Die Anzeige

„Wollen Sie auch ein Eis?“, fragte Dexter, als die Polizisten sie erreicht hatten. „Ist aber leider keins mehr da.“

Die Polizisten ignorierten ihn einfach.

„Wir suchen einen Mr Imrie, einen Mr Milne und eine Miss Crystal“, sagten sie. „Sind die zufälligerweise hier?“

„Nein“, sagte Mr Scuttle. „So jemanden gibt es hier nicht.“

„Doch“, sagten Tic, Tac und Toe. „Das sind wir.“

„Aha“, sagte der erste Polizist, ein großer dicker Mann mit Schnurrbart. „Gegen Sie liegt nämlich eine Anzeige vor.“

„Was?“ Die drei Animateure sahen den Schnurrbartpolizisten entgeistert an.

„Warum das denn?“, fragte Tic.

„Anstiftung zum Einbruch“, sagte der Mann. „Ist Ihnen ein Mr Kevin Kensington bekannt?“

„Klar“, sagte Tac. „Wir studieren zusammen. Und Kevin hat uns den Job hier vermittelt.“

„Kevin Kensington?“, fragte Mr Scuttle. „Den kenn ich auch. Der war letztes Jahr unser Animateur. Toller Fußballspieler. Was ist denn mit ihm?“

„Mr Kensington wurde heute Morgen verhaftet. Man hat ihn auf frischer Tat erwischt, wie er gestohlene Koi-Karpfen verkaufen wollte.“

„Und was hat das mit uns zu tun?“, fragte Tic.

Nun räusperte sich der zweite Polizist. „Die Spur führt hierher auf den Campingplatz. Wir wissen auch, dass Sie öfter mit Mr Kensington telefoniert haben.“

„Natürlich“, sagte Toe. „Wegen der Animation.“

„Das sagen Sie.“ Der Schnurrbartmann nahm seine Polizistenmütze ab und kratzte sich an seinem kahlen Schädel. „Es könnte aber auch sein, dass Sie die Auftraggeber sind.“

„Wir?“ Tac lachte ungläubig. „So ein Quatsch!“

„Warum fragen Sie Kevin nicht einfach, wer ihn angestiftet hat?“, erwiderte Tic.

„Er schweigt beharrlich“, sagte der dritte Polizist. „Und mehr dürfen wir Ihnen jetzt auch nicht sagen.“

„Nur dass Anzeige gegen Sie erstattet wurde“, erklärte der zweite.

„Ich weiß, wer die Anzeige gemacht hat!“, rief Mr Robin. „Das war bestimmt dieser Hilarius. Es handelt sich um den Einbruch in seinem Haus, oder?“

„Auch dazu dürfen wir nichts sagen.“ Der Schnurrbartpolizist lächelte bedauernd.

„Wir haben mit der Sache überhaupt nichts zu tun“, sagte Tac. „Ehrenwort!“

„Die drei haben doch ein Alibi!“, rief Mr Scuttle. „Sie waren die ganze Zeit hier auf dem Campingplatz.“

„Das bezweifelt ja auch keiner“, sagte der Schnurrbartpolizist. „Den Einbruch hat Mr Kensington begangen, das steht bereits fest. Aber woher wusste Mr Kensington, dass die Familie Hilarius im Urlaub war? Und woher hatte er den Code für den Safe?“

„Keine Ahnung“, sagte Toe.

„Wirklich nicht?“ Der zweite Polizist kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Mr Hilarius sagt, dass der Code auf einem Zettel stand, der am Kühlschrank im Wohnmobil hing.“

„Das war ganz schön dumm von Mr Hilarius, den Code da hinzuhängen“, fand Tante Abigail.

„Dumm oder nicht dumm, das steht nicht zur Debatte“, erklärte der dritte Polizist streng.

„Was passiert denn jetzt mit uns?“ Tics Stimme war plötzlich sehr hell und wackelig und ihre Augen standen voller Tränen. „Werden wir nun verhaftet, oder was?“

„So weit sind wir noch nicht. Sie sind jedoch verpflichtet, sich morgen früh um acht im Polizeipräsidium in Snickerville zu melden. Dort werden Sie verhört. Und zwar getrennt.“

„Aber wir sind unschuldig!“, rief Toe.

„Dann müssen Sie sich ja keine Sorgen machen“, sagte der dritte Polizist. „Unschuldigen passiert nichts.“

„In diesem Sinne“, sagte der Schnurrbartpolizist, „schönen Tag noch!“ Damit machten die drei kehrt und verzogen sich.

Jetzt weinte Tic wirklich los und alle versuchten gleichzeitig, sie zu trösten.

„Nun machen Sie sich bloß keine Gedanken!“, rief Mrs Butterfly. „Wir wissen alle, dass Sie nichts Böses getan haben.“

„Wir halten Ihnen die Stange“, erklärte Mr Robin. „Das ist doch Ehrensache.“

„Wir werden aussagen, dass Sie tolle Menschen sind“, versprach Mrs Butterfly.

„Und die besten Animateure der Welt“, erklärte Connor.

„Dennoch müssen Sie die Animation vorerst leider beenden“, sagte Mr Scuttle betrübt. „Solange der Schatten eines Zweifels über der Angelegenheit liegt, bin ich im Interesse der Kinder gezwungen …“ Weiter kam er nicht.

„Im Interesse der Kinder MÜSSEN die Animateure weitermachen!“, rief die Mutter von Dexter und Connor. „Darauf bestehe ich.“

„Ich auch!“, riefen die anderen Eltern und die Kinder sowieso.

Da weinte Tic noch lauter, aber diesmal vor Rührung.

