Grundwerte in Staat
und Gesellschaft
Vortrag vor der Katholischen Akademie
in Hamburg am 23. Mai 1976
Wenn ich mich vor dem Forum einer katholischen Akademie zu dem mir gestellten Thema »Grundwerte in Staat und Gesellschaft« äußere, so hat das nur scheinbar einen aktuellen Anlass. Die aus den Medien uns in den letzten Tagen bekannt gewordene Fülle kirchenamtlicher Äußerungen kann den Eindruck entstehen lassen, als seien die Grundwerte in unserem Staat nicht in guter Hand. Als mir die Katholische Akademie Hamburg die Möglichkeit eröffnete, mich zu diesem Thema zu äußern, war nicht vorauszusehen, dass gerade zu diesem Zeitpunkt die massierten Äußerungen der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken veröffentlicht würden.
Nun sehe ich es nicht als Sinn und Zweck dieser Rede an, nachträglich etwa zu diesen Äußerungen den Beweis zu führen, dass jener Vorwurf, nämlich die Gesetzgebung und der Staat schlechthin gefährdeten die Grundwerte, nicht zutrifft. Vielmehr nehme ich die Gelegenheit wahr, um Ihnen das Verständnis darzulegen, das meine politischen Freunde und das ich von der Notwendigkeit haben, dass die Übereinstimmung in grundsätzlichen Werthaltungen und in elementaren Normen eine unentbehrliche Bedingung für das freiheitliche und demokratische Zusammenleben in einer Gesellschaft und in einem Staat darstellt.
Das gemeinsame Gespräch über diese Fragen, das Sie mir mit dieser Veranstaltung eröffnen, scheint mir übrigens auch deshalb dringend geboten, weil der Begriff »Grundwerte« in der öffentlichen Diskussion mit sehr verschiedenen Inhalten gefüllt ist. Ein großer Teil der Kontroversen beruht auf Missverständnissen, weil die Begriffsinhalte nicht die gleichen sind. Meinungsverschiedenheiten, Widersprüche und Missverständnisse sind bei solcher Ausgangslage ziemlich zwangsläufig.
Wenn ich heute über das Problem der Grundwerte reden soll, so will ich damit nicht zu jener Diskussion Stellung nehmen, die unter dem gleichen Stichwort gegenwärtig in den großen politischen Parteien geführt wird, eine Diskussion, zu der ich vor knapp vierzehn Tagen im Deutschen Bundestag beizutragen mich bemüht habe. Ich verwende im Folgenden den Begriff »Grundwerte« vielmehr in dem Sinne, in dem er in dem amtskirchlichen Vorwurf gebraucht worden ist, die Auflösung der Grundwerte, die Auflösung ethischer Überzeugungen in unserer Gesellschaft stehe bevor.
Dieser Vorwurf wird in der jüngsten gesellschaftspolitischen Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz mit folgenden Worten umschrieben: »Nun zeigen sich gegenwärtig Verschiebungen im Wert- und Normbewusstsein unserer Gesellschaft. Viele Bürger stehen kritisch, wenn nicht ablehnend gegenüber verpflichtenden Ansprüchen des Sittengesetzes. Die personale Verantwortung des Einzelnen wird oft mit subjektiver Beliebigkeit vertauscht. Es wird üblich, soziale Konflikte und soziales Fehlverhalten immer seltener dem Einzelnen als Folge sittlich falschen Handelns anzulasten, sondern vielmehr allein als Folge einer ungerechten Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur hinzustellen.«
Diese Beschreibung, zu der ich von mir aus im Augenblick nichts zu bemerken habe, wird aber dann des Weiteren mit dem Vorwurf verbunden, der Staat trete dem Verfall der Grundwerte nicht hinreichend entgegen, ja er trage sogar zu ihrer Auflösung bei. Beispielsweise habe ich im Hirtenwort der Bayerischen Bischofskonferenz zur Landtagswahl vor zwei Jahren gelesen: »Das sittliche Bewusstsein in Lebensfragen und die Achtung der im Grundgesetz verbürgten Menschenrechte drohen zu schwinden. Die jetzige Bundespolitik tritt diesem Rückgang, soweit überhaupt, nur unzureichend entgegen; in wesentlichen Bereichen fördert sie ihn eher.«
Nicht viel anders wurde im Pastoralen Wort der Deutschen Bischöfe zur Novellierung des § 218 des Strafgesetzbuches vom 7. Mai 1976 formuliert. Dort heißt es: »Der Staat hält sich nicht mehr verpflichtet, Leben und Würde des Menschen im notwendigen Umfang auch strafrechtlich zu schützen. Diese Regelung erschüttert das Fundament unseres Rechtsstaates … Sie zerstört das sittliche Bewusstsein und macht die Gesellschaft unmenschlicher.«
Das sind schwere Vorwürfe. Ich will zunächst vorweg vier Gedanken dazu sagen:
1. Von Staats wegen kann kein Zweifel bestehen: Es ist das Recht der Kirche, zu solcher Sorge öffentlich deutlich Stellung zu nehmen.
