Gute Reise!

Violet hüpfte auf dem linken Bein den Gehweg entlang.

„Heute ist der beste Tag im ganzen Jahr“, trällerte sie dabei fröhlich.

„Besser als Weihnachten und Geburtstag“, stimmte ihre Freundin Jack zu. Jack hieß eigentlich Jacqueline und war ein Mädchen, aber das hatten alle längst vergessen, auch sie selbst.

„So ein Quatsch!“, murrte ihr Zwillingsbruder Zack. „Heute ist ein super ätzender Tag. Ich freu mich kein bisschen.“

„Was?“ Violet war so verblüfft, dass sie abrupt stehen blieb. Dadurch kam auch Jack ins Stolpern und prallte fast mit ihr zusammen. „Wieso das denn? Die Schule ist aus! Ab morgen haben wir Sommerferien!“

„Für euch ist das vielleicht toll“, sagte Zack. „Du reist ans Meer und Jack fährt ins Fußballcamp. Aber ich muss hierbleiben und mich zu Tode langweilen.“

„Wieso musst du hierbleiben?“, fragte Violet. „Du fährst doch mit Olli zu seinem Cousin nach Cornwall!“

„Das fällt flach.“ Zack seufzte schwer. „Der Cousin hat Windpocken. Olli fährt jetzt mit ins Fußballcamp.“

„Du kannst doch auch mitkommen“, sagte Jack. „Ist auf jeden Fall besser, als alleine hier rumzuhängen.“

„Ich hasse Fußball!“ Zack kickte einen Kieselstein vom Gehweg und er flog über die ganze Straße. Es war ein Meisterschuss, aber Violet sparte sich jeden Kommentar. Zack sah einfach keinen Sinn darin, stundenlang hinter einem Ball herzurennen. Ganz im Gegensatz zu seiner Zwillingsschwester, für die Fußball das Größte war.

„Wer nicht will, hat schon gehabt!“, rief Jack und begann wieder loszuhüpfen. „Aber Kopf hoch. Wir sind ja nur drei Wochen weg. Die Zeit wird wie im Flug vergehen.“

„Für euch vielleicht“, stieß Zack hervor und dann rannte er plötzlich los, ohne sich zu verabschieden. Er hielt den Kopf gesenkt, aber Violet sah trotzdem, dass er Tränen in den Augen hatte.

Zu Hause schleuderte Violet ihre Schultasche in die Garderobe und lief in die Küche, wo Tante June gerade Marmelade kochte.

Onkel Nick saß mit Violets kleinem Bruder Rudy auf dem Schoß am Tisch und fütterte ihn mit Bananenbrei. Es klappte aber nicht sehr gut, weil Rudy immer versuchte, den Löffel zu erhaschen, sodass der Brei in alle Richtungen flog.

„Kann Zack nicht mit uns campen gehen?“, rief Violet.

„Hallo erst mal“, sagte Tante June.

„Hallo erst mal “, sagte Violet und gab allen dreien einen Kuss.

„Dada“, machte Rudy und griff mit seinen breiverschmierten Händchen nach ihren Haaren. Rudy liebte die ganze Violet, aber auf ihre wilden roten Locken war er geradezu versessen. Vielleicht war er neidisch, er hatte nämlich selbst nur ganz wenige Haare auf dem Kopf.

„Kann Zack mitkommen?“ Violet trat schnell einen Schritt zurück. Sie liebte ihren Bruder ebenfalls, aber auf Bananenbrei im Haar konnte sie verzichten. „Er muss sonst ganz allein in Rivenhoe bleiben.“

„Aber im Wohnmobil ist kein Platz mehr für ihn“, sagte Onkel Nick. „Es sei denn, du lässt ihn in deinem Bett schlafen.“

„Wir beide können doch im Zelt übernachten“, erklärte Violet. „Bitte!“

Tante June rührte die Marmelade um. „Was sagen denn Zacks Eltern zu dem Plan?“

„Die sind bestimmt dafür“, sagte Violet.

„Also, für mich wäre es okay“, meinte Onkel Nick.

„Danke, Onkel Nick!“ Violet stürzte zu ihm, um ihn zu umarmen. Rudy nutzte die Gelegenheit und vergrub seine klebrigen Hände in ihren Haaren und krähte dabei vor Freude.

„Die Entscheidung liegt allerdings wie immer bei Tante June“, warnte Onkel Nick.

Tante June lachte. „Für mich ist es auch okay. Vorausgesetzt, ihr benehmt euch!“

„Das tun wir doch immer!“, jubelte Violet. „Ich ruf Zack gleich an und geb ihm Bescheid.“

„Und danach wird gepackt“, sagte Tante June. „Wir wollen morgen schließlich ganz früh starten. Ach, übrigens – gab es heute nicht zufälligerweise Zeugnisse in der Schule?“

„Das ist doch jetzt total unwichtig!“, rief Violet empört.

