Erstaunt verfolgt Hannah, wie Ella den Fischkutter in Richtung Land lenkt – wenn sie doch nur genauso gut Auto fahren würde, wie sie ein Boot steuert. In einer Kiste haben sie ein paar alte Decken gefunden, die sie sich als Schutz gegen die Kälte um ihre nassen Körper gewickelt haben. Hannah sieht Margrét an, die neben ihr sitzt, und wirft dann einen Blick in die Ecke des kleinen Steuerhauses, wo Sigrun unter einer Decke kauert. Ihre Hände sind auf den Rücken gefesselt, was nun fast unnötig wirkt, denn sie sitzt apathisch da und starrt ins Leere, weit von jedem Widerstand entfernt. Hannah wendet sich an Ella.
»Es gibt eine letzte Sache, die ich noch nicht ganz verstehe.«
Ella schaut sie an, mit einem Blick, der nicht gerade zum Fragen einlädt. Hannah fragt dennoch.
»An diesem Abend … Thor ist in dein Auto eingestiegen, und du hattest seine Halskette in deiner Schublade. Warum?«
Ella blickt nur aufs Meer hinaus, in Richtung Hafen, dessen Lichter langsam näherkommen. Es wirkt nicht so, als hätte sie vor zu antworten. Nach kurzem Schweigen versucht Hannah es erneut – sie mustert erst Ella, dann Sigrun. Sucht nach einer Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen, findet jedoch keine. Sind sie wirklich Mutter und Tochter?
»Du hast ihn zufällig getroffen und wolltest ihn heimfahren?«
Ella antwortet weiterhin nicht. Hannah weiß, dass sie das Thema ruhen lassen sollte, es den zuständigen Instanzen überlassen, die letzten Fragen zu beantworten, die Schuldigen festzustellen. Doch sie kann den Gedanken nicht ertragen, nie zu erfahren, was genau an diesem Abend geschehen ist – erst recht nicht, falls sich herausstellen sollte, dass Ella in irgendeiner Form involviert war.
»Ich muss wissen, ob du etwas mit Thors Tod zu tun hattest.«
Jetzt sieht Ella Hannah direkt an, durchbohrt sie mit einem eisigen Blick. Sagt etwas auf Isländisch, doch nicht zu ihr, sondern zu Margrét. Margrét nickt ernst. Dreht sich zu Hannah.
»Ella wusste, was Sigrun im Sinn hatte. Oder sie hatte zumindest einen Verdacht. Kurz bevor du hierherkamst, hatte Sigrun Ella besucht und gesagt, die Stunde der Rache sei gekommen. Und dass sie dort zuschlagen würde, wo man es am wenigsten erwartet, aber wo es am meisten schmerzt. Ella hatte das Gefühl, dass Thor vielleicht in Gefahr wäre. Deshalb hat sie ihn besonders im Auge behalten. Und es war kein Zufall, dass sie ihn in dieser Nacht aufgelesen hat. Er hatte sie angerufen, war außer sich. Er wollte nicht sagen, warum, aber Ella ist sofort hingefahren, um ihn nach Hause zu bringen. Die Halskette war während des Streits mit Jonni zerrissen, Thor hat sie in Ellas Auto liegengelassen, und als er starb … Tja, da hat sie sie bei sich versteckt.«
Vieles davon ergibt Sinn, doch Hannah kann sich noch immer keinen Reim auf das Ganze machen.
»Wenn Ella Thor an dem Abend nach Hause gefahren hat, warum ist er dann draußen auf den Strandwiesen gelandet?«
Ella und Margrét wechseln einen Blick, als wollte sich Margrét die Erlaubnis einholen, die ganze Geschichte weiterzugeben. Ella nickt ihr zu und Margrét fährt fort.
»Das ist es, was Ella so quält. Wenn sie ihn in dieser Nacht heimgefahren hätte, würde er vielleicht noch leben. Aber er hat darauf bestanden, dass sie ihn auf halber Strecke absetzt, wollte das letzte Stück zu Fuß gehen. Er war traurig und hatte das Bedürfnis, ein bisschen allein zu sein. Ella hat ihm diesen Wunsch nur sehr widerwillig erfüllt. Sie hat Vigdis und Ægir angerufen und sie informiert, deshalb hat Ægir nach ihm gesucht. Aber trotzdem hat sie das Gefühl, sie hätte Thor seiner …«
Margrét schaut zu Sigrun hinüber, die keine Form von Reue zeigt. Hannah beendet Margréts Satz.
»Seiner Mörderin überlassen.«
Margrét nickt.
