Der Christ in der politischen
Verantwortung
Rede an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau,
der Kirchlichen Hochschule der Evangelisch-Lutherischen
Kirche in Bayern, am 6. Dezember 1997
Wenn im Programm mein Vortrag als »Festvortrag« angekündigt worden ist, so muss ich Ihnen gestehen, dass ich dieses Wort mit Unbehagen gelesen habe. Denn ich bin mir sehr bewusst, dass nicht alles, was ich zu sagen beabsichtige, allen Anwesenden zusagen kann. Ich habe eine sehr nüchterne Rede im Sinn. Ich werde keine theologischen Erwägungen, keine philosophischen oder politologischen Theorien darlegen, sondern einfach meine persönlichen Erfahrungen berichten – und vielleicht die eine oder andere Schlussfolgerung auch.
Vorweg und klar an den Anfang gestellt, will ich sagen: Ich bin einer von den vielen, die sich als Christen bekennen. Aber nach diesem Bekenntnis muss ich eine weitere Vorbemerkung machen, nämlich die: Ich kann zur Begründung meines Christentums nicht viel anderes sagen, als was ich in Dutzenden Reden und Aufsätzen seit 35 Jahren, seit meiner Zeit als hamburgischer Senator zum Thema gesagt habe. Zwar habe ich manches dazugelernt, vielerlei Anregungen aufgenommen, auch wohl manche Ecken und Kanten im eigenen Denken und in der eigenen Redeweise abgeschliffen. Aber mein Christentum hat sich in all den Jahrzehnten seither nicht geändert, es hat sich auch nicht vertieft.
Eher gehöre ich heute, stärker noch als früher, zu den »Distanzierten« in der Kirche – ein Begriff, den ich dem Hamburger Universitätstheologen Professor Kroeger verdanke. Wer also zufällig früher einmal den damaligen Innensenator oder den nachmaligen Regierungschef in Bonn zum gleichen oder zu einem verwandten Thema sprechen gehört hat, der wird vom heutigen privaten Bürger kaum etwas Neues erfahren.
Ich möchte Ihnen vorweg vier persönliche Geschichten erzählen.
Die erste Geschichte ist ganz kurz. Als meine Frau und ich 1942 geheiratet haben, da hat meine Frau, die ungetauft war, sich taufen lassen, damit wir kirchlich getraut werden konnten. Denn wir meinten einerseits, dass das Ende des Krieges fürchterlich sein würde (das ist ja auch tatsächlich so eingetreten – nicht ganz so fürchterlich, wie wir beide es erwartet hatten). Und andererseits meinten wir, dass die christlichen Kirchen den Kern würden bilden müssen, von dem aus die Übriggebliebenen ein anständiges Leben neu aufbauen könnten. Dies Letztere ist nur zum Teil eingetreten.
Die zweite Geschichte hatte schon vorher, bald nach Kriegsbeginn, begonnen, aber sie reicht bis in die heutige Gegenwart. Wir haben damals, wie wohl viele andere Deutsche jener Zeit auch, das Wort des Vaterunsers ganz und gar ernst genommen, nämlich, dass Gottes Wille geschieht – also auch auf Erden – und dass sein Reich und die Kraft und die Herrlichkeit sein würden. Mit einem Wort: Wie schrecklich auch immer Nazizeit und Krieg waren, so glaubten wir uns doch Gottes Willen und Gottes Ratschluss unterworfen und fanden darin Trost.
Ich glaube auch heute noch, dass nichts auf der Welt geschehen kann gegen den Willen Gottes. Aber gleichzeitig haben wir von millionenfachem Mord gehört, von alljährlichen Kriegen, auch nach 1945 auf der ganzen Welt, wir haben gehört von Auschwitz, von Hiroshima, vom tausendfältigen Tod im Reisfeld, vom Tod in Bosnien oder in Tschetschenien. War dies, ist dies alles Gottes Wille?
