Christliche Prägungen?

Bis zum Ende des Krieges habe ich nicht wirklich gewusst, was an die Stelle des Dritten Reiches treten sollte. Ich wusste nur, dass ich dagegen war, nicht aber, wofür. Wie sollte es weitergehen? Ich habe meine Hoffnung für die Zeit danach auf die christlichen Kirchen gesetzt. Ich verstand mich als Christ, aber das hatte sich aufgrund äußerer Einflüsse gewissermaßen von selbst ergeben. Ich wusste nichts vom Judentum, nichts vom Islam, nichts von Konfuzius, nichts von Kant und der Aufklärung. Was ich vom Kommunismus Böses gehört hatte, habe ich zwar nicht geglaubt, aber eine Diktatur des Proletariats kam mir doch unheimlich vor. Als ich 1945 nach acht Wehrpflichtjahren nach Hause kam, wurde ich 27 Jahre alt. Ich war also ein erwachsener Mann, aber ich wusste sehr wenig; ich wusste nur: Dies alles darf nie wieder geschehen. Deshalb habe ich mich alsbald für Demokratie und soziale Gerechtigkeit engagiert. Wie man aber dorthin gelangt, das wusste ich nicht.

Meine christliche Unterweisung hat nicht im Elternhaus, sondern im Konfirmationsunterricht 1934 begonnen. Dort hatte ich die wichtigsten Glaubensinhalte gelernt, aber das meiste blieb bloßer Lernstoff. Vater, Sohn und heiliger Geist, die jungfräuliche Geburt, das leere Grab und Christi Himmelfahrt, die verschiedenen Wunder, aber auch die Geschichten aus dem Alten Testament, von Kain und Abel, von Noah und seiner Arche, von Moses am Berge Sinai – all das waren für den Fünfzehnjährigen lediglich seltsame Geschichten. Ich glaubte zwar an Gott als wirklich existent, aber seine Dreieinigkeit vermochte ich mir nicht vorzustellen. Ich konnte auch nicht glauben, dass Gott seinen Sohn auf die Erde geschickt hat, um ihn dort kreuzigen zu lassen und ihn am Ende in den Himmel aufzunehmen. Wenn Jesus der Sohn Gottes war, wieso dann nicht auch alle übrigen Menschen? Ich habe mit den anderen gemeinsam gebetet, aber die Gebete blieben mir ziemlich fremd. Nur das wunderbare Vaterunser habe ich mit innerer Überzeugung gesprochen. Allerdings verstand ich wohl: Nicht nur unser Pastor, Walter Uhsadel, meint alles sehr ernst; auch viele andere meinen es ernst, wenn sie von der Bibel als einem heiligen Buch reden.

Sieben Jahre später – unsere Fahrzeuge blieben im russischen Schlamm stecken, und ich hatte bereits die unausweichliche Niederlage und die unausweichlich bevorstehende Katastrophe Deutschlands vor Augen –, eröffnete mir ein Soldat meiner Batterie, ein angehender Pastor oder Priester, mit zwei christlichen Weisheiten zum ersten Mal einen wirklichen Zugang zum Christentum. Ich hatte ihm geklagt: Wir kämpfen hier, und viele müssen sterben, aber in Wahrheit hoffen wir gar nicht auf unseren Sieg, sondern vielmehr auf ein Ende des Krieges. Wir befolgen pflichtbewusst unsere Befehle, aber in Wahrheit zweifeln wir doch an der Vernunft des Führers – wo ist der Ausweg? Jener junge Theologe hat mir mit dem Römerbrief des Apostels Paulus geantwortet: »Seid untertan der Obrigkeit … denn die Obrigkeit ist von Gott.« Und im Laufe unseres mir unvergessenen Gesprächs fiel ein anderer Satz: Vergessen Sie nicht, es geschieht nichts ohne Gottes Willen. Beide Sätze haben mich an jenem Abend beruhigt.

