Religion in der Verantwortung –
eine abschließende Betrachtung
Meine Religiosität und meine Kenntnis der eigenen Religion, erst recht der anderen Weltreligionen, der großen Philosophien und philosophisch begründeten Ethiken, sind bis in die erste Nachkriegszeit nur ganz rudimentär gewesen. Solange ich später in der deutschen Politik aktiv war – das heißt bis in die frühen achtziger Jahre –, hat sich zwar mein Verständnis der christlichen Religion etwas vertieft. Ich bin aber immer Skeptiker geblieben, das heißt ein sehr distanzierter Christ. In den drei seither vergangenen Jahrzehnten sind weitere Veränderungen eingetreten. Darüber gibt der erste Text dieses Buches Auskunft – durchaus bewusst steht er unter der fragenden Überschrift »Christliche Prägungen?«
Vor allem durch vielerlei Reisen und Begegnungen habe ich seither wenigstens eine Ahnung von den Inhalten und von der Bedeutung – auch von der politischen Bedeutung – anderer Religionen gewonnen. Während bis zum Jahre 1982 die jeweilige Zuhörerschaft meiner Vorträge ausschließlich aus Bürgern der damaligen Bundesrepublik Deutschland bestand, kam nach dem Ausscheiden aus öffentlichen Ämtern eine Reihe von kirchen- und religionsrelevanten Reden auf dem Boden der damaligen DDR und vor ostdeutschen Zuhörern hinzu. Gleichzeitig konnte ich viele private Reisen in andere Kontinente unternehmen. Die dort gehaltenen Vorträge fanden vor Zuhörern statt, die ganz anderen und mir bis dahin oft fremden kulturellen Traditionen angehörten. Infolgedessen hat sich auch die Thematik meiner Vorträge verschoben; interreligiöse und außereuropäische transnationale Probleme standen fortan im Mittelpunkt.
Zugleich veränderte sich aber auch das Weltbild, das wir im Westen Deutschlands in den Jahren des Kalten Krieges gewohnt gewesen waren. Der Kalte Krieg zwischen West und Ost ging um das Jahr 1990 herum zu Ende. Die riesenhafte Volksrepublik China hatte bereits begonnen, sich nicht nur ökonomisch für weltweiten Ex- und Import zu öffnen, sondern auch für zivilisatorischen und intellektuellen Austausch. Ebenso öffneten sich jetzt die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Seit dem Beginn der neunziger Jahre hat sich eine beschleunigende Globalisierung der Technologien ergeben, ebenso der nationalen Volkswirtschaften und der Wissenschaften.
Heute leben wir in einer multipolaren Welt, deren Schwerpunkt sich deutlich vom euro-amerikanischen Westen in Richtung China, auf Ost- und Südasien insgesamt, verschiebt. Das Bewusstsein, in einer multireligiösen und zugleich multikulturellen Welt zu leben, teilt sich zunehmend Millionen von Menschen in allen Kontinenten mit. Gleichzeitig hat sich im Laufe der letzten hundert Jahre die Zahl der auf der Erde lebenden Menschen vervierfacht. Hunderte von Millionen Menschen, deren Vorfahren vor hundert Jahren noch in Hütten nebeneinander lebten, wohnen heute in Städten viele Etagen übereinander. Gleichfalls hat die Menschheit sich mit Hunderten von Millionen tödlicher Waffen aller Art ausgerüstet – einschließlich Zehntausender atomarer Waffen. Die Welt im 21. Jahrhundert unterscheidet sich deshalb grundlegend von der Welt gegen Ende des 20. Jahrhunderts und erst recht von der Welt im 19. Jahrhundert.
Noch vor Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts hat die große globale Finanzkrise seit 2007 Millionen Menschen erstmalig erkennen lassen, wie sehr wir heutzutage alle ökonomisch voneinander abhängen. Zugleich erlebt die Menschheit infolge des enormen Fortschritts der Verkehrstechnologien – sei es auf elektronischen Wegen, zur See oder im Luftverkehr – eine gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Zivilisationen, der verschiedenen Religionen und Ideologien und der verschiedenen Nationen. Diese Einflüsse sind teils kooperativ, teils konfrontativ.
Nicht nur die technologische und ökonomische Globalisierung, sondern auch die globale Über-Rüstung sollte die politischen und religiösen Führer eigentlich zu transnationaler und globaler Kooperation zwingen. Tatsächlich stecken wir aber noch in den Anfängen der globalen Zusammenarbeit. Die gegenwärtige Lage der Welt ist in der Rede, die ich 2007 in Wien gehalten habe, einigermaßen umfassend skizziert und vorhergesehen (vgl. Seite 216 ff.). Damals war die globale Finanzkrise mit all ihren schlimmen Auswirkungen noch nicht deutlich erkennbar, wohl aber musste man sie ahnen. Sie hat uns tatsächlich unmittelbar an den Rand einer globalen Depression geführt. Den Regierungen und Politikern standen jedoch weder ausreichende Theorien und Modelle für die Funktionstüchtigkeit globalisierter Wirtschaft zur Verfügung, noch ließen sie einen weitreichenden Willen zur Zusammenarbeit erkennen. Auch auf dem Gebiet der Rüstungsbegrenzung sind Wille und Fähigkeit zur Zusammenarbeit einstweilen nur in zaghaften Ansätzen vorhanden.
Die fortschreitende Verstädterung und Vermassung und die rasant fortschreitende Verbreitung und Verfügbarkeit neuer elektronischer Medien erleichtern die massenhafte Verführbarkeit von Millionen Menschen. Wo aber ökonomische, soziale oder politische Missstände massenhafte Unzufriedenheit auslösen, eröffnen sich Möglichkeiten für religiösen Fundamentalismus in einem Maße, das es im 19. und 20. Jahrhundert nicht gegeben hat. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit von lokalen und regionalen Kriegen, von Aufständen und Bürgerkriegen.