2. Als Christ kann ich sogar von der Kirche verlangen, dass sie dazu öffentlich und deutlich Stellung nimmt.
3. Die Wahrheit und die Rechtfertigung solcher Vorwürfe bleiben zu prüfen.
4. Die Frage ist erlaubt und dem Christen jedenfalls geboten: Was eigentlich ist in diesem Zusammenhang der Aufrechterhaltung der Grundwerte die Leistung der Kirche und warum bleibt die Leistung der Kirche bisher unzureichend?
Nun gehe ich von unserer gemeinsamen Überzeugung aus, dass sich menschliche Existenz nicht auf die Befriedigung materieller Bedürfnisse reduzieren lässt, dass vielmehr jeder Mensch auf eine Orientierung für den Sinn seines Lebens angewiesen ist, die auch den letzten Fragen standzuhalten vermag. Und ich denke, wir gehen weiter gemeinsam von der Tatsache aus, dass der Mensch nicht als Einzelner isoliert lebt und dass das Zusammenleben von Menschen Übereinstimmung in Werten und Normen, in Grundauffassungen und Grundhaltungen verlangt.
Auf solcher Grundlage schafft sich die Gesellschaft Mechanismen, die dem Ausgleich von Interessen und Spannungen und die vor allem der Ermöglichung personaler Freiheit dienen. Gemeinsamkeit der im Prozess der Geschichte gewachsenen Kultur und Gemeinsamkeit eingeübter Lebensformen machen die Homogenität einer Gesellschaft aus. Aber wir wissen aus eigener Lebenserfahrung und aus geschichtlicher Erfahrung, dass der Grad der Homogenität einer Gesellschaft durchaus verschieden groß sein kann. Wenn er klein ist oder wenn die Übereinstimmung in elementaren Grundwerten und Grundauffassungen fehlt, dann sind Freiheit und Würde des Menschen gefährdet.
Eine Gesellschaft, in welcher der Konsens über elementare Grundwerte verloren gegangen ist, treibt auf Anarchie zu – es sei denn, sie träte die Konsensbildung an einen total reglementierenden Staat, an einen Obrigkeitsstaat, an eine Diktatur ab. Mit anderen Worten: Wenn die im einzelnen Menschen vorausgesetzten sittlichen Kräfte zur Regulierung seiner Freiheit fortfallen, wenn die »inneren Regulierungskräfte« der Gesellschaft ausbleiben, dann tritt eine Außenlenkung in Form von Zwang und Reglementierung an deren Stelle.
In unserer Gesellschaft – in der konkreten Situation unseres Staates und unseres Grundgesetzes – wird, so nehmen wir sicherlich alle als gegeben an, eine Vielzahl von weltanschaulichen Begründungen angeboten. Das ist ja auch der Wille des Grundgesetzes. Anders als in einer Gesellschaft mit einheitlicher Sinnorientierung – wie etwa im Mittelalter – kann es in einer pluralistischen Gesellschaft – zu der wir uns ja bekennen – keine volle Identität der Werthaltungen aller Beteiligten geben. Die Bejahung der demokratischen Verfassung bedeutet geradezu den prinzipiellen Verzicht auf Totalkonsens.
Andererseits kann auch die Demokratie keineswegs ohne Grundwertekonsens die Würde des Menschen bewahren. Zu dem Minimalkonsens der Demokratie gehört unerlässlich die Anerkennung des unabstimmbaren Bereiches der letzten Fragen; das sind Fragen, über die ein Parlament nicht abstimmen darf, von denen es wissen muss, dass es über sie nicht zu befinden hat, über die auch Mehrheitsentscheidungen nicht zulässig sind.