Freilich hat die Hilfe nicht lange angehalten. Denn konnte der Krieg wirklich Gottes Wille sein? Und wieso hatte Gott den in meinen Augen größenwahnsinnigen »Führer« als Obrigkeit geduldet? Ich war mir und bin mir auch heute darüber im Klaren, dass viele Menschen in ihrem christlichen Glauben Halt finden. Ich habe Gläubige zeit meines Lebens immer respektiert, gleich welcher Religion sie anhängen. Aber ebenso habe ich religiöse Toleranz immer für unerlässlich gehalten. Deshalb habe ich die christliche Mission gegenüber Andersgläubigen stets als Verstoß gegen die Menschlichkeit empfunden. Wenn ein Mensch in seiner Religion Halt und Geborgenheit gefunden hat, dann hat keiner das Recht, diesen Menschen von seiner Religion abzubringen.

Wenn aber ein Christ, ein Muslim, ein Hindu oder auch ein Jude seine Religion zum Vorwand für seinen Kampf um Macht, für Eroberung und Unterwerfung nimmt, oder wenn er sich einbildet, allein seine eigene Religion sei von Gott offenbart und gesegnet und deshalb sei es seine Pflicht, sie zum Sieg über andere Religionen zu führen, dann verstößt er gegen die Würde und die Freiheit des Andersgläubigen – er ist deshalb ein böser Mitmensch. Jeder Mensch muss jedem anderen Menschen seinen Glauben und seine Religion lassen. Er muss ihm auch seinen Unglauben lassen. Die Menschheit hat religiöse Toleranz nötig, deshalb hat jeder Einzelne religiöse Toleranz nötig.

Alle Religionen entstammen dem Bedürfnis des Menschen nach Orientierung an einer höheren Wahrheit. Alle heiligen Bücher sind von Menschen geschrieben. Alle religiösen Gebote, alle Dogmen, alle Traditionen und Gebräuche sind Menschenwerk. Die Deutschen bekennen sich mehrheitlich zum Christentum und zu den christlichen Kirchen. Kaum einer möchte auf Weihnachten verzichten; kaum einer möchte auf die Kirchtürme seiner Stadt verzichten, im Gegenteil: Die kriegszerstörte Dresdner Frauenkirche wurde von vielen Bürgern wieder aufgebaut, die in großer Distanz zum Christentum stehen. Trotz der seit vier Jahrhunderten fortschreitenden Aufklärung – und trotz des kommunistischen Atheismus – ist das metaphysische Bedürfnis des Menschen nach Orientierung lebendig geblieben.

Als Loki und ich mitten im Kriege heiraten wollten, haben wir eine kirchliche Trauung beschlossen. Wir waren beide dreiundzwanzig Jahre alt, die Zukunft sah düster aus. Vielleicht würden wir das Ende des Krieges gar nicht erleben, deshalb wollten wir uns aneinander binden. Aus ähnlichem Empfinden sind damals manche Kriegsehen geschlossen worden. Aber warum eine kirchliche Trauung?

Von Hause aus waren wir beide ziemlich immun gegen die Nazis. Wir haben zwar nichts von ihren schweren Verbrechen, nichts von dem fabrikmäßigen Massenmord in Auschwitz und anderwärts gewusst. Aber immerhin hatte ich begriffen: Die Nazis sind verrückt, Deutschland wird jämmerlich enden. Ich habe mir das Ende noch viel schlimmer vorgestellt, als es dann tatsächlich gekommen ist. Zurzeit von Hitlers Angriff auf die Sowjetunion war ich darüber mit einem Nennonkel in einen heftigen Streit geraten. Er war ein Freund meines Vaters, fünfundzwanzig oder dreißig Jahre älter als ich, Hauptmann der Reserve, also in gewisser Weise eine Autoritätsperson für den jungen Kriegsleutnant. Ich habe ihn angeschrien: »Das alles wird mit dem Untergang Deutschlands enden. Der neue deutsche Baustil wird Barack heißen. Aber wir können noch froh sein, wenn wir dann in Baracken und nicht in Erdlöchern leben!« Denn so habe ich mir in der Tat das Ende vorgestellt. Außerdem rechnete ich mit dem Zusammenbruch aller Moral.

In solcher Lage kann man seine Hoffnung nur auf die Kirche setzen, dachte ich, und deshalb muss man die Kirche stützen. Meine Frau teilte diese Vorstellung. So kam es zu dem Entschluss, uns kirchlich trauen zu lassen. Das war nicht als Provokation gemeint, wie einige unserer Bekannten damals meinten; wir waren auch keine Widerstandskämpfer. Unsere kirchliche Trauung war keine Hinwendung zur christlichen Religion, sie war vielmehr Ausdruck unserer Hoffnung auf die moralische Kraft der Kirche, die nach dem erwarteten bösen Ende in Deutschland wieder eine anständige Gesellschaft herstellen würde.