Und ich selbst, der ich – gemeinsam mit Millionen deutscher Soldaten, von denen doch die allermeisten keine Nazis waren – gleichwohl geglaubt habe, dass wir unsere vaterländische Pflicht erfüllen müssten (»untertan der Obrigkeit«, wie es im Römerbrief des Paulus verlangt wird) – gemeinsam mit Millionen russischer Soldaten, von denen auch die allermeisten die Ideologie ihres Staates nicht teilten und keine Kommunisten waren, die aber gleichwohl auch ihre patriotische Pflicht glaubten erfüllen zu sollen, gemeinsam mit Millionen Soldaten auf der ganzen Welt, Millionen von Christen wie ich selbst – haben wir alle Gottes Willen erfüllt? Indem wir gegeneinander Krieg führten?
Ich habe bis heute keine Antwort auf solche Fragen gefunden. Ich habe sie auch nicht gefunden, als ich sehr viel später als Politiker abermals mit Gewalttaten und Gewaltbereitschaft konfrontiert gewesen bin, zum Beispiel angesichts der terroristischen Morde durch die sogenannte RAF, zum Beispiel auch in Gestalt der sowjetischen atomaren Raketenrüstung, die gegen Deutschland gerichtet war. Ich habe zwar oft gedacht und gehofft: »Mein Gott, lass mich das Richtige tun.« Aber zugleich habe ich gewusst, dass ich nur mit vernünftiger Abwägung und nur in stärkster Anstrengung des eigenen Verstandes und des eigenen Gewissens handeln durfte.
Lassen Sie mich eine dritte Geschichte anschließen. Sie handelt von dem ermordeten ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat. Wir kannten uns gut, und wir sind Freunde gewesen bis zu seinem Tode. Er wusste, dass er sein Leben riskierte, als er sich um des Friedens willen entschloss, nach Jerusalem zu gehen, in die Hauptstadt seiner israelischen Nachbarn, die in vier Kriegen seine Feinde gewesen waren.
Sadat hat mich etwas sehr Wichtiges gelehrt – eigentlich hätte ich es auch selbst erkennen müssen: Für ihn war klar, dass Juden und Christen und Muslime ihren Glauben aus der gleichen Wurzel empfangen haben. Alle drei berufen sich auf Abraham und dessen Nachkommen; sie stimmen im Glauben an den einen Gott überein und ebenso in vielen anderen Elementen des Glaubens. Ebenso wie das Neue Testament der Christen nimmt auch der Koran an Hunderten von Stellen die jüdische Thora – und das heißt unser Altes Testament – wieder auf und zitiert sie respektvoll. Mohammed hat ausdrücklich mit großem Respekt von den Völkern gesprochen, welche »die Schrift besitzen«, von den »Schriftbesitzern«. Er hat damit die Juden gemeint und die Christen. Und fürwahr ist für die Muslime heute noch Jesus von Nazareth ein großer Prophet – nach Mohammed der bedeutendste.
All das wissen wir zumeist überhaupt nicht. Ich habe es von Sadat gelernt und habe dann im Gespräch mit jüdischen Gelehrten und mit protestantischen und katholischen Theologen bestätigt gefunden, dass das so ist.
Und hier schließt meine vierte Geschichte an. 1987 haben mein japanischer Freund Takeo Fukuda und ich sechs hohe Priester an einen Tisch gebeten: einen jüdischen Oberrabbiner, einen katholischen Kardinal, einen lutherischen Bischof, je einen muslimischen, einen hinduistischen und einen buddhistischen höchsten Würdenträger – dazu je einen chinesischen, sprich konfuzianischen Gelehrten, einen schwarzafrikanischen und einen kommunistischen Führer aus Osteuropa sowie außerdem politische Führer, Staatsmänner aus Südamerika, aus Nordamerika, aus Westeuropa und aus Australien. Wir waren damals weniger als zwei Dutzend Frauen und Männer aus allen Erdteilen. Die meisten von uns haben sich vorher nicht gekannt. Aber wir haben sehr bald freundschaftlich miteinander über die drängenden Weltprobleme reden können. Über Frieden, über Abrüstung, über Energieversorgung, über den Schutz der Umwelt, Schutz des Klimas, auch über Weltwirtschaft, über Entwicklungspolitik, über die Übervölkerung und über Familienplanung.