Ich gehe also davon aus, dass zu jedem gedeihlichen Zusammenleben in einer politisch geeinten und organisierten Gesellschaft ein weitgehender Konsens über Grundwerte gehört. Es fragt sich, was in einem demokratisch verfassten Staat den Minimalkonsens ausmacht und begründet; und es wäre gut, wir hätten mehr als nur ein Minimum an Übereinstimmung. Es fragt sich weiter, woher eigentlich der Staat die Grundwerte bezieht, auf denen er ruht und die seine Funktionsfähigkeit gewährleisten.
Für unseren Staat, für die Bundesrepublik Deutschland, beantwortet sich die Frage nach den Grundlagen des Staates aus dem Grundgesetz. Das Grundgesetz enthält Leitprinzipien für die Gestaltung unserer verfassungsmäßigen Ordnung. Sie sind an einigen Stellen, zum Beispiel in der Präambel, vornehmlich aber in den Artikeln 1 und 20 niedergelegt, die dann in Artikel 79 noch mit einer Bestandsgarantie ausgestattet sind.
Es war die geschichtliche Erfahrung, die die Väter des Grundgesetzes zu der Erkenntnis, zu der Einsicht geführt hat, dass die Würde des Menschen nicht zur Verfügung stehen darf. Deshalb ist in Artikel 1 des Grundgesetzes die Unantastbarkeit der Menschenwürde festgestellt und zugleich aller staatlichen Gewalt die Verpflichtung auferlegt, die Unantastbarkeit der Menschenwürde zu achten und zu schützen. Zugleich bekennt sich dieser erste Artikel unseres Grundgesetzes zur Unverletzlichkeit und zur Unveräußerlichkeit der Menschenrechte »als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit«.
Damit ist dem Staat und allen Personen und Institutionen, die für ihn handeln, zugleich Maßstab und Schranke für staatliches Handeln gesetzt. Es wäre gewiss falsch, aus diesem Artikel 1 schon detaillierte Handlungsanweisungen für die Lösung aller tatsächlich auftretenden Fragen zu folgern. Denn er sagt den Instanzen des Staates eben nicht, an welchem Ort, mit welchen Mitteln, zu welchen Lasten oder unter Inkaufnahme welcher Risiken der Staat die Würde des Menschen zu schützen hat. Artikel 1 lässt nicht für jeden konkreten Fall einen Schluss darüber zu, dass sich staatliches Handeln nur in einer bestimmten Richtung zu entfalten habe.
Sodann ist für unseren Staat vor allem das Bekenntnis zum demokratischen und sozialen Rechtsstaat konstituierend, wie es in Artikel 20 des Grundgesetzes dargestellt ist. Dieser Staat ist angelegt auf die Sicherung des eigenen Freiheitsbereichs für seine Bürger, eines Freiheitsbereichs, der frei von staatlichem Eingriff dem Einzelnen seine freie Entfaltung ermöglicht.
Nun sind die Grundlagen der rechtsstaatlichen Ordnung im Grundrechtskatalog der auf Artikel 1 folgenden Verfassungsartikel verbrieft. Diese Grundrechte sind Abwehrrechte, die den Freiheitsraum der Person schützen; zugleich ermöglichen sie die soziale Entfaltung der Person. Es ist falsch, diese Grundrechte mit transzendent orientierten, mit religiösen oder sittlichen Grundwerten gleichzusetzen. Das ist durchaus nicht dasselbe, sondern es sind ganz verschiedene Dinge, über deren Unterschiedlichkeit und deren Spannungsverhältnis zueinander ich zu reden habe.
Die Grundrechte unseres Grundgesetzes enthalten keine Garantie, keine Gewährleistung ganz bestimmter Auffassungen, Überzeugungen, Werthaltungen oder eines ganz bestimmten Glaubens oder Bekenntnisses. Wohl aber eröffnen sie die Freiheit, Auffassungen, Überzeugungen, Glauben zu haben, dafür einzutreten und dementsprechend zu handeln. Anders ausgedrückt: Mit der Gewährleistung der Grundrechte für den einzelnen Menschen, auch für Gruppen, eröffnet das Grundgesetz die Möglichkeit, Grundwerte zu verwirklichen. Das ist für mich ein Angelpunkt der Argumentationskette, die ich vor Ihnen ausbreiten möchte.