Zwar gibt es seit dem Westfälischen Frieden und seit Hugo de Groot ein verbreitetes Bewusstsein von der Existenz eines Völkerrechts, aber gleichzeitig hat die Wucht der Kriege gewaltig zugenommen. Zwar hat die Menschheit sich zunächst erfolglos 1919 durch den Genfer Völkerbund und dann 1945 erfolgreich durch die United Nations und ihren Sicherheitsrat, durch Weltbank, Weltwährungsfonds, die Welthandelsorganisation und andere Einrichtungen eine Reihe von vernünftigen und wirksamen übernationalen Steuerungsmechanismen geschaffen. Aber gleichzeitig haben die Verstöße gegen internationale Regeln zugenommen.
Es liegt jetzt zweieinhalbtausend Jahre zurück, dass Heraklit den Krieg als »Vater aller Dinge« bezeichnet hat. Ein Jahrtausend später hat der Kirchenvater Augustinus die Lehre vom »gerechten Krieg« aufgestellt. Seit einem Jahrhundert gibt es dank der Haager Konventionen sogar ein einvernehmliches »Recht im Kriege«. Gleichwohl haben die Kriege des 20. Jahrhunderts weit mehr als einhundert Millionen Tote gekostet. Und heute besteht an vielen Orten der Welt die Gefahr, dass Waffen in großer Zahl und dass auch atomare Waffen in die Hände von religiösen und ideologischen Fundamentalisten und Terroristen geraten – und dass diese davon Gebrauch machen.
Der von Samuel Huntington 1993 vorhergesagte »Clash of Civilizations« ist denkbar geworden. Er ist denkbar geworden zwischen dem Islam und dem Westen als Ganzes, er ist denkbar geworden beispielsweise zwischen Israel und dem Iran, zwischen Nord- und Südkorea und denkbar auch zwischen China und den USA. Dabei kann das Verhältnis der Zivilisationen zueinander wesentlich bestimmt werden durch das Verhältnis der Religionen und Ideologien und ihrer jeweiligen Priester und politischen Führer zueinander.
Religiöse und ideologische Gefährdungen des Friedens
Kampf um Weideplätze, Kampf um Siedlungsräume, ganz allgemein Krieg: Dies sind Urphänomene der Menschheit. Für viele der alten sogenannten Naturreligionen – ob in Amerika, Europa oder Asien – war der Krieg eine selbstverständliche Kategorie. Aber auch im Alten Testament ist vielfach von Krieg die Rede, und zwar keineswegs in verurteilendem Sinne. Zum Beispiel heißt es beim Prediger Salomo ganz beiläufig: »Ein jegliches hat seine Zeit … Krieg hat seine Zeit, Frieden hat seine Zeit …« Soweit wir die Menschheitsgeschichte der letzten fünf Jahrtausende kennen, haben zwar einerseits unzählige Menschen unter Kriegen gelitten oder sind in Kriegen getötet worden. Aber andererseits hat sich das Ideal des Friedens erst spät und überdies selten in religiösen und philosophischen Lehren niedergeschlagen. Wenn ich es recht überblicke, ist es wohl am stärksten im indischen Buddhismus und im chinesischen Taoismus verankert.
Selbst da, wo Menschen geballt zusammenleben, ist der Friede keineswegs die Regel. Das Ideal des Friedens kommt nicht aus den menschlichen Genen; es stammt offenbar vor allem aus der individuell oder kollektiv erlebten Angst vor Krieg. Erst spät und nur zögerlich haben einige Religionen die Maxime des Friedens aufgenommen. Die meisten der heutigen Christen halten ihre Religion für eine Religion der Versöhnung und des Friedens, tatsächlich aber haben sich ihre christlichen Vorfahren seit bald zweitausend Jahren fast ohne Ausnahme an unendlichen Kriegen beteiligt.
Die den Frieden erstrebende Moral hat sich bis heute nicht durchgesetzt. Für mich ist dies allerdings kein Grund, das Ideal des Friedens gering zu achten oder gar aufzugeben. Allerdings bin ich weder ein Philosoph noch ein Schriftgelehrter; ich bin nur einer von sieben Milliarden Menschen, die gegenwärtig auf der Welt leben und die alle für die Bewahrung des Friedens mitverantwortlich sind. Die Bewahrung des Friedens ist in meinen Augen ein wesentliches Element des öffentlichen Wohls der Völker, der Nationen und Staaten. Zwar bekennen sich die wichtigsten Religionen der Welt heute mehr oder minder zum Prinzip des Friedens – sie entsprechen damit der sogenannten goldenen Regel: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu. In der Praxis sind die Führer der weltweit bedeutenden Religionen, Ideologien, Philosophien und Weltanschauungen auch im 20. Jahrhundert dieser Norm aber nur in geringem Maße gefolgt.
Religiosität ist dem Homo sapiens offenbar ein Grundbedürfnis. Die Glaubensbereitschaft der meisten Menschen wird auch von ihrer Vernunft nicht verdrängt. Diese Religiosität mag ein Teil unseres genetischen Erbes sein. Dagegen sind die Religionen – ob sie auf Offenbarung und heiligen Schriften oder auf Mythen, Sagen und Märchen beruhen – keineswegs genetisch vererbt, sondern durch Tradition weitergegeben und ausgebaut worden. Besonders deutlich wird die Rolle der Überlieferung im Hinduismus einschließlich seiner Kastengliederung der Gesellschaft. Ich muss bekennen, nicht verstanden zu haben, wieso man in eine der mehreren Kasten hineingeboren wird, aus der man zeitlebens nicht entkommen kann, wieso man sein ganzes Leben zum Beispiel ein Paria bleibt oder umgekehrt ein Brahmane. Offenbar hat die kulturell tradierte Autorität jahrtausendealter Texte (Veden) eine außerordentliche Bindungskraft. Der Hinduismus umfasst unterschiedliche religiöse Vorstellungen, in denen Brahma an der Spitze, aber auch Vishnu als Welterhalter und Shiva als Zerstörer durchaus verschiedene Rollen spielen. Über eine Milliarde Menschen hängen heute dem Hinduismus an, der sich durchaus mit indischem Nationalismus verbinden kann.