Wir haben uns nach zwei Tagen auf einen gemeinsamen schriftlichen Text einigen können über das, was wir – jeder in seinem Staat, jeder in seiner Kirche oder in seiner Religionsgemeinschaft oder in seiner Weltanschauungsgemeinschaft – zukünftig als notwendig vertreten wollten. Wir haben diesen uns gemeinsam überraschenden Grad übereinstimmender Verpflichtungen auf moralische Grundwerte, auf Frieden und menschliche Wohlfahrt ohne große Mühe erreicht. In den zehn Jahren seither haben wir ähnliche Treffen zweimal wiederholt – mit den gleichen beglückenden Ergebnissen der Übereinstimmung.
Sie mögen fragen: Was haben diese vier Geschichten mit unserem Thema zu tun? Ich gebe Ihnen darauf vier Antworten.
Die letzte Geschichte will Respekt bezeugen gegen andere Religionen und andere Bekenntnisse. Sie will zeigen: Unsere unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen hindern uns nicht, zum Besten aller zusammenzuarbeiten. Denn unsere moralischen Grundwerte liegen viel näher beieinander, als einige christliche Lehrer und Oberhirten, als viele Scharfmacher oder gar die Fundamentalisten auf allen Seiten uns glauben machen wollen. Der Friede zwischen uns ist möglich! Und wir müssen ihn immer wieder neu stiften, um mit Immanuel Kant zu sprechen.
Sehr persönlich füge ich hinzu: Es dient dem Frieden zwischen den Religionen, zwischen den Religionsgemeinschaften und Kirchen nicht, wenn die eine der anderen die Gläubigen abzuwerben versucht – so gut auch immer die Absicht sein mag. Deshalb habe ich mich seit Jahrzehnten gegen die sogenannte Judenmission der christlichen Kirche gewandt; deshalb bin ich gegenüber dem Grundanliegen der Mission des Glaubens von tiefer Skepsis erfüllt. Es erscheint mir als eine sehr menschliche, eine allzumenschliche Überheblichkeit, nur ein Christ oder nur ein Muslim oder nur ein Hindu könne selig werden – und deshalb sei es nötig, Menschen anderer religiöser Zugehörigkeiten zum Christentum zu führen, das heißt sie ihrer bisherigen Religion abspenstig zu machen.
Die Geschichte, die von Sadat handelte, will zeigen: Juden und Christen und Muslime können getrost aufeinander zugehen. Sie haben nicht nur gemeinsame moralische Werte, sondern sie teilen auch wichtige Elemente ihres Glaubens und ihrer Religions- oder Glaubensgeschichte. Wir müssen diese Gemeinsamkeiten nur erst entdecken. Sie sind verdeckt. Wenn wir sie aufgedeckt haben, sollten wir sie propagieren.
Die Lehre aus der zweiten Geschichte, in der angesichts der katastrophalen Gewalttaten der letzten fünfzig Jahre von Gottes Allmacht einerseits und von unserer persönlichen Verantwortung andererseits die Rede war, ist sehr viel schwieriger zu ziehen. Ich glaube, dass wir uns aus dem Gegensatz zwischen der Ergebung in den Willen Gottes auf der einen Seite und auf der anderen Seite unserer persönlichen Verantwortung vor dem eigenen Gewissen, vor dem Gesetz, vor unseren Mitmenschen, vor Gott, dass wir uns aus diesem tiefen Dilemma nicht befreien können und dass wir es deshalb auch keineswegs versuchen sollten. Aber der Kirche und unseren Pastoren und den Mitgliedern der Gemeinde ist aufgegeben, angesichts dieses Gegensatzes, angesichts dieser Antinomie, einander seelischen Beistand und Seelsorge zu leisten.