Diese Wirkung der Grundrechte möchte ich Ihnen am Beispiel der Glaubensfreiheit darlegen, die in Artikel 4 des Grundgesetzes garantiert ist. Hier wird dem einzelnen Bürger nicht nur die Freiheit garantiert, einen religiösen Glauben, eine Weltanschauung zu haben, sondern es wird ihm auch die Freiheit garantiert, diese nicht zu haben. Trotz Garantie der Religionsfreiheit kann daher Religion absterben, wenn etwa in den Menschen die religiösen Überzeugungen, der Glaube absterben. Es ist nicht Sache des Grundgesetzes, dort einzugreifen. Sache des Grundgesetzes, des Grundrechts auf Religionsfreiheit ist es, den freien Raum zu schaffen, in dem die Menschen denken, sprechen, hören, handeln dürfen und sollen.
Umgekehrt folgt aus dieser Freiheitsgarantie gegenüber der Person, dass der Staat sich religiös und weltanschaulich neutral zu verhalten hat. Dieser Staat kann sich eben nicht mit bestimmten Religionen, mit religiös bestimmten ethischen Überzeugungen, mit Bekenntnissen identifizieren. Ein Staat, der jede religiöse Betätigung garantiert, der eine Vielfalt religiöser und ethischer Grundhaltungen ermöglichen soll, darf keine bestimmte Wertordnung unter Ausschluss anderer Wertordnungen zur allein verbindlichen erklären. Das will er auch nicht, denn eine solche Bevorzugung würde dem Leitprinzip des demokratischen Staates, zu dem sich das Grundgesetz in Artikel 20 bekennt, zuwiderlaufen.
Beim Erlass von Gesetzen, bei jeder Regierungstätigkeit sind die Organe und die handelnden Diener des demokratischen Staates notwendigerweise von den sittlichen Grundhaltungen bestimmt, die in der Gesellschaft lebendig und wirksam sind. Sie wirken auf sie als einzelne Menschen, die am Prozess der politischen Willensbildung teilhaben. (Ich füge hinzu: Bitte denken Sie immer an die Personen, die im Staat und für den Staat handeln – dazu gehören die Minister genauso wie die Politiker der Opposition, dazu gehören ebenso die Richter und die Beamten –, und denken Sie nicht von »dem Staat« als Abstraktum so, als ob er ein handelndes Subjekt sei; das ist eine Auffassung des 19. Jahrhunderts.) So fließen über Mehrheitsentscheidungen die sittlichen Grundhaltungen, die in der Gesellschaft existent sind, in den Prozess der politischen Willensbildung ein.
Der demokratische Staat, der auf Zustimmung durch seine Bürger angewiesen ist und den die Bürger mittels des Wahlaktes, aber nicht nur damit, auch verändern können, kann sich nicht auf längere Zeit in Distanz halten zu dem Meinungsbildungsprozess innerhalb der Gesellschaft. Er kann sich auch nicht auf längere Zeit in Distanz halten zu den Meinungen über den Inhalt von Grundwerten und ihre Rangordnung.
Der demokratische Staat hat die Werthaltungen und die sittlichen Grundhaltungen nicht geschaffen. Er findet sie vielmehr in den Einzelnen und in der Gesellschaft vor, und er muss bei seinem Handeln dort anknüpfen. Das heißt, der freiheitliche Staat, der weltanschaulich neutrale, der demokratische Staat lebt von ihm vorgegebenen Werten und Werthaltungen. Er hat sie nicht geschaffen, er kann ihren Bestand nicht garantieren, ohne seine Freiheitlichkeit in Frage zu stellen.
Damit habe ich freilich die Frage nach der Herkunft der Grundwerte nicht beantwortet. Nach unserem Grundgesetz liegt die Verantwortung für Grundwerte – das heißt für lebendige, gelebte sittliche Grundauffassungen – bei der Person, bei Gemeinschaften von Personen, bei Gruppen, also innerhalb der Gesellschaft. Der Staat vermag die Regulierungskräfte innerhalb der Gesellschaft nicht von sich aus zu erzwingen, weder mit autoritativem Gebot noch durch Mittel des Rechtszwanges. Der Staat ist insofern darauf angewiesen, dass die gesellschaftlichen Kräfte innerhalb des von ihm garantierten Freiraumes tatsächlich tätig sind. Der freiheitliche Staat geht auch insoweit – um der Aufrechterhaltung der Freiheit willen – ein Risiko ein. Seine Möglichkeiten zur Abhilfe sind sehr beschränkt, wenn die inneren, die sittlichen Regulierungskräfte in der Gesellschaft versagen.
