewissen haben, so lange du selbst atmest. Aber das bedeutet nicht, dass hier alles zu Ende sein muss. Denk darüber nach: Wenn du lebst, kannst du deine Geschichte selbst erzählen. Ich helfe dir gerne dabei, aber ist es nicht befriedigender, steuern zu können, was über dich gesagt wird? Denk an all die Mörder, die mit der Zeit zu Weltstars geworden sind. Du verbüßt deine Strafe, schreibst vielleicht im Gefängnis ein Buch, das alle lesen wollen, du verkaufst die Filmrechte an deiner Geschichte, kommst nach ein paar Jahren wegen guter Führung raus, kannst mit elektronischer Fußfessel in deiner eigenen Wohnung leben, du bekommst Fanpost von Menschen aus aller Welt, die mit dir und deiner Geschichte sympathisieren, Politiker ändern die Gesetzgebung über Vergewaltigungen, ein attraktiver, netter Mann schreibt dir, während du im Gefängnis sitzt …«

»Du fabulierst.«

Sigrun unterbricht sie, und Hannah sieht ein, dass sie recht hat. Sie ist bereits dabei, Sigruns zukünftiges Leben als verurteilte Mörderin zu romantisieren – was tut sie da eigentlich?

»Okay, ich hab mich ein bisschen mitreißen lassen, aber überleg doch mal: Ist der Tod wirklich der beste Ausweg?«

Sigrun blickt auf die dunklen Wellen hinaus, scheint ernsthaft über Hannahs Worte nachzudenken. Doch dann wendet sie sich ihr zu, hebt die Pistole, Hoffnungslosigkeit in den Augen.

»Die Rache kommt eines Tages. Vielleicht nicht in der Form, wie du denkst. Vielleicht nicht aus der Richtung, aus der du sie erwartest. Aber wenn man anderen Unrecht tut, ihr Leben zerstört, dann muss man einen Preis dafür zahlen. Für Ægir bedeutete das, seinen Sohn zu verlieren, wie ich meine Mutter verloren habe. Ich weiß sehr wohl, was du versuchst, aber ich habe meine Entscheidung getroffen. Und jetzt muss ich meine Arbeit zu Ende bringen.«

Sigrun lädt die Pistole durch, steht auf und öffnet die Tür des Steuerhauses, um hinauszugehen und ihr eigenes, Ellas und Margréts Leben zu beenden. Hannah springt auf, greift nach ihr.

»Halt! Tu’s nicht, ich bitte dich.«

Sigrun schaut ihr direkt in die Augen, mit einem sehr, sehr finsteren Blick.

»Versprich mir, dass du meine Geschichte erzählst, sonst töte ich dich auch.«

»Wenn du jemanden tötest, und das schließt dich mit ein, erzähle ich niemandem auch nur ein Wort über dich und dein Leben! Dann sterben alle Geheimnisse mit dir, Ella und Margrét.«

Sigrun zögert einen Augenblick. Hannah fühlt einen Anflug von Erleichterung; das ist der Schlüssel, um sie aufzuhalten. Doch dann lächelt Sigrun sie mit toten Augen an.

»Die Ermittlungen der Polizei werden die Sache wohl zumindest in groben Zügen aufdecken. Und du wirst es dir nicht verkneifen können, den Rest zu erzählen, wenn Ægir anfängt, sich zu verteidigen. Dann wirst du schon dafür sorgen, dass die Wahrheit über sein Verbrechen und dessen Folgen ans Licht kommen.«

»Du glaubst, ich kann das nicht für mich behalten?«

Sigrun schüttelt den Kopf.

»Nein. Denn dann würde dein Kollege, dieser begriffsstutzige Jørn, sich das Patent auf die Geschichte sichern, und ich kann mir nicht vorstellen, dass du ihm das überlassen willst.«