Heutzutage in Deutschland – vor allem gegenüber der Angst, welche Menschen haben, auch gegenüber der Angst, die den Menschen künstlich von anderen gemacht wird – ist es uns aufgetragen, Beispiele der Verantwortung und der Gewissenhaftigkeit, der Barmherzigkeit und der Solidarität zu geben. Es kann nicht jeder von uns dem Beispiel von Mutter Teresa nacheifern, aber jeder von uns kann seinem Nächsten helfen. Keinerlei Zweifel an diesem oder jenem Teil der Bibel oder an diesem oder jenem Teil unseres lutherischen Glaubensbekenntnisses darf jemals eine Wahrheit verdrängen, nämlich diese: Unser Christentum ist ohne jeden Zweifel eine Religion der Nächstenliebe und des Friedens.
Die Frage nach der Lehre aus der allerersten Geschichte, in der meine Frau sich mitten in der Nazizeit taufen lässt, will ich am Schluss beantworten.
Zunächst aber dies: Wenn doch das Christentum eine Religion der Nächstenliebe ist, wieso konnten Christen dann mit gutem Gewissen in großer Zahl sogenannte Ketzer verbrennen? Wieso konnten sie in noch größeren Zahlen sogenannte Hexen verbrennen? Wieso konnten Christen mit der Bibel in der einen Hand und dem Schwert in der anderen Hand militärische Kreuzzüge unternehmen, um das Heilige Land, das heutige Israel und das heutige Palästina, zu erobern und dort Königreiche zu errichten? Wieso konnten unsere christlichen Vorväter anno 1555 zu Augsburg beschließen, dass der jeweilige Landesherr das religiöse Bekenntnis seiner Untertanen dekretieren durfte? Wieso konnten katholische wie auch evangelische Priester und Pastoren jahrhundertelang den Antisemitismus pflegen und den Islam verteufeln? Und all dies im Namen Christi? Wieso konnten christliche Spanier, Portugiesen und christliche Amerikaner andere Menschen als Sklaven kaufen und verkaufen? Wieso konnten Christen in Auschwitz Juden verbrennen? Und wieso konnten andere Christen im Zweiten Weltkrieg ganze Städte mitsamt allen Einwohnern verbrennen? Und wieso haben die deutschen Soldaten anno Wilhelmi auf ihrem Koppelschloss die Worte getragen: »Gott mit uns«?
Aus all diesen Fragen, die ich eben gestellt habe, müssen wir dieses lernen: Christen haben zu allen Zeiten grässliche Irrtümer begangen und scheußliche, fürchterliche Verbrechen begangen – vielfach sogar im Namen Christi und vielfach in der Überzeugung, rechtens zu handeln. Deswegen sollten wir heutigen Christen uns unserer Christlichkeit nicht allzu gewiss fühlen. Es ist nicht das Christentum, welches die Menschenrechte geschaffen hat oder – um in der Sprache des Grundgesetzes zu reden – welches die Grundrechte geschaffen hat. Von Rechten steht in der Bibel nichts, nichts im Neuen Testament, auch nichts in der Bergpredigt. Wer heute, wie ich selbst, als Christ die Demokratie bejaht, der findet dafür im Neuen Testament kein Gebot. Es ist nicht das Christentum, welches die Demokratie geschaffen hat.