Auch der Buddhismus hat alte Wurzeln. Der Namensgeber Gautama Buddha lebte vor zweieinhalbtausend Jahren. In den meisten buddhistischen Strömungen wird die Ethik der Nicht-Gewalt gelehrt; aber es gibt auch buddhistisch gefärbten Nationalismus, es gibt militante buddhistische Mönche. Gemeinsam ist allen die Vorstellung, auf dem Weg über unzählige Wiedergeburten zum Nirwana zu gelangen. Auch der Buddhismus hat sich zu einer Weltreligion entwickelt; er umfasst viele Völker im östlichen Asien.
Ähnliches gilt für den um ein Jahrtausend jüngeren Islam. Wie der Buddhismus hat auch er kein verbindliches Konzept für den Staat und seine Verfassung. Die Ulama und die Imame (die Schriftgelehrten) sind für die Auslegung von Koran, Sunna und Scharia (= Gottesrecht) zuständig, aber es gibt keine einer Kirche vergleichbare Institution. Vielmehr soll der Kalif oder der Sultan oder der König zugleich politisches und geistliches Oberhaupt sein – wenn auch auf Beratung angewiesen. In der Praxis hat sich der Islam politisch als durchaus wandlungs- und anpassungsfähig erwiesen. Von den knapp zweihundert heutigen Staaten auf der Welt ist etwa ein Viertel islamisch geprägt; fast alle sind Monarchien oder Präsidialregime, keiner ist liberal, fast keiner ist religionsneutral. Der seit den zwanziger Jahren in der Türkei durch Kemal Atatürk unternommene Versuch der Säkularisierung der muslimischen Türken befindet sich auf dem Rückzug; er scheint die arabischen Staaten kaum beeinflusst zu haben.
Auch das Christentum enthält ursprünglich und mindestens über die ersten tausend Jahre seiner Entfaltung kein Konzept für Staat und Gesellschaft. Seit Augustinus gilt die Zweiteilung zwischen dem weltlichen Reich und dem Reich Gottes. Viele Theologen – so auch Martin Luther – haben sich an der Ausarbeitung der Zwei-Reiche-Lehre beteiligt. Zwar haben Päpste und Kaiser um die Suprematie gekämpft; aber keine Seite hat die für die heutigen westlichen Staaten konstitutiven Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaates entfaltet. Vielmehr sind Demokratie und Rechtsstaat Kinder der Aufklärung der letzten vierhundert Jahre, die im Kampf sowohl mit der Kirche als auch mit den Monarchien in Europa durchgesetzt und dann nach Nordamerika und in andere Teile der Welt übertragen wurden. Auch das Prinzip des Friedens ist erstmals durch die Aufklärung postuliert worden.
Trotz seiner starken Einflüsse auf Christentum und Islam ist das heutige Judentum keine Weltreligion; wohl aber ist es fast über die ganze Welt verstreut. In Israel hat die jüdische Religion Staats- und Gesellschaftsvorstellungen entwickelt. Aber auch in Israel spielt das Prinzip des Friedens eine lediglich theoretische Rolle.
Fast alle Religionen geben sich heutzutage friedlich gesinnt. Aber in der Praxis waren und sind bis heute viele ihrer Führer und ihrer Priester – und ebenso viele ihrer Anhänger – possessiv, expansiv und sogar aggressiv. Alle Weltreligionen haben sich im Laufe ihrer Geschichte in vielfältige Strömungen und Schulen, Bekenntnisse und Sekten aufgespalten. Oft bekämpfen sie sich gegenseitig. Und sowohl manche politische als auch manche religiöse Führer missbrauchen die Religion ihrer Anhänger für ihre machtpolitischen Zwecke.
Dies gilt ebenso für viele der politischen Führer, die sich auf Ideologien und Weltanschauungen berufen, die in großer Zahl neben den Weltreligionen stehen und sich zum Teil mit ihnen vermischt haben. Auch die großen Ideologien haben sich, ähnlich wie die Weltreligionen, sektenartig aufgespalten; diese Sekten sind in unterschiedlichem Maße gleichfalls expansiv bis aggressiv (und in Einzelfällen sogar terroristisch-aggressiv).
Seit Jahrtausenden sind Monarchie, Diktatur und Tyrannis ein wesentliches Element der Menschheitsgeschichte. Lange Zeit hat es dafür keine gemeinsame Ideologie gegeben; für uns Heutige wurde sie wohl zuerst durch Niccolo Machiavelli und Thomas Hobbes formuliert. Fast überall war das Prinzip der Ein-Mann-Herrschaft verbunden mit dem Prinzip der Erblichkeit; im alten Ägypten, in China und in Europa sind deshalb gleicherweise Dynastien (Herrscherfamilien) entstanden. Fast überall auf der Welt waren diese Dynastien expansiv, die meisten waren aggressiv. Wo die Alleinherrschaft mit einer erblichen, oligarchischen Aristokratie verbunden war, hat diese sich fast überall der Oberhoheit des Monarchen unterworfen und dessen expansive Politik unterstützt.