Nach dem Abendessen durfte Violet noch mal zu Zack und Jack, aber vorher schaute sie in Tante Abigails Blumenladen vorbei. Denn das war das einzig Bedauerliche an den Ferien: dass sie Tante Abigail in den nächsten drei Wochen nicht sehen würde.

Violet verbrachte jeden Mittwochnachmittag und den ganzen Samstag bei ihr im Blumenladen. Und manchmal besuchte sie ihre Tante auch an den anderen Tagen.

Dingdong!, machte die Glocke über der Tür, als Violet den Blumenladen betrat. Normalerweise war das Geschäft um diese Zeit geschlossen, aber heute stand Tante Abigail noch hinter dem Ladentisch und band einen wunderschönen Strauß aus duftenden weißen Lilien und dunkelgrünem Efeu.

Tante Abigail war Violets leibliche Tante, das sah man auf den ersten Blick. Violet und Tante Abigail hatten nämlich die gleichen wilden knallroten Locken und überall Sommersprossen, sogar auf den Zehen.

Die beiden teilten auch noch ein Geheimnis – aber davon wussten nur sehr wenige Leute, sonst wäre es ja auch kein Geheimnis gewesen.

„Willkommen!“, schrie Lady Madonna aus ihrem Käfig, der über der Ladenkasse hing. „Bitte schön! Danke schön!“

Lady Madonna war Tante Abigails Wellensittich und redete von morgens bis abends. Abigail bereute es inzwischen, dass sie dem Vogel das Sprechen beigebracht hatte. Aber nun ließ sich die Sache nicht mehr rückgängig machen.

„Hallo, Madonna!“, rief Violet. „Hallo, Tante Abigail!“

„Na, das ist ja schön, dass du vor der Abreise noch mal zu uns reinschneist, sagte Tante Abigail.

„Ich muss mich doch von euch verabschieden.

„Schiff ahoi!“, rief Lady Madonna.

„Kein Schiff, wir fahren mit dem Wohnmobil“, sagte Violet.

„Bitte anschnallen! Guten Flug“, zwitscherte der Vogel.

„Sie ist total im Reisefieber“, erklärte Tante Abigail.

„Oje.“ Violet warf dem Wellensittich einen mitleidigen Blick zu. Offenbar hatte Lady Madonna nicht begriffen, dass sie in Rivenhoe bleiben musste.

„Nächstes Jahr nehmen wir dich vielleicht mit“, versprach sie. Dann hellte sich ihre Miene wieder auf. „Dieses Jahr kommt Zack mit. Er kann nämlich doch nicht nach Cornwall. Wir beide schlafen im Zelt. Das wird so toll!“

„Na klar!“, jubelte Madonna. „Winke, winke!“

„Willst du einen Tee?“, fragte Tante Abigail. „Ich muss nur noch schnell den Strauß für Mrs Blue fertig machen. Sie wollte ihn gleich abholen. Aber dann können wir nach oben.“

„Das geht leider nicht. Ich hab versprochen, Zack beim Packen zu helfen.“

„Ach, apropos packen.“ Tante Abigail zog eine Schublade im Ladentisch auf und holte einen Stapel Papier heraus. „Du hast deine Formeln hier vergessen. Du wolltest sie dir im Urlaub doch noch mal vornehmen.“

Violet runzelte die Stirn. Die Formeln hatte sie nach der letzten Unterrichtsstunde absichtlich im Blumenladen liegen lassen. Sie hatte nämlich überhaupt keine Lust, sich den Urlaub mit schwierigen Pflanzennamen und Rezepten zu verderben.

Denn das war das Geheimnis, das Tante Abigail und Violet miteinander teilten: Tante Abigail war eine Blumenzauberin. Sie besaß ein magisches Blumenbuch und hatte einen Hexengarten hinter dem Haus, in dem fast alle Zauberblumen wuchsen, die sie für ihre Magie brauchte.

Zweimal in der Woche gab sie Violet Unterricht in magischer Blumenkunde. Das hörte sich spannend an, aber in Wirklichkeit war es furchtbar anstrengend, weil man bei den komplizierten Zauberrezepten nicht die kleinste Kleinigkeit verwechseln durfte. Und Tante Abigail war zwar als Tante sehr lustig, aber als Lehrerin war sie streng und unerbittlich.

„Ich weiß nicht, ob es so eine gute Idee ist, die Blätter mitzunehmen“, sagte Violet. „Wenn Tante June oder Onkel Nick die Formeln sehen, stellen sie bestimmt jede Menge Fragen …“

Tante Abigail nagte an ihrer Unterlippe. „Vielleicht hast du recht“, murmelte sie. „Es ist wirklich zu riskant.“ Dann verfrachtete sie sie zu Violets Erleichterung wieder in der Schublade.

