Danach rissen sie alle Fenster auf, aber das nützte überhaupt nichts. Die Hitze fühlte sich sehr wohl in Tante Abigails Wohnwagen und ließ sich nicht so leicht vertreiben.
„Komm, wir gehen zurück an den Strand“, schlug Lizzie vor. „Ist doch bescheuert, hier rumzuhängen.“
„Aber das ist gegen die Spielregeln“, sagte Violet und überlegte krampfhaft, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Sie wollte schließlich möglichst viel aus Lizzie rausholen und möglichst nichts preisgeben.
Ihr fiel aber nichts ein. In ihrem Gehirn brodelte und blubberte es, es war einfach zu heiß zum Denken.
Vor dem Bus gingen gerade Onkel Nick und Tante June vorbei, die offensichtlich von ihrer Wanderung zurück waren.
„Gag“, sagte Rudy, der immer noch in Onkel Nicks Tragetuch steckte.
„Mein kleiner Schatz ist ja wieder aufgewacht!“, rief Tante June und kitzelte ihn ein bisschen am Kinn. „Na, das ist ja prima. Und wo steckt mein großer Schatz?“ Damit meinte sie Violet.
„Zack und Violet sind bestimmt am Strand und lassen sich animieren“, sagte Onkel Nick. „Da mach dir mal keine Sorgen.“
Dann verschwanden sie in ihrem Wohnmobil und waren nicht mehr zu hören.
„Deine Eltern sind echt nett“, sagte Lizzie.
„Das stimmt“, sagte Violet. „Deine auch“, fügte sie dann hinzu und plötzlich hatte sie eine Idee. „Was ist dein Papa denn eigentlich von Beruf?“, fragte sie.
„Buchhalter“, sagte Lizzie.
„Aha.“ Violet hatte leider keine Ahnung, was ein Buchhalter machte. „Er muss ziemlich viel arbeiten, oder?“
Lizzie nickte.
„Na ja, da habt ihr bestimmt auch eine Menge Geld“, sagte Violet.
Lizzie nagte an ihrer Unterlippe und schwieg. Mist!
Ob Violet ihr vielleicht erzählen sollte, was sie vorhin im Wald gehört hatten? Aber bevor sie dazu kam, antwortete Lizzie doch noch.
„Ich glaube, mein Daddy arbeitet so viel, weil meine Mum so viel ausgibt“, sagte sie leise.
„Echt?“, fragte Violet.
Lizzie ließ den Kopf hängen und mied Violets Blick.
„Neulich hat sie im Internet vierzehn Bernsteinketten gekauft. Für jedes Mädchen in meiner Klasse eine. Nur weil wir in Erdkunde über Bernstein gesprochen haben. Und die Jungs haben einen Schlüsselanhänger bekommen.“
„Krass“, sagte Violet.
„Und wenn sie einen Bettler auf der Straße sieht, gibt sie ihm das ganze Geld, das sie im Portemonnaie hat.“
„Das ist doch eigentlich nett“, sagte Violet und dachte an die beiden Ponys aus Mongilvesien – oder war es Monsilvanien? –, die Mrs Butterfly gerettet hatte.
„Das ist total nett. Aber Daddy findet es, glaub ich, nicht so gut. Er würde wahrscheinlich lieber mal Ferien haben.“
Zu Violets Erschrecken füllten sich Lizzies blassblaue Augen plötzlich mit Tränen. „Ich mach mir schreckliche Sorgen um ihn“, flüsterte sie. „Er ist so traurig. Heute Morgen hat er beim Frühstück hinter seiner Zeitung geweint. Er hat geglaubt, dass ich es nicht merke, aber ich hab doch gehört, wie er schluchzt.“
„Warum ist er denn so traurig?“, fragte Violet, obwohl sie die Antwort natürlich längst kannte.
In diesem Moment spazierte Lord Nelson in den Bus. Er ging an Violet und Lizzie vorbei, ohne sie zu beachten, und blieb dann mitten im Wagen stehen.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte Lizzie. „Wenn ich es doch nur wüsste!“ Nun tropften die Tränen aus ihren Augen und platschten auf den flauschigen grünen Teppich.
„Nicht weinen!“ Violet wollte einen Arm um Lizzie legen, aber im selben Moment sprang Lord Nelson mit einem unglaublichen Satz auf das Regalbrett neben dem Fenster.
Der Kater war viel zu groß und dick für das schmale Brett und das Regal war außerdem noch total voll. Da standen Bücher und eine Vase mit Trockenblumen und ein Foto von Tante Abigail mit Rudy auf dem Arm. Dafür war jetzt natürlich kein Platz mehr.