Hannah fühlt sich voll und ganz getroffen. Vielleicht ist es die Erwähnung von Jørns Namen, vielleicht die Frustration darüber, manipuliert und durchschaut zu werden, vielleicht ist es nur die Angst zu sterben, vielleicht ist es auch die Summe von allem. Auf jeden Fall sammelt sich eine unbekannte Kraft in Hannah, sie spürt, wie ihr Blut in Wallung gerät und das Adrenalin sie zu neuen, mutigen Höhen aufstachelt. Unter Gebrüll wirft sie sich auf Sigrun und die entsicherte Waffe – das Ganze muss jetzt ein Ende haben! Peng. Hannah stolpert nach hinten, spürt, wie ihr Rücken, ihr gesunder Arm und zuletzt ihr Kopf auf dem Boden aufschlagen. Etwas Warmes läuft ihr über die Schläfe, sie tastet danach, schaut auf ihre Finger; Blut. Die Wunde vom Schaft der Pistole, mit dem Sigrun sie getroffen hat, scheint jedoch nur oberflächlich zu sein. Hannah ist erschöpft, aber schnell wieder auf den Beinen. Sigrun ist verschwunden, hat eine klappernde Tür hinterlassen. Scheiße, das muss bedeuten, dass sie im Hinrichtungsmodus ist. Hannah stürzt ihr nach, so schnell ihr geschundener Körper und ihr aus dem Lot geratener Gleichgewichtssinn es zulassen. An Deck ist es dunkel, der Boden ist glatt und der Regen peitscht von allen Seiten auf sie ein. Hannah kann nichts sehen – will Sigrun zuerst Margrét oder Ella liquidieren? Da Hannah nicht weiß, wo Ella ist (wenn sie überhaupt noch auf dem Boot ist!), eilt sie zu der Luke, öffnet sie, springt hinunter.

Margrét leuchtet sie an.

»Hannah!«

Hannah blickt sich verzweifelt um.

»Sie ist nicht hier?«

»Nein, aber ich habe gerade jemanden in Richtung Achterdeck laufen hören.«

»Schnell! Sie will Ella erschießen und danach dich.«

Hannah weiß nicht, wie es Margrét gelingt, sie beide an Deck zu hieven, aber wenige Sekunden später sind sie oben im Regen und bewegen sich halb rennend, halb rutschend auf das Achterdeck des Bootes zu. Fischernetze und Flaschenzüge erschweren die Sicht und schaffen gefährliche Hinterhalte. Hannah und Margrét sehen sich an, spiegeln die Verzweiflung der anderen. Hannah wagt es nicht zu rufen, aus Angst, sie beide zu verraten, sie winkt Margrét dicht zu sich heran; das hier ist etwas, das sie gemeinsam tun müssen. Langsam suchen sie mit den Augen das Heck des schaukelnden Bootes ab. Obwohl sie wissen, dass sie lebendige Zielscheiben sind, versuchen sie nicht, sich zu verstecken; aufrecht und mit dem Herzen voran bewegen sie sich vorwärts. Plötzlich hören sie einen Schuss, gefolgt von einem Schrei. Ohne sich umzusehen, stürzen sie in die Richtung, aus der der Lärm kam. Hannah sieht nun Ella mit dem Rücken zur Reling stehen, während Sigrun auf sie zielt. Anscheinend ist der erste Schuss danebengegangen. Sicher wegen des schwankenden Untergrunds. Oder auch, weil es schwieriger als gedacht ist, seine eigene Mutter zu erschießen. Ella entdeckt die beiden und stößt einen weiteren kurzen Schrei aus, worauf Sigrun sich umdreht und die Pistole direkt auf sie richtet. Hannah will auf sie zugehen, fühlt sich jedoch von einer bislang unbekannten Panik wie gelähmt, ihre Beine scheinen mit dem schaukelnden glitschigen Deck verwachsen zu sein. Sie schließt die Augen. Jetzt ist es vorbei. Im entscheidenden Augenblick konnte sie sich nicht einmal von einer todbringenden Kugel wegbewegen. Doch was ist das?! Hannah hört tumultartigen Lärm, öffnet die Augen, sieht, dass Margrét Sigrun umgestoßen hat; beide liegen auf dem Deck, im Kampf um die Pistole. Jetzt wirft sich auch Ella in das Handgemenge, und endlich lösen sich Hannahs Fußsohlen vom Boden, sie findet wieder Kontakt zu ihrem Körper und stürzt sich mit Gebrüll und dem harten Gipsarm voran in den Kampf. Es ist nicht ihre Absicht gewesen, den Gips als Schlagstock einzusetzen, doch auf wundersame Weise schlägt sie Sigrun im Fallen damit außer Gefecht, und Margrét gelingt es, ihr nach einem wilden Gerangel auf dem nassen Deck die Pistole aus den mörderischen Fingern zu winden, während Ella Sigruns Beine festhält. Mit einem Kugelstoßer-Schrei schleudert Margrét die Pistole über die Reling weit ins Meer hinaus, das die Gefahr und den Beweis dafür, dass diese Nacht sie beinahe alle vier das Leben gekostet hätte, verschlingt. Hannah sieht Margrét an, dann Ella und dann Sigrun, die erschöpft und hilflos auf dem Deck liegt. Eine Träne der Erleichterung stiehlt sich aus Hannahs Auge. Sie haben überlebt, und jetzt ist es endlich vorbei.