Nun mag diese Lösung unbefriedigend erscheinen, und Sie mögen sich fragen, ob der Staat nicht doch Hilfestellung zu leisten habe. Ich müsste dann fragen, ob er sie ohne Verletzung des Neutralitätsgebotes leisten kann. Es kann durchaus Aufgabe des Staates sein, das ethosbezogene Wirken gesellschaftlicher Kräfte zu fördern.
Weil dem Staat des Grundgesetzes Grundwerte vorgegeben sind, auf denen er aufbaut, deshalb weiß sich dieser Staat – bei Strafe der eigenen Preisgabe – verpflichtet, den vorhandenen Bestand an Grundwerten, an ethischen Grundüberzeugungen und Werthaltungen zu schützen. Wie aber der Staat dabei zuwege geht, welcher Mittel er sich dabei im einzelnen Falle bedient – und das hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum § 218 StGB ganz deutlich gemacht –, das entscheidet sich im Prozess der politischen Willensbildung.
Nun sind der Staat, seine Organe und die in ihnen handelnden Personen sicher in besonderem Maße in die Verantwortung gerufen, wenn es um die Rechtsordnung in solchen Bereichen geht, in denen sittliche Grundauffassungen, in denen Grundwerte unmittelbar berührt werden. Hier ist dafür zu sorgen, dass die notwendigen Grundwerte nicht abgebaut, nicht zerstört, sondern durch die Rechtsordnung gestützt werden.
Aber mir erscheint wichtig, noch einmal ein mögliches Missverständnis abzuwehren. Die Rechtsordnung des demokratisch verfassten Staates muss sich grundsätzlich an dem tatsächlich in den Menschen vorhandenen Ethos orientieren – und zwar unabhängig davon, ob diese Orientierung allen normativen Anforderungen entspricht, die von einzelnen Personen oder Gruppen erhoben werden. Das Recht kann nur begrenzt in ein Spannungsverhältnis zum tatsächlich in der Gesellschaft vorhandenen Ethos treten. Andernfalls würde es das Rechtsbewusstsein nicht mehr treffen und würde nicht mehr akzeptiert werden. Deshalb muss die Rechtsordnung einen Wandel des tatsächlich vorhandenen Ethos berücksichtigen. Das Bedürfnis der Reform von Rechtsnormen entsteht vielfach ja gerade deshalb, weil sich das tatsächliche Ethos, so wie es in den Menschen vorhanden ist, gewandelt hat.
Im demokratischen Staat, im Prozess der demokratischen Willensbildung, der auf Mehrheitsentscheidungen angewiesen ist, muss Rechtssetzung immer auf vorhandenes Ethos gestützt sein. Der Staat des Grundgesetzes kann als Staat nicht Träger eines eigenen Ethos sein – das will und soll er auch nicht sein, das will das Grundgesetz nicht. Nur das, was in der Gesellschaft an ethischen Grundhaltungen tatsächlich vorhanden ist, kann in den Rechtssetzungsprozess eingehen, kann als Recht ausgeformt werden.
Das gilt auch für neu sich bildende sittliche Grundhaltungen. Es kann nicht die Rede davon sein, dass in unserer Gesellschaft sittliche Grundhaltungen nur abgebaut würden. Es entstehen viele neu in unserer Generation, zu unseren Lebzeiten. Ich denke nur an das in unserer Generation neu erwachte Ethos gegenüber farbigen Menschen, gegenüber Entwicklungsländern und den Menschen dort, an die sittliche Haltung, mit der wir inzwischen gelernt haben, Ausländern gegenüberzutreten. Ich denke weiter an die neu entwickelten sittlichen Haltungen gegenüber vielen sogenannten Randgruppen in unserer eigenen Gesellschaft. Das sind neue, früher so nicht vorhandene sittliche Haltungen. Die Rechtsordnung wird sie im Zuge des demokratischen Prozesses in sich aufzunehmen haben, sie hat das zum Teil schon getan.
Nun gilt das natürlich auch umgekehrt: Wenn bestimmte ethische Auffassungen in der Gesellschaft nicht mehr vorhanden sind, dann verliert das Recht seine demokratische Legitimation. Der Staat kann ein nicht mehr vorhandenes Ethos nicht zurückholen, und er kann ein nicht mehr vom Konsens der Gesellschaft getragenes Ethos nicht durch Rechtsnorm für verbindlich erklären. Hier ist der Staat an die Grenzen seiner Möglichkeiten gekommen.