Die Bücher kippten nach rechts, die Vase fiel nach links, und der Bilderrahmen mit dem Foto plumpste erst auf den Kühlschrank und dann zu Boden.
„Lord Nelson, bist du verrückt?“ Violet rannte zum Fenster und hob den Bilderrahmen und die Vase auf. Erstaunlicherweise war nichts kaputtgegangen.
„Miauuu.“ Lord Nelson hopste vom Regal aufs Bett, das unter dem Aufprall bedrohlich ächzte und quietschte.
„Bei dem ist echt eine Schraube locker“, schimpfte Violet und wollte die Bücher zurück aufs Brett stellen.
Dabei sah sie es. In der Wand über dem Brett war ein Geheimfach versteckt. Jetzt, wo die Bücher weg waren, konnte man die Umrisse der Tür erkennen, die in die Wand eingelassen war. An der linken Seite war eine kleine Vertiefung mit einem Hebel, damit ließ sich die Tür öffnen. In Violets Fingern begann es zu kribbeln.
Was war da drin? Und warum hatte Lord Nelson es ihr gezeigt?
Sie hätte das Fach zu gerne aufgemacht, aber leider stand Lizzie neben ihr, die von Tante Abigails Geheimnissen nichts wissen durfte.
„Ist doch nicht so schlimm. Ist ja nichts passiert“, sagte Lizzie. Gemeinsam stellten sie alle Sachen wieder zurück auf das Brett.
„Ich glaube, jetzt waren wir wirklich lange genug hier drin“, sagte Violet, als sie fertig waren. „Die anderen sind bestimmt längst zurück am Strand.“
Genau so war es. Beide Agententeams waren am Strand und prügelten sich mit großer Leidenschaft.
Connor hielt Dexter im Schwitzkasten, Ibrahim kämpfte mit Jason und Heather kippte Muhammad einen Eimer Sand über den Kopf.
„Was ist denn hier los?“, wunderte sich Violet.
„Wir haben die Drohne ergattert“, sagte Zack, der nicht mitkämpfte, er prügelte sich nämlich grundsätzlich nie. „Da hing eine Bonbontüte dran.“
„Und dann habt ihr die Bonbons gegessen?“, fragte Violet.
„Ich hab keins mehr abgekriegt. Aber die anderen schon. Dexter sagt, dass die Bonbons vergiftet waren.“
„So ein Quatsch!“, erklärte Violet. „So was würde Tante Abigail doch nie tun.“
„Die Bonbons sind von Tante Abigail?“, fragte Zack überrascht. „Und wie kommen sie an die Drohne?“
„Das wüsstest du gerne, was?“, sagte Violet.
„He, was macht ihr denn hier? Seid ihr verrückt geworden?“ Die drei Animateure hatten das Agentenspiel genutzt, um mal in aller Ruhe schwimmen zu gehen. Jetzt kamen sie in Windeseile aus dem Wasser gesprintet.
„Ich glaub, es hackt!“, brüllte Toe. „Habt ihr eigentlich Tomaten auf den Ohren? Keine Gewalt, sondern Köpfchen, hab ich gesagt.“
„Auseinander, aber sofort!“, rief Tac.
„Kann man euch denn keine Sekunde allein lassen?“, schimpfte Tic. „Warum haut ihr euch denn?“
Da hörten alle auf, sich zu prügeln, und schrien stattdessen wild durcheinander.
„Wer war das mit der Bonbontüte?“, fragte Tac.
„Ich!“ Violet hob ihre Hand.
„Ich auch“, sagte Lizzie.
„Die waren für Connor bestimmt.“
„Was?“, schrie Connor. „Wieso das? Wolltet ihr euren eigenen Anführer vergiften?“
„Die waren doch gar nicht vergiftet“, sagte Violet. „Nur scharf.“
„Alles klar“, sagte Toe. „Das Spiel wird sofort abgebrochen, wir machen was anderes.“
„Und was?“, fragte Ibrahim.
„Eis essen!“, rief Mr Scuttle.
Der Campingplatzbesitzer war unbemerkt an den Strand gekommen. Jetzt ließ er eine riesige Kühltasche in den Sand plumpsen.
„Zur Feier des Tages schmeiße ich eine Runde für alle!“, rief er laut.
„Was gibt es denn zu feiern?“, fragte Dexter.
„Das ist ja wohl sonnenklar, du Blödmann“, rief sein Bruder. „Dass Hilarius weg ist, natürlich.“
„Schokolade oder Erdbeer oder lieber ein Wassereis?“ Mr Scuttle tat so, als ob er die beiden gar nicht gehört hätte, und klappte die Eistruhe auf.
„Schokolade“, sagte Dexter. „Aber bitte ohne Pfeffer.“
„Was?“, fragte Mr Scuttle.