Heute weiß ich längst, dass diese Hoffnung allzu idealistisch und auch naiv gewesen ist. Die Kirchen konnten gar nicht leisten, was wir von ihnen erwarteten. Immerhin hatte Lokis Pastor, Richard Remé, unsere Hoffnung geteilt. Loki kam aus einer atheistischen Familie; um kirchlich getraut zu werden, bedurfte sie zunächst der Taufe. Ihr Pastor glaubte an die Schöpfungsgeschichte im Alten Testament – Loki hingegen war von Charles Darwin überzeugt. Ein halbes Jahr lang haben sie diskutiert. Pastor Remé wusste, dass er Loki nicht überzeugt hatte, aber er taufte sie gleichwohl, weil er ihr Motiv für die kirchliche Trauung verstand und anerkannte.

Nicht wenige Deutsche haben während der Nazi-Herrschaft und im Krieg an ihrem christlichen Glauben festgehalten. Einige wenige fanden aus ihrem Glauben die Kraft zum Widerstand. Einige, die von den Verbrechen wussten, wurden aus Entsetzen und Empörung darüber in ihrem Glauben noch bestärkt. Wieder andere hat ihr Gewissen in den Widerstand geführt, ohne dass sie dazu der Gewissheit eines religiösen Glaubens bedurft hätten. In den meisten Fällen dürfte die Kenntnis von den Verbrechen der Nazis Auslöser für den Entschluss zum Widerstand gewesen sein. Die Offiziere des 20. Juli 1944 hatten zunächst bei der Vorbereitung und bei der Durchführung von Hitlers Angriffskriegen unentbehrliche Dienste geleistet. Erst als ihnen seine verbrecherische Maßlosigkeit und die Unausweichlichkeit der Niederlage klar wurde, haben sie sich zum Tyrannenmord entschließen können. Die große Mehrheit der Deutschen freilich wurde wohl oder übel zu gehorsamen Befehlsempfängern. Der Obrigkeitsgehorsam war schon unter Wilhelm II. gang und gäbe – Zuckmayer hat den »Hauptmann von Köpenick« nicht erfunden! –, und so fiel es den Nazis relativ leicht, schrittweise den totalen Gehorsam einzuüben.

Heutzutage ist die Beziehung zwischen den Kirchen und den staatlichen Obrigkeiten in Deutschland weit besser und deutlich freiheitlicher beschaffen als in den meisten Phasen der deutschen Geschichte. Zum einen ist die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates weithin gesichert. Kirchliche Versuche, auf die Politik Einfluss zu nehmen oder durch Hirtenbriefe die Wähler zur Stimmabgabe für oder gegen eine Partei zu bewegen, sind im Laufe der letzten Jahrzehnte eher selten geworden – und der Erfolg solcher kirchlichen Einmischungen ist heute gering. Zum anderen sind Freiheit und Selbstbestimmung der Kirchen ohne jede Einschränkung gegeben. Die Zeiten der Bismarck’schen Pression auf die katholische Kirche oder später die nationalsozialistischen Bevormundungsversuche gegenüber den protestantischen Kirchen gehören endgültig der Vergangenheit an.

Es mag sein, dass manche Kirchenleute in Deutschland den schrittweisen Niedergang des Christentums unterschätzt haben. Jedenfalls war 1945 der christliche Glaube bei weitem nicht so fest in der Seele des Volkes verankert, dass die Kirchen in der Lage gewesen wären, eine neue, moralisch fundierte Gesellschaftsordnung ins Leben zu rufen. Das hat sich bereits im Laufe der späten vierziger Jahre deutlich gezeigt und bedeutete für mich eine empfindliche Enttäuschung meiner jugendlichen Hoffnung. Auch das Stuttgarter Schuldbekenntnis 1945 wies nicht wirksam in die Zukunft: »Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt … haben. Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden.« Tatsächlich waren für den neuen Anfang aber nicht nur die gute Absicht, sondern auch allerlei Fähigkeiten notwendig. Diese Fähigkeiten aber hatten beide Kirchen nur in kleiner Münze vorrätig.

