Auf den beiden Stellplätzen neben Mr Robins Wohnwagen parkte nämlich auf einmal ein riesiger Camper. Er war doppelt so lang wie das Wohnmobil der Berrys und viel höher und ein ganzes Stück breiter. Deshalb benötigte er auch zwei Stellplätze auf einmal.
Jetzt sprang die Beifahrertür auf und ein Mädchen kletterte heraus. Es hatte lange hellblonde Haare, die im Sonnenschein glänzten und funkelten, dass es einem fast in den Augen wehtat.
„Wo ist das Meer?“, rief das Mädchen.
„Gleich da hinten, Schätzchen.“ Nach ihm stieg eine große schöne Frau aus und zeigte auf den Fußweg, der zum Strand führte. Ihre Haare waren genauso hellblond wie die des Mädchens.
„Wieso ist es so weit weg?“, fragte das Mädchen. „Ich will einen Platz direkt am Meer.“
„Direkt am Meer gibt es keine Stellplätze, Candy“, sagte die Frau sanft. „Aber hier ist es doch auch schön. Hier gibt es …“
Weiter kam sie nicht. Candy stampfte nämlich wütend mit dem Fuß auf dem Boden auf, warf den Kopf in den Nacken und schrie: „ICH WILL ABER, DASS DAS MEER HIER BEI MIR IST!“
Violet und Zack wechselten einen erschrockenen Blick. Die Stimme des blonden Mädchens war unglaublich laut, sie zerriss ihnen fast das Trommelfell.
„ICH WILL DAS MEER!“, schrie es. „ES SOLL HIER SEIN! DAS IST VOLL UNFAIR!!“
Dabei spritzten Tränen aus seinen Augen wie das Wasser aus einem Rasensprenger.
Inzwischen war auch ein großer blonder Mann aus dem Wohnmobil gestiegen. Sein Mund ging auf und zu, aber was er sagte, ging in Candys Gebrüll unter, genau wie die Worte ihrer Mutter.
„ICH WILL DAS MEEEEEEEEER!“, schrie Candy.
„Komm!“ Violet packte Zack am Ärmel und nickte ihm zu. Er verstand, obwohl auch sie nicht zu hören war, und sie rannten los.
Der Strand war riesig und nicht zu voll, das würde Tante June und Onkel Nick gefallen. Aber auch nicht zu leer, das gefiel Zack und Violet.
Am Meer spielten vier Jungs Fußball und im Meer tobte eine Handvoll Kinder. Violet und Zack rannten ebenfalls ins Wasser. Es war eiskalt, jedenfalls am Anfang, aber als sie einmal drin waren, spürten sie die Kälte nicht mehr.
„Wer länger tauchen kann!“, rief Violet.
Sie zählten bis drei, dann hielten sie sich die Nase zu und tauchten unter.
Unter Wasser war es glitzerblau und total still. Das Geschrei und Gelächter der Kinder, das Wasserplatschen, die schrillen Schreie der Möwen – alles war verstummt.
Violets rote Haare trieben um ihr Gesicht wie Korallen und Zacks blonde Haare standen zu Berge. Sie grinsten sich an.
Leider ging Violet als Erstes die Luft aus und sie musste wieder auftauchen.
„Gewonnen“, prustete Zack, als er kurz darauf nach oben kam.
Sie tauchten, bis Zack blaue Lippen hatte und Violets Zähne klapperten wie das Schutzblech von einem alten Fahrrad.
Am Strand hüpften sie von einem Bein auf das andere, um sich wieder aufzuwärmen.
„Kann ich vielleicht mitspielen?“, fragte eine helle Stimme neben ihnen. Sie gehörte einem Mädchen in einem rosafarbenen Badeanzug, das so blass und dünn war, dass es fast durchsichtig erschien.
„Wir spielen ja noch gar nichts“, sagte Violet. „Wir springen nur rum, damit uns warm wird. Ist dir auch kalt?“
„Im Gegenteil.“ Das Mädchen wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Mir ist total heiß.“
„Dann musst du erst mal ins Wasser. Sobald dir kalt ist, kannst du kommen. Wir warten hier auf dich“, sagte Zack, ohne mit dem Herumhopsen aufzuhören.
„Versprochen?“
Als sie nickten, rannte das Mädchen los.
„Bin gleich wieder da!“, rief es ihnen noch über die Schulter zu.
Violet und Zack hüpften weiter.
„Lizzie! Wo steckst du?“, rief eine Stimme hinter ihnen.
Sie gehörte einer hübschen Frau mit braunen Locken, die den gleichen rosafarbenen Rüschenbadeanzug wie das Mädchen trug, nur ein paar Nummern größer natürlich. Sie schirmte ihre Augen mit der Hand ab und sah sich suchend um.