Sehr vieles, nein, sogar das allermeiste von den politischen Forderungen des Tages, von den Thesen und Antithesen des politischen Getümmels, lässt sich nur mit vielerlei Verbiegungen und mit weit hergeholten gedanklichen Verbindungen als christlich begründen. Welcher Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer ist christlich? Welcher Rentenbeitrag ist christlich? Ist der Bau von Kernkraftwerken christlich? Oder ist das Verlangen nach ihrer Beseitigung christlich? Ist das Verlangen nach niedriger Staatsverschuldung christlich? Oder ist vielmehr umgekehrt das Verlangen nach allumfassender staatlicher Wohlfahrtsvorsorge ohne finanzpolitische Rücksichten ein christliches Verlangen?
Es gibt eine bedeutende christliche Moraltheologie; es gibt eine bedeutende katholische Soziallehre – gemünzt auf die Industriegesellschaften Europas; es gibt eine Theologie der Befreiung – gemünzt auf Lateinamerika; es gibt ein evangelisches Soziallexikon. Aber ist dies alles nicht in Wahrheit bloß nach-österliches Menschenwerk?
Es gibt ganz gewiss Christen in der Politik, es gibt gewiss christliche Politiker – aber dass es eine christliche Politik gäbe, daran habe ich allergrößte Zweifel. Mehr noch: Zwar gibt es antichristliche Politik, es gibt antikirchliche Politik; es gibt auch politisierende Kirchen. Aber wer könnte den Inhalt wahrhaft christlicher Politik definieren? Ich glaube, das kann keiner – weil es sie nicht geben kann.
Die Bibel kennt weder Menschenrechte noch Demokratie. Sie kennt auch kein Gebot, das Marktwirtschaft verlangt, oder gar ein Gebot, das Kapitalismus verlangt. Natürlich kann ich und will ich den von meinem Freund, dem verstorbenen Essener Kardinal Hengsbach, häufig wiederholten Satz unterschreiben, der da lautet: Die Menschen sind nicht für die Wirtschaft da, sondern die Wirtschaft ist für die Menschen da. Die Bergpredigt sagt, wir sollen gar nicht für den nächsten Tag sorgen. In Wirklichkeit und tatsächlich ist doch all unser Wirtschaften Vorsorge für den nächsten Tag.
Die Bergpredigt sagt auch, wir sollen nicht richten, auf dass wir nicht gerichtet werden. Aber tatsächlich haben wir uns Gerichte und Richter bestellt und hoffen, dass wir uns auf die Gerechtigkeit dieser Gerichte verlassen können.
Mir scheint, eine Schlussfolgerung legt sich von selbst nahe, nämlich: Weder die Bergpredigt noch überhaupt das ganze Neue Testament gibt uns klare Richtlinien dafür, wie wir unsere Gesellschaft oder unseren Staat oder wie wir die Völkergemeinschaft insgesamt einzurichten haben.
Und umgekehrt denke ich: Wer die Bibel zum Instrument seiner Politik macht oder machen möchte, der hat nur ganz, ganz selten recht. Unser Grundgesetz ist nicht aus der Bibel entstanden, sondern vielmehr aus der Anstrengung der Vernunft und der Erfahrung. Zwar steht im Vorspruch, in der Präambel zum Grundgesetz der Satz: »Im Bewusstsein vor Gott und den Menschen …« Aber nach dieser Präambel folgen in 19 Artikeln fast ausschließlich Rechte der einzelnen Personen, Grundrechte genannt. Keine Rede von Verantwortlichkeiten. Eine Pflicht ist nachträglich eingefügt worden, aber nur halb, das ist die Befugnis, Wehr- und Zivildienstpflicht einzuführen; und über eine andere Pflicht gibt es einen ganz kurzen Absatz, der leider fast keine Beachtung findet, wo es heißt: »Eigentum verpflichtet.«
Das Neue Testament hingegen kennt keine Rechte des Einzelnen, sondern es richtet Gebote an die Einzelnen (oder an die Menschheit insgesamt). Ich denke, es wäre zu begrüßen, wenn wir hier in unserem Land zum Beispiel neben die Lehre von den Grundrechten auch eine Lehre von den Grundverantwortlichkeiten und Grundpflichten setzten. Wenn unsere jungen Leute nicht nur dazu erzogen würden, Rechte zu reklamieren, Ansprüche zu erheben, sondern auch dazu erzogen würden, Pflichten anzuerkennen. Das Letztere jedenfalls wäre in der Tat christlich.