Stattdessen kam der Neuanfang in entscheidendem Maße zunächst von einigen erfahrenen Politikern der Weimarer Zeit, von Adenauer, Heuss, Schumacher und anderen. Die Begründung einer erstmals nicht konfessionell beschränkten christlichen Partei war insofern ein politisch-taktisches Meisterstück, als es gelang, beide Kirchen und ihren Anhang an das eigene politische Lager zu binden.

Es waren allerdings weder die alten Politiker aus Weimarer Zeiten noch die neuen christlichen Demokraten, welche die Westdeutschen für die Demokratie gewannen. Was die Deutschen in den Anfängen der Bundesrepublik zunehmend für Freiheit und Demokratie und die Grundlagen des Rechtsstaates empfänglich machte, waren vielmehr der erstaunliche ökonomische Erfolg Ludwig Erhards und die amerikanische Marshall-Hilfe, die uns auf die Demokratie eingestimmt haben. Diese Wahrheit bedeutet keine Schande. Schon bei Karl Marx hatte man lesen können: Es ist das ökonomische Sein, welches das politische Bewusstsein bestimmt. Zwar enthält dieser Satz nur eine Teilwahrheit. Richtig bleibt aber, dass eine Demokratie gefährdet ist, wenn die Regierenden Wirtschaft und Arbeit nicht einigermaßen in Ordnung halten.

Ludwig Erhard war in den ersten Jahren gar nicht Mitglied der christlichen Partei, er hat lange gezögert, ihr beizutreten. Ich hatte dafür Verständnis, denn die Verquickung von Christentum und Parteipolitik war mir suspekt. Zwar hatte in meinen Augen mein Parteivorsitzender Kurt Schumacher sich geirrt, als er 1950 das Konzept der Montan-Union polemisch als katholisch, klerikal und kapitalistisch disqualifizierte. Die absichtsvolle Anlehnung einer politischen Partei an die christlichen Kirchen erschien mir jedoch als ein Rückfall ins Mittelalter. Sie barg auch die Gefahr der Diffamierung von Menschen, die anderen Parteien angehörten, als Nicht-Christen, als Menschen ohne Grundwerte und ohne Moral. Nicht wenige aus dem Lager der christlichen Parteien erlagen der Versuchung, die politischen Gegner gar als Feinde des Christentums herabzusetzen – und als Kommunisten: »Alle Wege des Sozialismus führen nach Moskau«.

Trotz all meiner Skepsis gegenüber einer ganzen Reihe christlicher Dogmen empfand ich mich auch später noch als Christ. Das Schisma zwischen Katholiken und Protestanten und ihr jahrhundertelanger theologischer Streit erschienen mir dabei vollkommen belanglos. Für mich war es wichtig, den Kontakt und das Gespräch mit erfahrenen Kirchenleuten zu pflegen, um von ihnen zu lernen; in öffentlichen Reden freilich vermied ich jede Anlehnung an die christliche Lehre. Sicherlich habe ich mehrfach gegen die letztere Regel verstoßen. 1976 habe ich in einem kleinen Buch meine im Laufe der drei Nachkriegsjahrzehnte gewonnenen Vorstellungen als Christ zusammengefasst. Dabei hielt ich allerdings auf Abstand von spezifischen Glaubensinhalten und theologischen Grundsatzfragen. Solange ich im Amt war, habe ich nur ungern in Kirchen Vorträge gehalten, aber als Privatperson habe ich mich vielen Einladungen zu kirchlichen Gremien nicht entziehen wollen. Besonders später, in den acht Jahren zwischen dem Ende meiner Kanzlerschaft und dem Ende der DDR, habe ich fast jährlich in einer ostdeutschen Kirche oder einem kirchlichen Gremium im Osten Vorträge gehalten. Meist konnte meine Bitte erfüllt werden, mir ein Pult hinzustellen, denn ich wollte nicht wie ein Prediger des Christentums von der Kanzel herab sprechen.