Dieses Problem, dass ein nicht mehr vom Konsens getragenes Ethos nicht wieder zurückgeholt werden kann, stellt sich nicht nur für den Staat, sondern auch innerhalb der Kirche. Was für Wandel gibt es zum Beispiel innerhalb der Lehrmeinungen Ihrer Kirche! Oder schauen Sie auf die katholische Soziallehre: von »Rerum novarum« über »Quadragesimo anno« und »Mater et magistra« bis in die heutige Zeit – welch ein Wandel an Einsicht! Und wie stark haben gewandelte Einsichten zu neuen sittlichen Grundhaltungen, zum Beispiel gegenüber der Arbeiterfrage, geführt. Diese Dynamik ist sicherlich nicht im Jahre 1976 zu Ende.
Welch ein enormer Wandel – eigentlich erst gegen Mitte dieses Jahrhunderts –, dass die Amtskirche die Grundbedeutung der Demokratie nicht nur erkennt, sondern auch ihren Gliedern vermittelt! Welch ein großer Wandel durch Papst Johannes XXIII. mit dem Gebot zur Toleranz, zur Toleranz nicht aus Gleichgültigkeit dem gegenüber, was jemand anderes glaubt oder denkt, sondern der Toleranz aus Achtung vor dem Glauben und dem Denken anderer. Das sind nur Beispiele für die Entwicklung neuer sittlicher Grundhaltungen. Wo andererseits Normen oder ethische Forderungen aufgestellt werden, die vom sittlichen Bewusstsein als überzogen empfunden oder noch nicht oder nicht mehr akzeptiert werden, riskiert der Gesetzgeber seine Autorität.
Da also dem Staat des Grundgesetzes die Kompetenz fehlt, Grundüberzeugungen und Ethos zu erzwingen, kann die Zuständigkeit für die Grundwerte eben nur in der Gesellschaft liegen. Aber was ist nun »die Gesellschaft«? Dies ist ja ein ähnlicher Allerweltsbegriff wie »der Staat«; jeder versteht etwas anderes darunter.
Sicher ist es verfehlt, die Gesellschaft als einen einheitlichen, ungeteilten Träger, als eine homogene Quelle ethischer Grundüberzeugung zu sehen. »Die Gesellschaft« ist ein Inbegriff vielfältigster sozialer Beziehungen ohne einheitliches und konkret bestimmbares Subjekt. Ethische Grundüberzeugungen werden getragen und gebildet vom Einzelnen und von konkreten Gemeinschaften, in denen sich einzelne Menschen zusammenfinden. Es ist eine Vielzahl von Gemeinschaften, Institutionen, Gruppen, Schichten, Klassen mit unterschiedlichen Orientierungen, Interessen und Wirkungen, die sich in der Gesellschaft vorfinden, die miteinander die Gesellschaft bilden und die sich innerhalb dieser Gesellschaft um Einfluss bemühen.
Unter ihnen kommt nun den Kirchen für die Bewahrung und die Bildung von ethischen Grundüberzeugungen eine besondere Bedeutung zu. Woraus rechtfertigt sich diese besondere Bedeutung der Kirchen? Gewiss nicht nur aus der Bedeutung der Kirchen für die sozialen Dienste in der Gesellschaft, wenngleich das, was Caritas und Diakonie – ebenso wie Rotes Kreuz oder Arbeiterwohlfahrt – in den verschiedensten Arbeitsbereichen der Altenpflege, Behindertenhilfe, Ausländerfürsorge leisten, hohe Anerkennung verdient. Aber hier stehen die Kirchen in einer Reihe mit den Initiativen zahlreicher anderer gesellschaftlicher Kräfte. Dies allein kann ihre besondere Bedeutung also nicht rechtfertigen.
Die Kirchen unterscheidet von den neben ihnen arbeitenden Gemeinschaften und Gruppen der Gesellschaft, dass sie eine Antwort auf jene Fragen des Menschen anbieten, die ihn über seine Erfahrungswelt hinaus bewegen, die den Sinn seines Lebens betreffen, in denen der Christ sich auf Gott angewiesen weiß. Aus ihrer letzten Verankerung im transzendenten Bereich ergibt sich die besondere Aufgabe der Kirche, wenn es um Wertüberzeugungen und um Ethos in der Gesellschaft geht. Aus ihrer stetigen Rückbindung an ihren eigenen tragenden Grund, aus der Auffassung vom Sinn des menschlichen Daseins erwächst den Aussagen der Kirche ihre Verbindlichkeit.