»Sigrun hat Ella sogar den Hammer gestohlen, weil die Mordwaffe eine symbolische Bedeutung haben sollte.«
Hannah sieht jetzt, wie Ella Tränen über die Wangen laufen. Sie beschließt, nicht weiter nachzubohren, kann Ellas Schuldgefühle gut verstehen. Aber warum hat sie Sigrun nicht einfach angezeigt, wenn sie wusste, dass sie die Mörderin war? Hannah stellt die Frage an Margrét, die offenbar alle Details kennt.
»Sie wusste es nicht mit Sicherheit, bis vor ein paar Tagen. Sie ist zu uns gekommen und wollte es Viktor sagen, aber nachdem sie sich mir anvertraut hatte, hat sie kalte Füße bekommen. Ich hab versucht, sie zu überreden, alles zu erzählen, so bin ich in die Sache verwickelt worden.«
Hannah betrachtet Margrét, die ebenfalls schuldbewusst wirkt, doch im Grunde sind weder sie noch Ella verantwortlich für das, was geschehen ist. Das ist allein Sigrun, und vielleicht indirekt ein ganz anderer, der vermutlich nie für irgendetwas verurteilt werden wird: Ægir. Hannah richtet ihren Blick auf den Hafen, dem sie sich schnell nähern, und als sie durch die Einfahrt gleiten, hört sie Rufe und sieht, wie die Leute aus dem Ort die Arme heben. Es sind auch Blaulichter und zwei Uniformierte anwesend; das muss die Verstärkung aus der Nachbargemeinde sein. Hannah legt eine Hand auf Margréts, die noch verzagter wirkt als die Mörderin hinter ihnen. Sie blickt ebenfalls auf die uniformierten Polizisten.
»Viktor wird sich erholen, da bin ich ganz sicher.«
Margrét nickt, zieht ihre Hand zu sich. Ein Stoß zeigt an, dass sie Land erreicht haben, und Hannah sieht einige der erfahrenen Fischer an Bord springen, um das Boot zu vertäuen. Sie hilft Sigrun auf die Beine, wechselt einen letzten Blick mit Ella.
»Gut gemacht.«
Ella nickt, und dann gehen sie alle vier aufs Deck hinaus, hinaus in das Licht des Hafens, stellen sich den neugierigen Blicken der Dorfbewohner. Plötzlich fängt jemand an zu klatschen. Hannah erkennt, dass es Jørn ist, der ganz vorne steht, und als sie gerade genervt reagieren will, beginnen auch die vielen anderen Menschen, die dort im Schnee stehen und froh und erleichtert zu sein scheinen, dass sie am Leben sind, zu klatschen. Hannah schluckt einen Kloß im Hals hinunter, will nicht schon wieder weinen, doch sie bekommt eine Gänsehaut. Die beiden uniformierten Polizisten eilen an Bord, wechseln ein paar Worte mit Margrét, die auf Sigrun zeigt. Sie ergreifen die entlarvte Täterin, die längst jeglichen Widerstand aufgegeben hat. Auch Ella und Margrét wird vom Boot geholfen, Hannah wartet, bis sie an der Reihe ist, und entdeckt in der Menge plötzlich Ægir und Vigdis. Als ein wohlmeinender Mann ihr die Hand entgegenstreckt, schüttelt sie den Kopf und tritt stattdessen einen Schritt vor, sodass alle sie sehen können. Sie schaut zu Sigrun hinüber, die verfolgt von höhnischen Blicken zum Polizeiauto geführt wird.
»Heute Nacht haben wir die Mörderin aufgehalten, die in letzter Zeit euer Dorf unsicher gemacht und viel Leid verursacht hat. Aber wenn ihr sie anseht und verurteilt, solltet ihr daran denken, dass diese Geschichte nicht mit dem Mord an Thor beginnt. Sie begann schon lange vorher. Mit einer Tragödie, der ihr alle den Rücken zugewandt habt und die aufzuklären und den Schuldigen zu bestrafen ihr damals nicht für wichtig hieltet. Vielleicht waren es nicht alle, die heute Abend hier stehen, aber dann waren es eure Eltern oder andere Verwandte. Alle haben die Augen davor verschlossen, dass ein Mann ein dreizehnjähriges Mädchen vergewaltigt hat. Es hatte keinerlei Folgen für ihn, im Gegenteil. Ihr habt zugelassen, dass er euch eure Fangquoten gestohlen und ein Vermögen damit gemacht hat, dass er sich einfach nehmen konnte, was er wollte, ohne jemals für die Konsequenzen einzustehen. Aber damit ist jetzt Schluss.«
Hannah zeigt auf Ægir.