Seit dem Tode Mao Zedongs ist der Konfuzianismus wieder ins Bewusstsein der öffentlichen Meinung der Welt zurückgekehrt. Konfuzius und sein Nachfolger Mencius lebten vor weit mehr als zweitausend Jahren; der Siegeszug des Konfuzianismus begann etwa um 200 vor Christus (damals begannen auch die schriftlichen Beamtenprüfungen). In gewisser Weise vergleichbar dem Islam lehrt der Konfuzianismus die Einheit von Staat und philosophischer Lehre. Dabei erwies er sich durchaus tolerant gegenüber den verschiedenen Volksreligionen und insbesondere gegenüber der in China herkömmlichen Ahnenverehrung. Der Konfuzianismus hat jedoch nur wenige religiöse Elemente in sich aufgenommen; deshalb erscheint er mir nicht als eine Weltreligion, sondern als eine für die Welt bedeutende Philosophie, eine »Weltideologie«. Die Lehre des Konfuzianismus besteht im Wesentlichen aus ethischen Postulaten – das heißt aus Pflichten der Einzelnen. Selbst für den über die hierarchisch geordnete Gesellschaft totalitär herrschenden Kaiser gibt es Pflichten. Wenn der Kaiser seine Pflichten nicht erfüllt, kann »der Himmel« ihm »sein Mandat entziehen«. Die Vorstellung des Himmels bleibt dabei ebenso unklar wie das Verfahren, welches dem Kaiser sein Mandat entzieht; es könnte sein, dass das Volk die Depossedierung des Kaisers herbeiführt.
Gleichzeitig mit dem Konfuzianismus entstand durch Lao-Tse die weitgehend entgegengesetzte Lehre des Taoismus. Dieser fordert den Rückzug des Einzelnen aus der Gesellschaft. In der chinesischen Geschichte hat es immer wieder taoistische Aufstände gegeben. Neben dem Taoismus haben auch Buddhismus, später Christentum und Islam Einfluss auf die chinesische Zivilisation ausgeübt. Der Konfuzianismus hat diese Religionen weitgehend toleriert – so wie es heutzutage auch die Kommunistische Partei Chinas tut.
Die KPC hatte sich zwar seit den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts die Zerschlagung des Konfuzianismus zur Aufgabe gemacht, der Höhepunkt war Mao Zedongs ekelhafte »proletarische Kulturrevolution« in den sechziger und siebziger Jahren. Unter der Führung von Deng Xiaoping konnte diese Barbarei nach Maos Tod jedoch beendet werden. Heute ist der Konfuzianismus wieder zu Ehren gekommen, nicht nur seine wissenschaftlichen, auch seine gesellschaftlichen Traditionen spielen im heutigen China eine große und noch zunehmende Rolle. Es muss jedoch hervorgehoben werden, dass auch der Konfuzianismus kein demokratisches Element enthält. Die Demokratie hat in der chinesischen Geschichte nur vereinzelte, ganz kleine Wurzeln.
Mit der Industrialisierung in Europa, in Nordamerika und in Japan hat sich neben den Religionen und Philosophien die Weltideologie des Kapitalismus entfaltet, im Laufe des 20. Jahrhunderts besonders ausgeprägt in England und vor allem in den USA. Ähnlich wie alle Weltreligionen und Weltideologien hat der Kapitalismus zahlreiche Sonderformen und besondere Lehren entwickelt. Vielerorts hat er sich mit nationalistischen und imperialistischen Bestrebungen verbunden. Der europäische Kolonialismus in Asien, Afrika und Amerika war eine besonders aggressive Form der kapitalistischen Ideologie.
Die theoretischen Grundlagen des Kapitalismus stammten zunächst aus England (Adam Smith, David Ricardo und andere); Vorläufer war der französische Colbertismus. Der Versuch einer von der Obrigkeit garantierten Wettbewerbsordnung (zum Beispiel in Gestalt des deutschen Ordoliberalismus oder – viel bedeutender – durch internationale Institutionen wie Weltwährungsfonds, Weltbank und Welthandelsorganisation) hat die Entartungen des Kapitalismus zu Marktradikalismus und Raubtierkapitalismus bisher nicht verhindern können.
Zweifellos handelt es sich beim Kapitalismus um eine expansive Ideologie; sie enthält keine positive Vorstellung vom Staat oder von der politischen Führung, wohl aber versucht der Kapitalismus allenthalben, sich den vorhandenen Staat und dessen Organe nutzbar zu machen. Der Kapitalismus umfasst weder das Prinzip der Demokratie noch das Prinzip des Friedens, auch das Prinzip des Verfassungsstaates spielt eine marginale Rolle; wichtig erscheint im Kapitalismus nur die Rechtssicherheit zwecks Sicherung des Privateigentums.
Ein Jahrhundert nach der Ideologie des Kapitalismus entstand als Gegenpol der Marxismus (und der Kommunismus). Auch Marxismus und Kommunismus haben nicht nur theoretisch, sondern ebenso in der Praxis vielerlei Sonderformen entwickelt. Keine dieser Sonderformen enthält demokratische und rechtsstaatliche Elemente oder das Ideal des Friedens (darin liegt der kardinale Gegensatz zu den sozialdemokratischen Parteien in Europa). Das utopische Ideal der »Diktatur des Proletariats« ist überall schnell geschrumpft zur Diktatur durch die kommunistische Partei und deren Führer. Zugleich hat der Kommunismus starke expansive und aggressive Kräfte entwickelt – bis hin zum Imperialismus der kommunistischen Sowjetunion. Allerdings haben Marxismus und Kommunismus keine funktionstüchtige ökonomische Theorie entwickeln können; es kam fast überall zu staatlicher Zwangswirtschaft. Besonders wegen seines Unvermögens, die schnell fortschreitende Industrialisierung bei gleichzeitig schnell wachsender Bevölkerung zu einer sozial einigermaßen befriedigenden und befriedenden Ordnung zu führen, ist gegen Ende des 20. Jahrhunderts der Kommunismus fast überall gescheitert. Vom Marxismus bleiben lediglich einige seiner soziologischen und ökonomischen Analysen gültig. China hält zwar trotz der phänomenalen Wandlung seit Deng Xiaoping an der Bezeichnung Kommunismus und einigen seiner Traditionen fest; dennoch haben wir es hier mit einer schnellen Anpassung an westliche Wirtschafts- und Gesellschaftsformen zu tun, bei gleichzeitiger Wiederaufnahme konfuzianischer kultureller Traditionen.