Weil nun wir Deutschen, die wir Protestanten sind und Katholiken und Juden und Freidenker und Muslime, weil wir so vielerlei verschiedenen Bekenntnissen anhängen – wenngleich Protestanten und Katholiken wohl immer noch die Mehrheit ausmachen –, scheint es mir gut, dass damals im Grundgesetz nicht versucht worden ist, einen christlichen Staat zu errichten. Im Übrigen – das mag jetzt überraschen und Befremden auslösen: Um Demokrat zu sein, muss einer nicht unbedingt Christ sein. Und kein Christ muss unbedingt Demokrat sein.
Nun ist es ja so, dass über die zwanzig Jahrhunderte seit der Geburt des Rabbi Jesus von Nazareth Schriftgelehrte und Theologen immer wieder die Heilige Schrift streitig ausgelegt haben. Sie haben ihre geschichtliche Bedingtheit untersucht, die Echtheit einzelner Briefe, einzelner Teile, sie haben versucht, die Gleichnisse des Neuen Testaments in die jeweilige Gegenwart zu übertragen, so auch heute.
Wer von Ihnen zufällig vor einigen Wochen in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« den Streit über eine versuchte Einigung zwischen Katholiken und Protestanten verfolgt hat – es geht um die Lehre von der Rechtfertigung des Menschen (über die Rechtfertigung streiten wir seit fünfhundert Jahren, seit Martin Luther) –, dem wird es vielleicht ähnlich gehen, wie es mir ergangen ist. Ich habe nämlich gedacht: Hoffentlich erreicht diese theologische Haarspalterei nicht unsere Gemeinden.
Was die Menschen in den Gemeinden heute wirklich glauben und was die Pastoren wirklich glauben, das hat jüngst ein Berliner Theologe, Klaus-Peter Jörns, durch eine weitgespannte Befragung herauszufinden sich bemüht (ich sage das ganz vorsichtig). Ein Ergebnis war: Die Religiosität ist immer noch weit verbreitet in Deutschland. Allerdings – auch dies ein wichtiges Ergebnis: Viel weniger weit verbreitet sind die in zweitausend Jahren auf unzähligen Synoden und Konzilien immer wieder umkämpften und immer wieder neu ausziselierten Glaubenssätze der vielen christlichen Kirchen.
Mir selbst ist es zu keiner Zeit anders gegangen, das muss ich Ihnen gestehen. Ich kann nicht an die Wunder in der Bibel glauben, nicht an das leere Grab. Ich glaube, Gott ist der Herr allen Geschehens. Aber mit der heiligen Dreieinigkeit von Gott und Sohn und Heiligem Geist habe ich ganz große Schwierigkeiten gehabt. Und ich bin der Frage gewärtig: Bin ich vielleicht deshalb kein Christ? Oder bin ich vielleicht nur ein ganz schlechter Christ? Und bin ich deshalb ein schlechter Politiker gewesen?
Aber muss ich wirklich glauben, dass Eva aus der Rippe des Adam geschaffen wurde? Wo ich doch weiß – wie inzwischen alle Naturwissenschaftler der ganzen Welt wissen –, dass alle heute existierenden Lebewesen entstanden sind durch biologische Evolution, durch Mutation und Selektion. Ich hätte gar keine Schwierigkeit zu sagen, die der biologischen Evolution zugrunde liegenden Prinzipien sind von Gott. Aber das ist nicht, was die Kirchen von uns verlangen, das wir glauben sollen.