»Ægir, wenn du damals deinen Teil der Verantwortung übernommen hättest, als du Ella als junges Mädchen vergewaltigt hast, dann würden wir heute vielleicht nicht hier stehen. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können dafür sorgen, dass die Wahrheit ans Licht kommt.«
Hannah schaut zu Sigrun hinüber, die gerade ins Polizeiauto geführt wird. Ihre Blicke treffen sich, Hannah nickt Sigrun zu, die einen Moment zögert. Dann nickt sie anerkennend zurück, senkt die Schultern ein wenig und lässt sich von den Polizisten auf den Rücksitz schieben. Hannah betrachtet ein letztes Mal die Ansammlung von Leuten. Alle flüstern miteinander, schielen zu Ægir hinüber, der sie wütend anstarrt. Er ruft etwas auf Isländisch, Hannah kann über die Bedeutung nur mutmaßen, aber es ist ihr egal. Mit der Unterstützung helfender Hände steigt sie an Land und wird durch die Menge geführt, alle Blicke ruhen auf ihr; was hat sie da eigentlich gerade gesagt? Plötzlich taucht ein wütender Mann vor ihr auf, es ist Ægir. Er stürzt auf sie zu, während er in einer Mischung aus Englisch und Isländisch Flüche und Schimpfwörter ausstößt. Hannah meint, mehrere Varianten von »Schlampe« zu verstehen, fühlt sich der Konfrontation nicht gewachsen, und deshalb ist sie sehr dankbar, als Jørn sich schützend zwischen sie und den wutschäumenden Mann stellt. Es ist, als würden alle Geräusche um sie herum miteinander verschmelzen, Hannah nimmt nicht einmal wahr, was Jørn zu Ægir sagt, doch gemeinsam mit einigen anderen starken Kerlen aus dem Ort gelingt es ihm, Ægir so weit zur Seite zu drängen, dass Hannah unbehindert weitergehen kann. Sie sieht, dass Margrét zu einem Notarztwagen geführt wird, der ein Stück entfernt steht.
»Sie fahren sie direkt ins Krankenhaus, Viktor ist schon dort, und es kam die Nachricht, dass sein Zustand stabil ist.«
Hannah sieht Jørn an, der neben ihr steht. Die Versammlung ist in Auflösung begriffen, Hannah will nur noch weg. Jørn scheint das zu spüren, er zeigt auf sein gemietetes Riesenauto, zu dem Lederweste gerade Ella führt.
»Es ist noch mehr Polizei unterwegs, aber es dauert ein bisschen, bis sie hier sind. Ich habe angeboten, euch heimzufahren, wo sie euch dann verhören werden. Bald ist es vorbei.«
Hannah blickt ihn an, spürt erneut, wie ihr die Augen feucht werden.
»Thor ist wegen mir gestorben. Wenn ich nicht hergekommen wäre, hätte Sigrun ihn nicht umgebracht.«
Jørn schüttelt den Kopf, legt einen Arm um sie.
»Es ist nicht deine Schuld. In Sigruns Haus ist gerade eine weitere Polizeieinheit. Sie haben Aufzeichnungen und Pläne gefunden, die darauf hindeuten, dass sie das Ganze seit Monaten geplant und nur auf ihre Gelegenheit gewartet hat. Thor wäre in jedem Fall gestorben. Aber wenn du nicht gewesen wärst, hätten wir das alles vielleicht nie aufgeklärt. Und sie aufgehalten.«
»Sie aufgehalten?«
»Thor war nur der Erste, den sie töten wollte. Die Nächste auf der Liste war Vigdis, dann Ella, dann Ægir … Weil du dich eingemischt hast, sind sie alle am Leben. Und natürlich auch Viktor und ich … Danke.«
Hannah sieht ihn an, die Worte lindern ihre Schuldgefühle ein wenig, doch sie fühlt sich nicht wie eine Heldin. Kein bisschen. Sie dreht sich zu ihm um.
»Danke dir . Ohne dich hätten wir es auch nicht geschafft.«
Jørn lächelt.
»Wir sind ein gutes Team, du und ich.«
Hannah antwortet nicht, doch sie nickt trotzdem vage, befreit sich aus Jørns Arm und schaut zu Ella hinüber, die in einer engen Umarmung mit der weinenden Vigdis steht. Ob sie wohl die Einzige im Dorf ist, die nie etwas von der Vergangenheit ihres Mannes und ihrer Schwester geahnt hat? Hannah gibt ihnen noch einen Moment, läuft dann zu Ella hinüber und legt den Arm um sie.
»Komm, wir gehen nach Hause.«