Zunächst in England, in Frankreich, in Holland, dann übergreifend auf andere Teile Europas und vor allem auf die Vereinigten Staaten von Amerika, haben sich im Laufe der letzten drei Jahrhunderte die Ideale der Menschenrechte, die Prinzipien des Verfassungs- und Rechtsstaates und der Demokratie entwickelt. Die Demokratie ist zu einer Weltideologie geworden. Sie hat in der Praxis weitgehend zu einer politischen Mitwirkung der Regierten geführt. Sie können durch geheime Wahl ihre Regierenden auswechseln. Nicht nur die Regierungen, auch die Staatsoberhäupter werden regelmäßig gewählt. Natürlich gibt es auch hier vielerlei Sonderformen. Einige Staaten haben sich zu Präsidialdemokratien entwickelt (manche darunter sind freilich zur Ein-Mann-Herrschaft entartet), andere – vornehmlich in Europa – haben sich zu parlamentarischen Demokratien entwickelt. Es gibt Mischformen – an erster Stelle sind hier die USA zu nennen –, und natürlich gibt es überall auch vielerlei Formen des Missbrauchs. Auch für die Demokratie gilt, dass sie sich in der Geschichte als expansiv und aggressiv erwiesen hat – schon Perikles und die Athener haben ganz selbstverständlich Krieg geführt. Und ebenso wurde auch der aggressive englische oder der holländische Kolonialismus von Demokraten vorangetrieben.
Gleichwohl sehen wir Europäer heute die parlamentarische Demokratie trotz all ihrer Schwächen als die beste Form von Gesellschaft und Staat an – nämlich im Vergleich mit allen anderen religiös oder ideologisch begründeten Herrschaftsformen. Man kann in Europa und auf beiden amerikanischen Kontinenten heute von einem Siegeszug der Demokratie sprechen. Allerdings bleibt offen, ob dieser Sieg von Dauer sein wird.
Im Gegensatz zu dem großen Erfolg der demokratischen Werte sind das Ideal des Friedens und das Ideal der Menschenrechte einstweilen von vergleichsweise geringer Wirksamkeit. Manche der demokratischen Staatsverfassungen enthalten zwar das Prinzip der gleichen Rechte für alle Staatsbürger, die gesellschaftliche und staatliche Praxis jedoch bleiben vielfach weit dahinter zurück. Dies gilt auch für die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen. Aber diese Tatsache darf kein Anlass zur Resignation sein.
Respekt und Kooperation
Viele der in diesem Buch versammelten Reden und Aufsätze gehen von den in der Geschichte immer wiederkehrenden Konflikten und Kriegen aus. Zugleich bin ich mir darüber im Klaren, dass Religionen nicht nur aus Heilsversprechungen bestehen, sondern dass sie vielfach auch Ethiken enthalten, Verhaltensvorschriften für den Einzelnen und für das Zusammenleben aller. Sie haben sich mit Symbolen versehen, mit althergebrachten Mythen, Legenden und Sagen verbunden und fast alle ihre eigenen Rituale – in Form von Gebeten oder Kontemplation oder Musik – entfaltet. Fast alle Religionen kennen Gegenspieler, Gegner und Feinde, fast alle enthalten die Gegenüberstellung von Gut und Böse oder von Gott und Teufel (im Christentum insbesondere in der Offenbarung des Johannes). Die Angst vor dem personifizierten Bösen ist vielfältig – zu Zarathustras Zeiten stand Ahura Mazdah gegen Angra Mainyu.
In vielen Fällen haben die Religionen ideologische Elemente in sich aufgenommen. So geht keineswegs alles, was heute zum Christentum gehört, auf die beiden Testamente der Bibel oder auf Jesus von Nazareth zurück. Keineswegs alles, was heute im Konfuzianismus gilt, geht auf Konfuzius oder Mencius zurück. Manches, was heute unter den Muslimen als gültig angesehen wird, entstammt weniger dem Koran, der Sunna oder der Scharia als vielmehr philosophischen, theologischen und rechtsgelehrten Ideologien späterer Zeiten. Umgekehrt haben sich Anhänger des Kapitalismus gelegentlich an christliche Glaubensüberzeugungen angelehnt, und der Kommunismus, der zwar jegliche Religion leugnet, hat gleichwohl selbst Heilsgewissheit propagiert (»Die Internationale erkämpft das Menschenrecht«).
Meine flüchtigen Berührungen mit anderen Religionen und Philosophien haben mich veranlasst, über Buddha nachzudenken, über Sokrates, über Mohammed und Spinoza. Ich muss bekennen, dass mich am stärksten die vernunftbegründete Ethik Immanuel Kants beeindruckt hat, vor allem seine späte Schrift über den »ewigen Frieden« und seine Definition der Aufklärung, die er als »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« pries (wobei ich hinsichtlich des Adjektivs »selbstverschuldet« einige Zweifel habe). Ich habe verstanden, dass sich unter dem Sammelbegriff Religionen höchst komplexe »Zivilisationen« herausgebildet haben (ich bevorzuge den im Angelsächsischen gebräuchlichen Begriff »civilization«, weil er im Gegensatz zu dem im Deutschen gern verwendeten Begriff »Kultur« die Betonung nicht auf Kunst und Wissenschaft legt, sondern allgemeiner gefasst und zugleich weniger vieldeutig ist).
Die meisten Religionen sind auch heute noch in einem fortwährenden Entfaltungsprozess begriffen. Dabei spielt das jeweilige Nationenbewusstsein eine zunehmend wichtige Rolle. Nationenbewusstsein kann beruhen auf gemeinsamer Sprache, gemeinsamen geschichtlichen Erinnerungen, gemeinsamen Interpretationen der eigenen Geschichte, gemeinsamen Gebräuchen und Sitten (einschließlich der ökonomischen Verfassung), einem gemeinsamen Staat und, vor allem, auf der Langzeitwirkung einer gemeinsamen Religion.