Ich nenne mich gleichwohl einen Christen. Denn ich bin überzeugt von der Notwendigkeit der Moral, die das Christentum im Laufe von Jahrhunderten entfaltet hat. Ich bleibe in meiner Kirche, auch wenn sie mich bisweilen enttäuscht, ich bleibe in der Kirche, weil die Kirche Gegengewichte setzt gegen moralischen Verfall in unserer Gesellschaft, weil sie Halt bietet, den man sonst nicht besitzt.
Was den moralischen Verfall angeht: Es ist doch leider wahr, wenn vom wachsenden Missbrauch der Freiheiten die Rede ist und vom zügellosen Egoismus, der sich in unserer Gesellschaft ausbreitet. Meine verehrte Kollegin Marion Dönhoff hat recht, wenn sie sagt: »Eine entfesselte Freiheit führt zu Brutalität und Kriminalität. Jede Gesellschaft braucht Bindungen. Ohne Regeln, ohne Tradition, ohne Konsens über Verhaltensnormen kann kein Gemeinwesen bestehen.« Ich füge hinzu: Wir können nicht in Frieden miteinander leben ohne die im Christentum entwickelten Pflichten und Tugenden. Wir brauchen die vier Kardinaltugenden des Heiligen Thomas von Aquino: die Tugend der Klugheit, die Tugend des Maßes oder der Mäßigung, die Tugend der Gerechtigkeit und die Tugend der Tapferkeit. Tapferkeit – leider Gottes – ist heute besonders dann vonnöten, wenn wir für die mitbürgerlichen Tugenden, die sogenannten sekundären Tugenden, eintreten. Wenn wir eintreten für die Achtung der Würde des anderen, für die Achtung seiner Rechte, für unsere Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl, aber auch wenn wir für Anstand, für Reinlichkeit und auch für Ordnung eintreten.
Vor mehr als dreißig Jahren hat unser großer Hamburger Bürgermeister Herbert Weichmann gesagt: »Ohne sittliche Normen für das Verhältnis des Menschen gegenüber sich selbst und gegenüber dem Nachbarn müsste unsere Gesellschaft zerfallen und in gegenseitiger Zerfleischung enden.« Ich halte dieses Wort heute für genauso wahr wie jemals früher.
Damit Zerfall und Zerfleischung nicht eintreten, zu diesem Ziel haben wir alle eine Aufgabe: Wir alle müssen Beispiele geben, und die Kirche muss uns dazu ermutigen. Und damit komme ich auf die politische Verantwortung zurück. Ein Christ, der in politischer Verantwortung zu entscheiden hat, der sein politisches Handeln und sein Unterlassen zu verantworten hat, der gibt Beispiele – ob ihm dies nun bewusst oder nicht bewusst ist. (Mir war dies übrigens fast immer bewusst.) Aber gerade unbewusst kann er durchaus auch schlechte Beispiele geben.
Sie werden sich wahrscheinlich an Max Webers aus dem Jahr 1919 stammende Trilogie der Eigenschaften erinnern, die einen Politiker ausmachen: Leidenschaft, Augenmaß und Verantwortungsgefühl. Ich möchte weniger die Leidenschaft unterstreichen, mehr das Augenmaß, oder sagen wir es etwas genauer, die Urteilskraft. Am stärksten aber möchte ich das Wort vom Verantwortungsgefühl unterstreichen. Seien wir auch hier etwas genauer; ich spreche lieber vom Bewusstsein der Verantwortlichkeit, das von einem Politiker zu verlangen ist. Notabene ist das Bewusstsein seiner eigenen Verantwortlichkeit nicht nur vom politisch Handelnden zu verlangen, sondern von jedem Bürger schlechthin.