„Das ist bestimmt die Mutter von dem Mädchen“, sagte Zack.
„Komm, wir hüpfen mal zu ihr“, sagte Violet.
„Lizzie ist im Wasser“, erklärte Zack, als sie sie erreicht hatten. Ohne das Hüpfen zu unterbrechen, zeigte er auf das Mädchen, das sich gerade die Nase zuhielt und dann untertauchte.
„Hoffentlich schwimmt sie nicht zu weit raus“, sagte die Frau besorgt.
„Nee, bestimmt nicht.“ Violet hüpfte ebenfalls weiter. „Sie kommt gleich wieder zurück. Wir wollen uns nämlich zusammen aufwärmen.“
„Ach, das ist ja schön, dass ihr euch schon angefreundet habt.“ Die Frau lächelte. „Ich bin übrigens Mrs Butterfly. Und das ist Mr Butterfly.“ Sie deutete auf den blassen Mann, der neben ihr unter einem großen Sonnenschirm hockte. Er tippte angestrengt auf seinem Laptop herum, als säße er am Schreibtisch.
„Mr Butterfly muss immerzu arbeiten“, sagte Mrs Butterfly und seufzte traurig. „Dabei haben wir doch Urlaub. Seid ihr zum ersten Mal hier?“
Violet nickte und hüpfte. So langsam kam sie außer Atem.
„Wir auch. Na, dann will ich das Meer auch mal ausprobieren.“ Mrs Butterfly wandte sich ihrem Mann zu.
„Jonathan?“, rief sie. „Kommst du mit ins Wasser?“
„Später, Liebes.“ Mr Butterfly blickte kurz auf und warf ihr eine Kusshand zu. „Ich muss hier eben noch was fertig machen.“
Da seufzte Mrs Butterfly erneut und ging allein zum Meer.
Kurz darauf kam Lizzie aus dem Wasser und jetzt war ihr auch kalt. Sie musste sich allerdings allein aufwärmen, weil Zack und Violet total aus der Puste waren. Danach beschlossen sie, ein neues Zuhause für die armen einsamen Muschelkinder zu bauen, die überall am Strand rumlagen.
Am Anfang waren sie nur zu dritt, aber dann kamen die Kinder dazu, die zuvor im Meer herumgetobt hatten, und nach einer Weile ließen auch die vier Jungs ihren Fußball liegen und machten mit. Sie bauten ein riesiges Sandschloss und anschließend einen Sportplatz für die Muscheln.
Als sie gerade damit begonnen hatten, ein großes Schwimmbad auszugraben, in dem die Muschelkinder baden konnten, gellte es laut über den Strand: „Hat vielleicht einer von euch Lust auf ein cooles Match mit meinen Blades?“
Alle drehten sich neugierig um und da stand Candy, das blonde Mädchen, das vorhin diesen unglaublichen Tobsuchtsanfall bekommen hatte. Davon war ihr allerdings nichts mehr anzumerken, sie strahlte übers ganze Gesicht, während sie zwei neongrüne Tennisschläger in die Luft hielt.
„Sind das etwa Mega-Superblades?“, rief einer der Fußball-Jungs, der Dexter hieß. „Hey, cool! Die wollte ich schon immer mal ausprobieren.“
Im Nu waren die verwaisten Muscheln vergessen. Alle Kinder am Strand umringten jetzt Candy und Dexter, die sich mit den neongrünen Schlägern ein tolles Match lieferten.
Violet und Zack hatten vorher noch nie etwas von Mega-Superblades gehört, aber schon nach wenigen Minuten waren auch sie begeistert.
Der Ball, der zwischen den beiden Spielern hin und her flog, veränderte nach jedem Aufprall seine Geschwindigkeit. Manchmal schwebte er im Zeitlupentempo durch die Luft, dann raste er wie ein Torpedo von einem Schläger zum anderen. Weil man nie wusste, was einen erwartete, musste man auf alles gefasst sein.
Im Gegensatz zu Dexter hatte Candy schon eine Menge Erfahrung mit den Superblades, sodass sie das erste Spiel haushoch gewann.
„Ich glaub, jetzt hab ich den Dreh raus!“, rief Dexter. „Los, noch ein Spiel. Diesmal gewinne ich!“
„Nö.“ Candy schüttelte den Kopf. „Jetzt sind die anderen dran.“
Sie deutete auf die lange Schlange an Kindern, die sich am Strand gebildet hatte. Alle wollten die Mega-Superblades ausprobieren.
Violet und Zack hatten sich ebenfalls angestellt, allerdings standen sie so weit hinten, dass sie frühestens um Mitternacht an der Reihe gewesen wären. Deshalb protestierten sie auch nur ein kleines bisschen, als Tante June verkündete, dass es nun Zeit fürs Abendessen sei.