Meine Kontakte mit herausragenden Kirchenleuten habe ich auch nach dem Ausscheiden aus allen Ämtern aufrechterhalten. Mehrfach hatte ich das Glück, den emeritierten Wiener Kardinal Franz König zu treffen. König, der im Jahr 2004 mit 98 Jahren starb, war ein wunderbar kluger Mann, der im Laufe seines Lebens wohl immer noch gläubiger geworden ist. Als ich ihn das letzte Mal in Wien besuchte, lebte er in einem der Kirche oder einem Orden gehörenden Haus und wurde von einer Nonne betreut, die seinen Haushalt führte. Beim Abschied gab er mir die Hand und sagte: »Herr Schmidt, vergessen Sie nicht die Kraft des persönlichen Gebets!« Im gleichen Augenblick begriff ich, dass ich ihn nicht wiedersehen würde; es war das Vermächtnis eines Menschen, der wusste, er würde sterben. Ich werde das nie vergessen. Königs Mahnung zum Gebet habe ich allerdings nicht befolgt. Einige Jahre später war ich abermals in Wien und wollte sein Grab besuchen. Ich erfuhr, dass der Kardinal in einer Gruft in der Krypta des Stephansdomes beigesetzt ist. Ich stieg hinunter, und da lagen – in Nischen übereinander gestapelt – die Särge der Wiener Erzbischöfe, darunter auch Franz Königs Sarg. Mir kamen die Tränen in der Erinnerung an diesen weisen Mann – und um die Tränen zu verbergen, habe ich zu dem mich begleitenden Monsignore irgendeine burschikose Bemerkung gemacht.

Während des Vierteljahrhunderts seit Ende meiner Kanzlerschaft habe ich nicht nur das Gespräch mit Vertretern der christlichen Kirchen fortgesetzt, sondern auch mehrere gläubige Muslime, Juden und Buddhisten näher kennengelernt. Auch im Gespräch mit Freunden in China, Korea und Japan habe ich manches über andere Religionen und über mir bis dahin fremde Philosophien gelernt. Diese Bereicherung hat meine Distanz zum Christentum vergrößert, sie hat zugleich meine religiöse Toleranz entscheidend gestärkt. Gleichwohl nenne ich mich immer noch einen Christen und bleibe in der Kirche, weil sie Gegengewichte setzt gegen moralischen Verfall in unserer Gesellschaft und weil sie Halt bietet. Wir Deutschen können nicht in Frieden miteinander leben ohne die auf dem Boden des Christentums entwickelten Pflichten und Tugenden.

Die christlichen Theologen lehren uns die drei »religiösen Tugenden«: Glaube, Liebe und Hoffnung. Daneben stehen die vier »Kardinaltugenden« des Thomas von Aquin: die Tugend der Klugheit, die Tugend der Mäßigung, die Tugend der Gerechtigkeit und die Tugend der Tapferkeit. Statt Tapferkeit würden wir heute wohl eher Standfestigkeit sagen oder auch einfach von Zivilcourage sprechen. Standfestigkeit ist besonders geboten, wo es um die Verteidigung des als richtig und notwendig Erkannten geht. Keiner der beiden christlichen Tugendkataloge aber enthält Achtung und Respekt vor der Würde der einzelnen Person. Dagegen hat unser Grundgesetz die Würde des Menschen zum Grundstein unseres Staates gemacht – mit vollem Recht. Ohne die Achtung der Würde des anderen und seiner Rechte kann es weder Gerechtigkeit noch Frieden geben.

Über alle anderen Tugenden schweigt das Grundgesetz. Gleichwohl sind uns die »bürgerlichen« Tugenden bewusst, die aufgrund eines groben Missverständnisses gelegentlich als »Sekundärtugenden« bezeichnet werden. Ohne unsere persönliche Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl, ohne den Gemeinsinn, der das Gefühl für Anstand, Wahrhaftigkeit, Reinlichkeit und Ordnung einschließt, hat eine freie Gesellschaft keinen Bestand. Vor Jahrzehnten haben meine Freunde Marion Gräfin Dönhoff und Herbert Weichmann – fast wörtlich übereinstimmend – darauf hingewiesen, dass eine Gesellschaft ohne sittliche Normen sich auf Dauer gegenseitig zerfleischt. Um dies zu verhindern, haben wir die Aufgabe, den Nachwachsenden Beispiel zu geben. Und unsere Kirchen sollten uns dazu anstiften und ermutigen.

Aus dem 2008 erschienenen Band »Außer Dienst«. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Siedler Verlags, München