Die Kirchen, die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften haben für die Vermittlung und das Lebendighalten der Grundwerte und sittlichen Grundhaltungen keine ausschließliche, wohl aber eine tragende Funktion. Sie leisten darin für den Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft und für den Staat einen wesentlichen Dienst: nicht durch eilfertiges Zu-Diensten-Sein gegenüber Staat oder Gesellschaft, sondern nur, wenn sie ihren eigentlichen Auftrag unverkürzt wahrnehmen – nämlich Verkündung der Glaubensbotschaft und dessen, was sich aus ihr für den Einzelnen und für die Welt ergibt.
Nun mag dem Politiker an dieser Stelle die kritische Frage gestattet sein, ob die gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen ihre Möglichkeiten und ihre Verantwortung bei der Bildung und Vermittlung der Grundwerte wirklich hinreichend wahrnehmen. Oder ganz konkret und deutlich: Wie nimmt eigentlich die katholische Kirche ihre Aufgabe und Verantwortung für die Grundwerte in der Gesellschaft wahr?
Wenn ich die Verlautbarungen aus dem Bereich der katholischen Kirche in der jüngsten Zeit richtig aufgenommen habe, so steht dort die Klage im Vordergrund, die Grundwerte seien in Gefahr; daran wird dann regelmäßig der Vorwurf angeschlossen, der Staat gebe die Grundwerte preis und stelle sie zur Disposition. Dann folgt der Appell an die Träger staatlicher Gewalt: Rettet die Grundwerte! Uns Politikern wird auf diese Weise zu verstehen gegeben, dass der Staat alle ihm zu Gebote stehenden Mittel der Rechtsordnung und der öffentlichen Gewalt einzusetzen habe, um die Grundwerte, so wie die katholischen Bischöfe sie verstehen, gegen jedermann zu verteidigen.
Ich habe aus diesem Teil der Diskussion um die Grundwerte den Eindruck gewonnen, als ob die Kirche bisweilen in verkehrter Frontstellung kämpfe. Ob ich es nun als Politiker oder als Christ sehe, ich komme immer zu dem gleichen Ergebnis, dass es zunächst die eigene Aufgabe der Kirche ist, sittliche Grundauffassungen in der Gesellschaft lebendig zu erhalten. Haben sich Aufrufe der Bischöfe und des Zentralkomitees deshalb nicht in allererster Linie in den Innenraum der Kirche, an die Katholiken zu richten? Ich bin manchmal erschreckt von dem Ruf nach dem Büttel des Staates.
Jedem von uns ist doch bewusst, dass neunzig Prozent der Bürger unseres Landes einer der beiden christlichen Kirchen angehören. Wenn nun die Kirchen gleichwohl die Gefährdung von Grundwerten zu beklagen haben, so ist das offenbar ein Zeichen dafür, dass die Kirchen mit ihrer Grundwerte-Argumentation einen sehr großen Teil dieses Kirchenvolks nicht mehr erreichen. Wenn es anders wäre, bestünde kein Grund zur Klage, und dann würde auch der politische Meinungsbildungsprozess in Parlamenten anders verlaufen.
Wenn zum Beispiel die Auffassungen der Kirchen über das Verbot des Schwangerschaftsabbruches für jene neunzig Prozent der Bürger, die Kirchensteuer zahlen – und die bisweilen für die Bedeutung der Kirchen etwas leichtfertig in Anspruch genommen werden –, noch verbindlich wären, so hätte es das ganze Problem einer Reform des § 218 StGB mit allen seinen Begleiterscheinungen wohl nicht gegeben.
Wenn jemand für diesen Zustand der Nicht-mehr-Erreichbarkeit eines großen Teils der Glieder der Kirche zur Verantwortung gezogen werden soll, wieso dann eigentlich in erster Linie der Staat und die Organe des Staates? Der Staat – das sind der Bundestag, das Bundesverfassungsgericht, die Bundesregierung – hat die Grundrechte der Menschen zu wahren. Er hat den Grundrechten Respekt und Geltung zu verschaffen. Wo es aber die Grundwerte zu wahren gilt, dort gilt: Tua res agitur! Dies ist Deine Sache – jedes Einzelnen Sache, Sache jeder Gemeinschaft, Sache der Kirche.