„Onkel Nick ist schon oben und hat den Grill angeschmissen“, erklärte sie. „Die Würstchen sind gleich fertig.“
Als sie alle um den Tisch herumsaßen, kam Candy vom Strand zurück.
„Dürfen wir morgen auch mal mit deinen Mega-Superblades spielen?“, rief Violet ihr zu.
„Wenn du schön bitte-bitte machst, vielleicht“, sagte Candy herablassend und ging einfach weiter.
„Die spinnt ja wohl“, schnaubte Zack, als sie außer Hörweite war. „So toll sind die Schläger auch wieder nicht.“
„Diese Leute sind wirklich eine Zumutung“, sagte Mr Robin, der mit am Tisch saß. Tante June hatte ihn zum Abendessen eingeladen, zum Dank für den Hammer. „Hoffentlich fahren sie bald wieder ab.“
„Ich fürchte nicht“, sagte Onkel Nick. „Ich habe vorhin gehört, dass sie auch drei Wochen bleiben wollen.“
„Ach, herrje.“ Tante June stand auf. „Ich bringe jetzt Rudy ins Bett. Und danach spielen wir Karten. Sie machen doch mit, Mr Robin, oder?“
„Gerne.“ Mr Robin freute sich sehr, das sah man ihm an. „Hach, bei Ihnen geht es mir wirklich gut. So eine Familie hab ich mir immer gewünscht.“
„Haben Sie denn keine eigene?“, fragte Onkel Nick.
„Leider nein.“ Mr Robin schüttelte betrübt den Kopf. „Zum Heiraten fehlte mir irgendwie immer die Zeit. Und meine Eltern sind auch schon viele Jahre tot.“
Sie spielten mehrere Runden Schwarzer Peter und Mau-Mau, und dann nahm Mr Robin das Kartenspiel und begann zu zaubern.
Am Anfang waren es ganz gewöhnliche Kartentricks, er steckte einen Herz-Buben mitten in den Kartenstapel und zog ihn kurz danach aus seiner Hosentasche. Doch mit der Zeit wurden die Kunststücke immer unglaublicher.
Zum Beispiel sollte Violet sich eine Karte vorstellen – sie nahm ein Karo-Ass – und Mr Robin zauberte genau diese Karte in Onkel Nicks Bierglas, das zum Glück leer war. Oder er legte eine Herz-Dame verdeckt auf den Tisch und als Zack die Karte wieder aufdeckte, war es ein Pik-König.
„Früher bin ich mit so was aufgetreten“, erzählte er. „Aber das ist lange her.“
„Jetzt weiß ich, woher ich Sie kenne!“, rief Tante June. „Aus dem Fernsehen!“
„Natürlich!“ Onkel Nick schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Sie sind der große Simsalabim! Wir haben Ihre Show immer geguckt. Die war toll.“
„Sie konnten super Stimmen imitieren“, sagte Onkel Nick. „Und Dinge wegzaubern.“
„Ich konnte nachts oft nicht schlafen, weil ich darüber nachgedacht habe, wie Sie das gemacht haben“, erklärte Tante June.
„Ach, das ist lange her.“ Mr Robin winkte ab. „Heute zaubere ich nur noch zum Vergnügen.“
Violet und Zack bestürmten ihn, ihnen seine Tricks zu verraten, aber er ließ sich nicht erweichen.
„Das geht leider nicht“, erklärte er. „Das ist gegen die Zauberer-Ehre.“
Tante June stand auf. „Die Kinder müssen jetzt ohnehin ins Bett“, sagte sie. „Ab zum Zähneputzen mit euch beiden.“
Auf dem Campingplatz war es still geworden. Bis auf das Meeresrauschen, das wie das sanfte Schnarchen eines Riesen klang, war nichts zu hören. Violet und Zack hatten sich in ihre Schlafsäcke gekuschelt.
„Jack wird vor Neid platzen, wenn sie hört, wie gut wir es haben“, murmelte Zack.
„Ich freu mich schon auf morgen“, sagte Violet.
Aber darauf antwortete Zack nicht mehr, er war nämlich eingeschlafen.
Der Reißverschluss am Eingang war nicht ganz zugezogen. Durch den Spalt blickte Violet in das silberne Mondlicht, das zwischen den Bäumen aufs Gras fiel und es zum Glitzern brachte.
Sie stellte sich vor, dass ihre Mama ihr das Mondlicht aus dem Himmel schickte wie einen Gute-Nacht-Kuss.
„Schlaf gut, Mama“, flüsterte sie leise.
Dann schlief auch sie ein.