„Egal“, sagte Dexter.
„Kriegen die Erwachsenen auch ein Eis oder ist das nur für die Kinder?“ Hinter Violet tauchte Mrs Butterfly auf.
„Es ist genug für alle da“, sagte Mr Scuttle. „Welchen Geschmack hätten Sie denn gerne?“
„Erdbeer“, sagte Mrs Butterfly. „Vielen Dank, das ist ja reizend.“
Danach kamen auch die anderen Erwachsenen zu ihnen herüber und wollten Eis. Tante June und Onkel Nick entschieden sich für ein Eis am Stiel mit Schokolade, Mr Robin nahm ein Orangen-Wassereis und Tante Abigail einen Milchfinger, alles andere war nämlich weg, als sie endlich an der Reihe war.
„Ich finde es bedauerlich, dass die kleine Candy abreisen musste“, sagte sie, während sie ihr Eis auspackte. „Ihre Ferien sind doch jetzt ruiniert.“
„Wenn sie hiergeblieben wäre, hätte sie uns die Ferien ruiniert“, sagte Mr Robin. „Oder zumindest den anderen Kindern. Das wäre ja wohl auch nicht besser gewesen.“
„Vielleicht“, gab Tante Abigail zu. „Vielleicht hätte sie aber auch kapiert, dass man nur dann Spaß haben kann, wenn man auch mal nachgibt. Womöglich wären alle sogar noch Freunde geworden.“
Das bezweifelte Mr Robin sehr, das sah man ihm an, und Violet ging es genauso.
„Das mit den Einbrüchen in der Ferienzeit ist wirklich schrecklich“, sagte Mrs Butterfly, die ihr Erdbeereis schon fast ausgelöffelt hatte. „Diese Schurken warten einfach ab, bis die Leute in den Urlaub fahren, und dann steigen sie in aller Ruhe in die Häuser ein und bedienen sich. Das ist doch gemein, oder?“
„Das ist das Letzte!“, rief die Mutter von Dexter. „Na, bei uns können sie ruhig einbrechen, da finden sie nicht viel.“
„Ich hab ein Sicherheitsschloss an meiner Wohnungstür“, sagte Mr Robin. „Und meine Wohnwagentür ist ebenfalls stahlverstärkt. Sicher ist sicher.“
„Mr Hilarius hatte eine Alarmanlage in seinem Haus, aber das hat ihm nichts genützt“, sagte Tante June. „Die Diebe kamen trotzdem rein.“
„Und haben einen dicken Fang gemacht“, ergänzte Mr Robin.
„Die Einbrecher werden immer dreister, da haben Sie ganz recht!“, sagte Mr Scuttle. „Im letzten Jahr mussten gleich vier Gäste vorzeitig abreisen, weil ihre Häuser ausgeraubt wurden.“
„Schlimm“, sagte Onkel Nick. „Gut, dass wir unsere Wertsachen immer bei uns haben.“
„Er meint mich und Rudy“, flüsterte Violet Zack zu.
„Schon klar“, sagte Zack. Dann zog er Violet ein Stück zur Seite. „Hast du was aus Lizzie rausgekriegt?“, fragte er leise.
„Nur dass ihre Mum schrecklich viel Geld ausgibt“, flüsterte sie. „Und dass Mr Butterfly heute Morgen hinter seiner Zeitung geweint hat.“
„Warum, wissen wir ja“, wisperte Zack. „Wo steckt er überhaupt?“
„Wahrscheinlich ist er zur Bank gegangen, um das Lösegeld zu holen.“ Violet fiel das Geheimfach in Tante Abigails Bus wieder ein.
„Da ist das magische Blumenbuch drin“, sagte Zack kaum hörbar, nachdem sie ihm davon erzählt hatte. „Das ist ja wohl klar.“
Violet nickte. „Und Lord Nelson wollte, dass ich das weiß.“
Das war wirklich seltsam. Normalerweise setzte der Kater nämlich alles daran, Violet davon abzuhalten, das Blumenbuch ohne die Erlaubnis ihrer Tante zu nehmen.
„Wenn Nelson bloß reden könnte“, flüsterte Violet. „Ich bin sicher, er könnte uns eine Menge erzählen.“
Zack zerstrubbelte seine blonden Haare. „Meinst du, er will, dass du das Buch benutzt?“
Violet zuckte mit den Schultern. Dann riss sie die Augen auf. „Mr Butterfly ist wohl doch nicht zur Bank gegangen“, sagte sie. „Er war bei der Polizei.“
„Wie kommst du darauf?“, fragte Zack.
„Na, sonst wären die ja wohl nicht hier.“ Violet zeigte auf die drei Polizisten, die gerade die Treppe vom Campingplatz herunterkamen.