Religionen und Ideologien überlagern in vielfältiger Weise das Nationenbewusstsein; sie können es verdrängen, sie können auch seine Entstehung verhindern. Dies gilt zum Beispiel für die meisten Muslime auf der Welt; trotz gemeinsamer Sprache und Religion gibt es bisher kein Bewusstsein einer gemeinsamen arabischen Nation. Trotz vielfältiger gemeinsamer religiöser und zivilisatorischer Wurzeln gibt es aber auch kein Bewusstsein einer europäischen Nation; man spricht mit Recht von einer europäischen Kultur, nicht aber von einer europäischen Nation. Ganz anders in China: Trotz verschiedener religiöser Wurzeln und sich widersprechender philosophischer Traditionen und trotz ungeheurer territorialer Ausdehnung des Han-Volkes haben wir es zweifellos mit einem starken chinesischen Nationenbewusstsein zu tun. Ähnlich ist die Lage in den Vereinigten Staaten: Die gemeinsame Sprache und die gemeinsame Interpretation der Geschichte, auch die bisher weitgehend gemeinsame Bejahung des Kapitalismus, haben ein starkes Nationenbewusstsein der 300 Millionen Staatsbürger herbeigeführt. Umgekehrt hat die Herrschaftsideologie des sowjetischen Kommunismus nicht das Nationenbewusstsein der unterworfenen Völker und Staaten verdrängen können – und schon gar nicht das Nationenbewusstsein der Russen.
In vielen Fällen hat der Trieb zur nationalen Expansion sich verbunden mit dem vielen Religionen eigenen Trieb zur Mission. Dies gilt immer noch für das Christentum insgesamt und für den Islam insgesamt. Der missionarische Antrieb ist auch den Ideologien der Demokratie und der Menschenrechte zu eigen. Er gilt auch für die Ideologie des (amerikanischen) Kapitalismus. Ebenso galt er für die Ideologie des untergegangenen Kommunismus.
Gleichwohl müssen die Religionen ihrerseits nicht notwendigerweise sich gegenseitig bekämpfen. In allen heute noch lebendigen Religionen besteht das Gebot des Friedens, auch im Christentum und im Islam, am stärksten wohl ausgeprägt im Buddhismus. Sie alle vertreten die gleiche goldene Regel. Ich habe das zum ersten Mal 1987 in Rom begriffen, wo wir auf Initiative meines japanischen Freundes Takeo Fukuda eine Runde von Theologen, Priestern und Politikern aus aller Welt zusammengerufen hatten. Wir konnten uns tatsächlich auf gemeinsame ethische Prinzipien verständigen. Der daraus zehn Jahre später hervorgegangene Entwurf einer »Universal Declaration of Human Responsibilities« stößt bis heute allerdings auf Widerstand; die Verfechter der Menschenrechte bemängeln, dass in unserer Erklärung nicht nur von Rechten, sondern auch von Pflichten die Rede ist.
Ich habe damals verstanden, dass wir alle aufgefordert sind, die Aufklärung im Bereich unserer eigenen Kultur fortzusetzen. Zugleich habe ich das Übel des Missionsgedankens verstanden. Wer Andersgläubigen seine eigene Religion aufdrängen will, der ruft zwangsläufig Konflikte und in manchen Fällen Kriege hervor. Wer anderen Zivilisationen die eigene Ideologie aufdrängen will, der ruft Gegnerschaft, Konflikte und Kriege hervor. Die von Hans Küng gemeinsam mit vielen anderen in die Wege geleitete Initiative, aus den Religionen ein »Weltethos« zu entwickeln, ist deshalb begrüßenswert, wenngleich ich mir keine Illusionen über den Erfolg mache.
Mir scheint am wichtigsten das im Völkerrecht geltende Gebot der Nichteinmischung von Regierungen und Staaten in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Allen Staaten und ihren Regierungen ist der Respekt gegenüber anderen Religionen, anderen Ideologien, anderen Zivilisationen und anderen Nationen geboten. Diesem Respekt sollten wir den Willen zur Toleranz und zur transnationalen Zusammenarbeit mit den Staaten anderer Zivilisationen zur Seite stellen. Gegenseitiger Respekt und der Wille zur Kooperation: Dies sind die wichtigsten Maximen für die Weltpolitik im 21. Jahrhundert.
Deutsche Verantwortung
Jedenfalls gelten diese Gebote für uns Deutsche und für unseren Staat. Es ist eine deutsche Regierung gewesen, die den zerstörerischen Zweiten Weltkrieg ausgelöst hat, es war die Ideologie des Nationalsozialismus, die Deutsche zum millionenfachen Mord führte: Deshalb sind wir Deutschen mit einer besonderen Verantwortung für die Bewahrung des Friedens beladen. Zwar sind übersteigerter Nationalismus und christlicher Antisemitismus fast überall in Europa verbreitet gewesen; aber der von Deutschen verübte Holocaust wird im geschichtlichen Gedächtnis der Welt genauso aufbewahrt bleiben wie die babylonische Gefangenschaft der Jerusalemer Juden vor einigen tausend Jahren. Deshalb sind wir Deutschen befangen, deshalb sollten unsere Politiker sich an religiösen oder politischen Auseinandersetzungen mit dem Judentum nicht beteiligen.
Wir sollten uns auch nicht einbilden, in einem christlichen Staat zu leben. Wenngleich das Christentum immer noch ein sehr starker Faktor unserer Kultur und unserer Lebensgewohnheiten ist, sollten sich unsere Politiker der Tatsache bewusst sein, dass wir in einem säkularen Staat leben. Wenn einer von uns vor Gericht oder bei Übernahme eines Amtes einen Eid schwört, stellt ihm das Grundgesetz frei, sich dabei auf die Hilfe Gottes zu berufen oder dies zu unterlassen. Wenn die Präambel des Grundgesetzes von unserer »Verantwortung vor Gott und den Menschen« spricht, so kann damit heute sowohl der Gott der Lutheraner als auch der Gott der römisch-katholischen Gläubigen gemeint sein, der Gott sowohl der schiitischen als auch der sunnitischen Muslime, sowohl der Gott der Juden als auch der »Himmel« im Sinne des Konfuzianismus. Aber das Grundgesetz verlangt keineswegs, dass ein Deutscher sich zu Gott bekennt. Im Gegenteil garantieren die Artikel 1 bis 7 sehr detailliert die »unverletzliche« Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Und diese Freiheit schließt die Freiheit ein, sich zu keiner Religion zu bekennen. So sind heute von 82 Millionen Einwohnern Deutschlands etwa 25 Millionen ohne Religionszugehörigkeit. Millionen Deutsche sind aus jener Kirche ausgetreten, der ihre Großeltern noch angehört hatten – wenngleich viele von ihnen an Gott glauben.