Der Freiraum für das Wirken der Kirchen ist nun in kaum einem anderen Lande so groß und so stark gesichert wie in der Bundesrepublik Deutschland. Ich will gar nicht von der Kirchensteuer und ihrem Einzugssystem reden. Zeigen Sie mir ein katholisches Land, in dem es das gibt, was wir hier in Deutschland haben und praktizieren! Ich will gar nicht davon sprechen, dass in allen öffentlichen Schulen der Staat den Religionsunterricht garantiert und übrigens auch finanziert. Ich will aber darauf hinweisen, dass es keinerlei staatliche Hindernisse für kirchliches Wirken in unserem Verfassungsstaat gibt. Und nur, um die immer wieder einmal aufkommenden Missverständnisse auszuschließen, füge ich hinzu: Auch meine eigene Partei, die deutsche Sozialdemokratie, hat diesen Freiraum der Kirchen nirgendwo in Frage gestellt. Sie denkt nicht im Traum daran, solches zu tun.
Angesichts dieses ungewöhnlich großen Freiraumes der Kirchen – für uns heute Lebende nicht ungewöhnlich, sondern eigentlich selbstverständlich und so gewollt, aber im Vergleich mit der deutschen Geschichte der letzten Jahrhunderte ungewöhnlich groß –, angesichts dieses ungewöhnlich großen Freiraumes der Kirchen, die ganz frei sind von staatlicher Beeinflussung oder Bevormundung, frage ich mich, wieso der Ruf nach dem Staat eigentlich so laut möglich ist. Ist der Ruf nach dem Handeln der Regierung, der Ruf nach dem Handeln des Gesetzgebers nicht in Wahrheit Ausdruck eigener Ohnmacht, eigener Beschränktheit in der kirchlichen Fähigkeit zur Vermittlung von Grundwerten? Liegt diesem Ruf nach dem Staat wirklich ein ernsthaft für richtig gehaltenes Verständnis unseres Grundgesetzes zugrunde?
Hatte nicht Papst Johannes XXIII. und hatte nicht das Zweite Vatikanische Konzil ganz andere, neue Möglichkeiten eröffnet für das Wirken der Kirche in der Gesellschaft und in die Gesellschaft hinein und gegenüber vielen Menschen, die sie nur noch schwer erreicht in der Welt von heute? Ich kann nur sagen: Unser Staat darf nicht und wird nicht an die Stelle der Kirchen treten. Er kann nicht durch Rechtsgebot Überzeugungen garantieren, welche die Kirchen ihren Gliedern, ihren Gläubigen nicht zu vermitteln vermögen.
Nun wird niemand das missverstehen. Mit dieser Weigerung, die ich für den Staat ausspreche, bestreite ich der Kirche gewiss nicht ihren Öffentlichkeitsauftrag und ihr Hüter- und Wächteramt. Im Gegenteil, ich bin von der Notwendigkeit dieses Auftrags und dieses Amtes tief überzeugt. Wenn ich vom Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen spreche, so meine ich, er richte sich nicht nur an den Kern der Gemeinde. Will aber die Kirche auch solche Menschen erreichen, die zur Transzendenz und zum Glauben keinen Zugang haben oder nicht mehr oder noch nicht haben, dann muss sich die Kirche auch solchen Menschen gegenüber verständlich machen.
Die Tatsache, dass die Vermittlung von Werten durch die Kirche viele Menschen nicht erreicht, verlangt nach besonderer Anstrengung der Kirche und aller in unserer Kirche. Letztlich liegt ja in dieser Tatsache dann die Frage nach der Kraft und nach der Ausstrahlung des Zeugnisses der Kirche. Nun mag dieses Ergebnis meiner Überlegungen manchen Zuhörer nicht befriedigen, und ich bekenne Ihnen: Für mich ist es nicht so positiv, wie ich es gerne wünschte. Aber dennoch dürfen wir die Sache der Grundwerte nicht verloren geben. Ich sehe überhaupt keinen Grund, dass einer seinen Mut in dieser Sache verlöre.
Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen – auch die, die sonntags nicht in die Kirche gehen – nach Antworten suchen und Fragen stellen. Ich finde diesen Eindruck übrigens auch in einigen Passagen der Schrift der Bischöfe über die Grundwerte und das menschliche Glück bestätigt. Ich denke, Menschen, die so fragen, sollen nicht ohne Antwort bleiben, und ich glaube, dass die Kirche aus sich heraus auch in der Lage sein sollte, ihnen Antworten zu vermitteln. Daran müssen wir Christen gemeinsam arbeiten, ganz gleich, wo unser politischer Standort sein mag. Wir müssen dies um der Grundwerte willen tun. Ich wünsche darin der Kirche und uns allen ein Leben aus der Hoffnung.