„Bye-bye!“, flötete Lady Madonna.

„Aber sobald du zurück bist, steigen wir wieder ein, sagte Tante Abigail. „Nicht, dass du alles vergisst, was du bisher gelernt hast.

„Na klar, sagte Violet. Aber bis dahin war es ja zum Glück noch lange hin!

Badelatschen, Strandhandtuch, Bikini, Sonnenmilch, Luftmatratze, Windeln und Babyöl, eine Hängematte, Bücher, das Federballspiel und und und …

Das Wohnmobil, das Tante June und Onkel Nick für den Urlaub gemietet hatten, platzte fast aus allen Nähten, als die Berrys und Zack am nächsten Morgen einstiegen und losfuhren.

Tante June saß am Steuer. Onkel Nick war ja das ganze Jahr über so oft mit seinem Lastwagen unterwegs, da hatte er im Urlaub keine Lust mehr, Auto zu fahren. Dafür bediente er den CD-Player und verteilte Bonbons und Schnuller und was sonst noch so gebraucht wurde.

Nach einer Stunde kamen sie auf dem Campingplatz an, auf dem sie die nächsten drei Wochen verbringen würden. Er gehörte Mr Scuttle, der sie schon am Tor erwartete.

Mr Scuttle war ein großer Mann mit einer glänzend roten Glatze und einem dicken Bauch, den er stolz vor sich hertrug wie ein Hobbygärtner einen preisgekrönten Kürbis.

„Herzlich willkommen!“, rief er mit dröhnender Stimme und schüttelte allen die Hand, sogar Rudy.

Danach zeigte er ihnen ihren Stellplatz, der genau in der Mitte zwischen dem Meer und den Duschen lag.

Perfekt!, fand Violet.

„Morgen fängt übrigens die Animation an“, sagte Mr Scuttle, nachdem er Onkel Nick das Anmeldeformular gegeben hatte.

„Und was genau ist das?“, fragte Tante June skeptisch.

„Ich habe ein paar junge Leute engagiert, die dafür sorgen, dass hier Leben in die Bude kommt“, erklärte Mr Scuttle. „Es gibt Spiele und Wettkämpfe und so. Außerdem erwartet Sie jeden Abend eine tolle Show. Machen Sie sich auf was gefasst.“ Er zwinkerte Violet und Zack zu. „Kommen Sie morgen um zehn an den Strand, dann erfahren Sie Näheres.“

„Wir wollten uns eigentlich erholen“, erwiderte Tante June.

„Das können Sie natürlich auch“, sagte Mr Scuttle. „Ist ja alles freiwillig.“ Er klang dabei aber so enttäuscht, dass Tante June und Onkel Nick versprachen, sich die Sache auf jeden Fall mal anzuschauen.

Als er weg war, wollten sie das Zelt aufbauen, in dem Violet und Zack schlafen würden. Leider hatte Onkel Nick den Hammer vergessen, mit dem man die Heringe in den Boden schlug.

„Sie können meinen ausleihen!“, rief ein alter Mann aus dem Wohnwagen neben ihnen, der alles mitbekommen hatte. Er verschwand in seinem Wagen und kam kurz darauf mit dem Hammer zu ihnen rüber.

„Das ist unsere Rettung, vielen Dank!“, sagte Onkel Nick.

„Ich bin übrigens Mr Robin“, stellte sich der Mann vor. „Wenn Sie sonst noch irgendwas brauchen oder wissen müssen, bitte einfach fragen. Ich helfe gerne.“ Mr Robin kannte sich auf dem Campingplatz bestens aus, er kam nämlich schon seit fünf Jahren jeden Sommer her. „Ich fühl mich pudelwohl hier“, erklärte er. „Auf dem Platz ist immer was los.“

„Kennen wir uns nicht von irgendwoher?“, fragte Tante June. „Ich hab das komische Gefühl, dass ich Sie schon mal gesehen habe.“

„Ich auch“, sagte Onkel Nick. „Robin, Robin … der Name sagt mir allerdings nichts.“

„Ach, ich hab halt ein Allerweltsgesicht.“ Mr Robin lächelte.

Als das Zelt stand, wollten Violet und Zack sofort ans Meer. Sie kramten ihre Badeklamotten aus den Taschen und zogen sich im Wohnmobil um.

„Wer zuerst im Wasser ist …!“, rief Violet und sprang aus dem Wagen.

Aber dann blieb ihr erst mal die Spucke weg. Und Zack, der nach ihr aus dem Wohnmobil kletterte, ging es genauso.

„Wow!“, rief er laut. „Das ist ja wohl ein dickes Ding!“