Die Präambel des Grundgesetzes enthält noch zwei andere grundlegende Hinweise für unsere Politiker. Sie spricht von unserem Willen, »in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen«. Dieser Satz weist auf die politischen Konsequenzen der Tatsache, dass die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts von einem tief in sich gespaltenen und verfeindeten Europa ausgegangen sind. Zwar hat sich im Laufe von mehr als tausend Jahren eine weitgehende kulturelle oder zivilisatorische Einheit großer Teile Europas entwickelt. Zwar hat vor fast sechzig Jahren in Westeuropa auch ein fortschreitender politisch-ökonomischer Integrationsprozess begonnen, in den seit 1990 auch große Teile des östlichen Mitteleuropas einbezogen sind. Aber seit dem Ende der neunziger Jahre ist – trotz geographischer Ausweitung – der Prozess ins Stocken geraten, der zu einer handlungsfähigen Einheit der Europäischen Union führen sollte. Weniger religiöse als vielmehr nationale Vorurteile, Eitelkeiten, Geltungsbedürfnisse und Egoismen, aber auch böse Erinnerungen an die Leiden früherer Generationen erweisen sich als schwierige Hindernisse. Und der für alle demokratisch geordneten Gemeinwesen typische Populismus oder Opportunismus von Politikern, die gewählt oder wiedergewählt werden wollen, erschwert die Aufgabe zusätzlich.
Hier liegt eine große Verantwortung für die deutschen Politiker. Denn sie vertreten innerhalb der Europäischen Union die größte und deshalb leistungsfähigste Volkswirtschaft. Wenn in schwierigen Situationen von den Mitgliedsstaaten ökonomische Solidarität verlangt werden muss, dann richtet sich diese Forderung nahezu zwangsläufig zuerst an Deutschland. Deutschland muss oft genug ein gutes Beispiel geben.
Sofern Deutschland aber den Anschein erweckt, in der EU die Führung zu beanspruchen, kann es von Paris bis nach Warschau und darüber hinaus schnell den Ärger und den Argwohn der anderen hervorrufen. Wenn das Tandem Paris-Berlin schlecht funktionieren sollte, wenn gar Deutschland sich isolieren sollte, so trügen wir Deutschen selbst den schwersten Schaden davon. Außerdem würde der Fortschritt der europäischen Integration wesentlich verzögert, wenn nicht sogar beendet. In einer solchen Lage würde Europa für den nicht auszuschließenden Fall weltpolitisch bedeutsamer Konflikte zwischen verschiedenen Zivilisationen und Religionen sich selbst marginalisieren. Eine mäßigende oder gar eine friedenserhaltende vermittelnde Rolle der EU wäre nicht möglich.
Eines der Gebiete, auf denen mir ein erfolgreiches Beispiel durch die Deutschen denkbar erscheint, ist die staatliche Ordnung des ökonomischen Wettbewerbs. Ein anderes Beispiel könnten wir bei der Bewältigung der Eingliederung der heute vier Millionen Zuwanderer aus muslimisch geprägten Zivilisationen geben. Freilich belastet die deutsche Geschichte der letzten Jahrhunderte gerade diesen Komplex besonders.
Nachdem der Kampf zwischen Reformation und Gegenreformation in Deutschland den durch enorme Opfer an Menschenleben gekennzeichneten Dreißigjährigen Krieg ausgelöst hatte, konnte die Aufklärung hierzulande nur spärliche Wurzeln fassen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts versuchte Leibniz, Gott trotz des Übels in der Welt zu rechtfertigen (»Theodizee«). Später propagierten Lessing und Moses Mendelssohn religiöse Toleranz. Ihnen folgten im 19. Jahrhundert Marx (»Opium des Volkes«) und Nietzsche (»Gott ist tot«). Dazwischen steht der Solitär Immanuel Kant als Vorkämpfer der Aufklärung.
Wie fast überall in Europa sind auch in Deutschland der säkulare Staat, die Demokratie und der Rechtsstaat nicht als Kinder der christlichen Religion, sondern vielmehr im Kampf mit den christlichen Kirchen und den ihnen verbundenen Obrigkeiten entstanden. Deutschland fand als einer der letzten Staaten in Europa erst nach dem Ende der Nazizeit zu diesen Werten – aber immerhin kann man sich darauf nun schon seit über sechzig Jahren verlassen.
Das Grundgesetz gilt für jedermann, der in Deutschland lebt. Daher gilt auch die Religionsfreiheit für jedermann. Deshalb reden wir von Deutschland als einem säkularen Staat. Allerdings ist die Trennung von Staat und Kirche tatsächlich nicht vollständig; denn aufgrund unserer geschichtlichen Entwicklung – einschließlich alter Staatsverträge und Konkordate und aufgrund herkömmlicher Praxis – gibt es privilegierte christliche Kirchen. Diese sind dem Staat näher als viele andere kleinere Religionsgemeinschaften. Wenn der Katalog der Normen und Werte einer Religionsgemeinschaft mit den Grundrechten des Grundgesetzes (Art. 1 bis 19) und mit den nicht änderbaren Prinzipien des Artikels 20 (Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Sozialstaat, Bundesstaat) übereinstimmt, dann sollte eigentlich für alle der gleiche Abstand vom Staat gelten. Hier liegt ein bisher ungelöstes Problem (das es übrigens in vielen europäischen Staaten in ähnlicher Form gibt).