Aber Verantwortung gegenüber wem? Eine Regierung ist zunächst dem Parlament verantwortlich. Sie hat auf kritische Fragen zu antworten. Jeder Politiker hat auf kritische Fragen zu antworten. Aber selbst wenn ein Politiker sich mit Erfolg vor einer ganzen Massenversammlung verantwortet, selbst wenn er eine Massenversammlung zu voller und einmütiger Begeisterung hinreißt: Ist damit seine Verantwortung schon erledigt? Ich habe massenhaft Versammlungen und Demonstrationen erlebt, auf denen bewusste Christen als politische Redner auftraten und den Staatsbesuch eines demokratisch gewählten amerikanischen Präsidenten zum Anlass nahmen, um – gegen ihn gerichtet! – für ihre Auffassung von Friedenspolitik zu agitieren. Als aber der diktatorische sowjetische Staatschef hier war, da haben dieselben christlichen Leute gegen ihn nicht demonstriert. Zweifellos haben jene Christen beide Male geglaubt, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Aber ich selbst habe beide Male gemeint, sie werden ihrer Verantwortung nicht gerecht; denn offenkundig hatten sie nicht genug nachgedacht. Nicht ihre Vernunft, sondern ihr Sendungsbewusstsein hatte sie angetrieben. Es war ihr Engagement zur Mission des Friedens, das sie Reagan quasi als den Bösen abmalen ließ, während sie den Beelzebub im Breschnew nicht sehen wollten.
Verantwortung des Politikers heißt eben auch: Erst die eigene Vernunft anstrengen, die Folgen meines Handelns bedenken, auch die Nebenwirkungen, die Risiken und die Chancen abwägen. Dies alles verlangt nach der Urteilskraft des Politikers. Und dann muss er zuallererst sich vor seinem eigenen Gewissen verantworten. Eine Politik ohne Gewissen tendiert zum Verbrechen. Aber ein Gewissen ohne Grundwerte kann es nicht geben – auch wenn die Grundwerte nicht in jeder Minute bewusst sind. Sowenig ich erkennen kann, dass es eine einzige, eine alleinige christliche Politik geben kann, so sehr bin ich überzeugt von der Einsicht: Eine Politik, die ein Politiker nicht in seinem Gewissen geprüft und verantwortet hat, die ist gewiss unchristlich.
Ich bin beinahe am Schluss, aber ich schulde Ihnen noch die Antwort auf die erste kleine Geschichte, die nur aus drei Sätzen bestand. Meine Frau hat sich damals, 1942, als voll erwachsener Mensch schwergetan mit dem lutherischen Glaubensbekenntnis, in dem sie ja nicht aufgewachsen war. Und ich muss sagen, ich tu mich darin auch durchaus schwer. Das ist mir in all den Jahren der politischen Verantwortung so gegangen.
Aber ich habe immer das Vaterunser gebraucht, immer die Zehn Gebote; ich brauche immer wieder die Kirchenmusik und den Choral (übrigens habe ich nichts dagegen, wenn der Choral oder wenn die Kirchenmusiken in der uns unverständlichen lateinischen Sprache erklingen, dann kann mich nämlich der Zweifel am Text nicht ablenken von der Versenkung). Und ebenso habe ich immer wieder einen guten Pastor oder einen guten Bischof gebraucht.
Und oft genug habe ich seinen seelsorgerischen Beistand nötig gehabt.
Vielleicht, so denke ich, geht es manchem von Ihnen ähnlich. Was wir heute von der Volkskirche erwarten, das ist Seelsorge und Trost; auch Barmherzigkeit gegenüber dem Schwachen und dem Armen, Solidarität mit unserem kranken Nachbarn. Wir brauchen eine Lehre der Toleranz gegenüber anderen und die Lehre vom Respekt gegenüber der persönlichen Würde jeder anderen und jedes anderen.
Was wir nicht brauchen, ist kluge Dogmatik. Wir brauchen auch keine tagespolitische Theologie, wir brauchen keine selbstgerechte Besserwisserei, sondern wir brauchen das ganz schlichte Gebet zu Gott, das Vaterunser – und die Hoffnung auf sein dereinstiges Reich und seine Kraft und seine Herrlichkeit.