Ein viel größeres Problem liegt jedoch in der Tatsache, dass manche der bei uns lebenden Zuwanderer (Migranten) – egal ob mit oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit – aus ihrer alten Heimat und ihrer ursprünglichen Zivilisation religiöse, rechtliche und sittliche Überzeugungen und Gewohnheiten mitbringen, die mit den in Deutschland geltenden Gesetzen kollidieren. Das grausame Strafrecht der Scharia oder die vom Vater erzwungene Verheiratung seiner Tochter gegen ihren Willen oder die Sitte der Blutrache sind, sofern sie in Deutschland ausgeübt werden, strafbare Handlungen. Außer solchen eindeutigen Verstößen gegen die in Deutschland geltenden Gesetze gibt es in fremden Zivilisationen zusätzlich mannigfaltige Sitten und Gebräuche, die, wenn sie hierzulande ausgeübt werden, Befremden und Anstoß auslösen können. Dazu gehören zum Beispiel die Traditionen des Kopftuches und der Burka. Wenn die Einwohner einer Stadt daran keinen Anstoß nehmen, muss daraus kein Streit entstehen. Sofern aber die Männer ihre Ehefrauen und Töchter dazu zwingen oder auf diese Weise sogar ihre Andersartigkeit öffentlich demonstrieren und darüber hinaus Anstoß provozieren wollen, kommt es zwangsläufig zum Kopftuchstreit. Streit über Kopftuch und Burka oder über den Bau von Minaretten gibt es heute in vielen großen Städten Europas. Er ist unvermeidlich Teil des schwierigen Integrationsprozesses, der bisher noch in keinem der alten Nationalstaaten Europas abgeschlossen ist.
Manche Politiker und Intellektuelle haben versucht, solche Streitigkeiten dadurch zu umgehen, dass sie eine »multikulturelle Gesellschaft« propagiert haben. Ich halte das für einen Irrweg, weil am Ende ein autoritärer Staat herbeigeführt werden könnte, der den inneren Frieden mittels staatlicher Gewalt aufrechterhalten müsste. Andere Politiker versuchen auf mannigfache Weise die Integration der aus fremden Zivilisationen gekommenen Zuwanderer in die einheimische Gesellschaft zu fördern. Aber sie stoßen dabei auf zwei Hindernisse. Auf der einen Seite wollen einige der Zuwanderer weder sich selbst noch ihre Frauen und Kinder integrieren. Auf der anderen Seite sind manche der Einheimischen an der Einbettung der Einwanderer überhaupt nicht interessiert, und manche haben Angst vor Überfremdung.
Letzten Endes wird, so möchte ich vermuten, der Integrationsprozess einigermaßen erfolgreich enden. Er kann weitere Generationen beanspruchen. Dabei werden die aus Asien oder Afrika zugewanderten neuen Bürger sich an die weitgehend säkulare europäische Zivilisation gewöhnen. Aber manche ihrer Lebensgewohnheiten werden sie noch länger beibehalten, einige wenige werden vielleicht in den Alltag der ursprünglichen Einheimischen eingehen. Das wird auf beiden Seiten ein Minimum an Toleranz verlangen – und ebenso die entschlossene Abwehr von Intoleranz.
Allerdings setzt diese positive Erwartung voraus, dass es der Europäischen Union gelingt, die weitere Zuwanderung aus fremden Zivilisationen anderer Kontinente unter Kontrolle zu halten. Dann sehe ich keinen Grund, für den Verlauf des 21. Jahrhunderts mit dem Ende des europäischen Nationalstaates zu rechnen. Zwar wird die weitere Entfaltung der Europäischen Union als ein Verband von Nationalstaaten sehr holperig verlaufen. Es wird Fortschritte, aber auch Rückschläge geben. Wenn wir jedoch im Ergebnis eine handlungsfähige Einheit erreichen, dann sind die gemeinsame europäische Zivilisation und der Fortschritt der in Europa beheimateten Aufklärung nicht wirklich gefährdet – auch wenn das weltpolitische Gewicht der Europäer zurückgeht und trotz möglicher tiefgreifender Konflikte zwischen Weltreligionen und den von ihnen geprägten Zivilisationen.
Damit Europa zu einer handlungsfähigen Einheit gelangt – was wir keineswegs als sicher unterstellen können –, bedarf es weiter Vorausschau auf Seiten der Regierenden. Es bedarf großer Anstrengung der Urteilskraft. Es bedarf unserer Einsicht, dass wir die größere Einheit nur schrittweise erreichen können. Es bedarf aber zugleich der Einsicht, dass unsere geschichtlich gewachsene Bindung an den Nationalstaat ein wichtiger Bestandteil unserer gemeinsamen europäischen Zivilisation ist. Es bedarf der Einsicht, dass wir die immer wiederkehrende Versuchung zum nationalen Egoismus und zum Vorteil der eigenen Religion bändigen müssen. Es bedarf zu alldem unserer Tatkraft.
Gewiss sind Urteilskraft und Tatkraft unserer Regierungen und unserer Politiker besonders wichtig. Aber wir benötigen daneben ebenso die Einsicht und die tatkräftige Unterstützung durch die Medien, durch die Pastoren, Priester und Bischöfe, durch die Lehrer in den Schulen und in der Wissenschaft, durch die Manager in den Unternehmen und die Funktionäre der Gewerkschaften. Wo es um die Bewahrung der europäischen Zivilisation geht, brauchen wir nicht nur den Willen der Regierenden, sondern ebenso den Willen der Regierten.
Und wo es um den Frieden geht, den Frieden zwischen den in der Menschheitsgeschichte auf fünf Kontinenten so unterschiedlich gewachsenen Religionen und Kulturen, dort haben wir gegenseitigen Respekt nötig. Dort haben wir den Willen und die Fähigkeit zum Dialog nötig – und den Willen zur Zusammenarbeit.