Nach dem Besuch der Polizei fanden Tante June und Onkel Nick, dass es Zeit fürs Abendessen sei, und Tante Abigail hatte ebenfalls genug vom Strand und wollte zurück.

Violet und Zack trotteten hinter den Erwachsenen her.

„Die Sache wird immer komplizierter“, murmelte Zack. „Erst der Einbruch bei Hilarius und dann die Erpressung, und jetzt werden Tic, Tac und Toe verdächtigt.“

„Vielleicht hängt das ja alles miteinander zusammen“, überlegte Violet.

„Aber wie?“

Violet seufzte. „Keine Ahnung.“

Danach schwiegen sie ein paar Minuten lang.

„Weißt du, was?“, fragte Violet schließlich.

„Was?“

„Ich bin dafür, dass wir Tante June und Onkel Nick alles erzählen. Ich will keine Geheimnisse mehr haben.“

„Und wenn sie die Polizei rufen?“, fragte Zack.

„Dann können die Micky Maus verhaften, während er sein Geld kassieren will.“

„Aber dann kommt auch Mr Butterflys Geheimnis raus. Vielleicht muss er sogar ins Gefängnis.“

Die arme Lizzie. Violets Herz zog sich zusammen wie ein Gänseblümchen im Regen. Dennoch schüttelte sie den Kopf. „Wenn wir nichts sagen, wird die Sache vielleicht noch schlimmer.“

„Du hast recht.“ Zack nickte. „Ehrlich gesagt, ist mir das Ganze inzwischen auch zu gruselig. Sollen sich die Erwachsenen darum kümmern, die wissen doch eh immer alles besser.“

Es war genau, wie Zack es vermutet hatte: Nachdem Violet und Zack Tante June und Onkel Nick alles erzählt hatten, rief Tante June sofort bei der Polizei an und eine Viertelstunde später erschienen die drei Beamten wieder auf dem Campingplatz.

Als Mr Scuttle sie zum Wohnmobil der Berrys brachte, reckten alle die Hälse.

„Gibt’s was Neues in der Einbruchsache?“, fragte Mr Robin, der gerade vor seinem Wohnwagen Wäsche aufhängte.

„Nein, diesmal geht es um eine andere Angelegenheit“, erklärte der Schnurrbartpolizist. „Die Sache ist allerdings vertraulich.“

„Schon verstanden!“ Mr Robin winkte mit einer nassen Unterhose und verschwand im Wohnwagen.

Danach setzten sich die Polizisten auf die Campingstühle und Violet und Zack erzählten noch einmal, was sie am Morgen im Wäldchen an den Dünen erlebt hatten.

„Wieso kommt ihr denn erst jetzt damit an?“, fragte der Polizist mit dem Schnurrbart.

„Weil Micky Maus gesagt hat, dass Mr Butterfly erledigt ist, wenn er die Polizei holt“, erklärte Violet.

„Das sagen die Erpresser immer.“

Der Schnurrbartmann klappte das Notizbuch zu, in dem er sich alles notiert hatte, und stand auf. „Schön. Dann wollen wir mal.“

„Dann wollen wir mal was?“, fragte Onkel Nick, nachdem sich auch die anderen beiden Polizisten erhoben hatten. „Werden Sie Mr Butterfly zu der Sache befragen?“

„Natürlich nicht!“, rief der Schnurrbartträger. „Wir gehen davon aus, dass Micky … also, dass der Erpresser sein Opfer beobachtet. Wenn wir jetzt da aufkreuzen, wäre der doch gewarnt.“

„Wir werden ihn morgen um zehn auf frischer Tat ertappen“, sagte sein Kollege.

„Ort und Zeitpunkt der Übergabe sind ja bekannt“, ergänzte der dritte Polizist. „Dank unserer jungen Detektive.“ Er wuschelte Zack und Violet gleichzeitig durchs Haar.

„Und was geschieht bis dahin?“, fragte Tante June.

„Abendessen, ein bisschen Fernsehen und ab ins Bett!“, erklärte der zweite Polizist. „Wir müssen uns schließlich auch mal erholen.“

„Na dann, gute Nacht“, sagte Onkel Nick.

An diesem Abend konnte Violet lange nicht einschlafen. Der Micky-Maus-Erpresser, Mr Butterfly, der hinter seiner Zeitung weinte, und die Anzeige gegen die Animateure – in ihrem Kopf purzelte alles wild durcheinander. Aber irgendwann fiel sie doch in einen unruhigen Schlaf.

Kurz danach wachte sie jedoch wieder auf, weil ihr jemand sanft über die Wangen streichelte. Erschrocken schlug sie die Augen auf. Draußen war es noch dunkel, aber durch das Plastikfenster über der Tür fiel gelbes Laternenlicht ins Zelt.

„Hallo?“, wisperte Violet.

„Mau!“, machte Lord Nelson.

Der Kater saß direkt neben ihrem Kopf.

„Du schon wieder!“, zischte Violet ärgerlich. „Kannst du uns nicht mal eine Nacht in Ruhe lassen?“

Der Kater sprang auf und hob abwechselnd die rechte und die linke Vorderpfote.

„Was ist denn?“, fragte Violet.

„Mauuu“, wiederholte Lord Nelson. Dann drehte er sich um und spazierte nach draußen. Seltsamerweise war der Reißverschluss an der Tür ein Stück nach oben gezogen. Dabei hatte Violet ihn vor dem Schlafengehen fest verschlossen und er ließ sich nur von innen öffnen.

Sie warf einen Blick zu Zack. Er schlief seelenruhig und hatte nichts mitbekommen.

„Maaaauuu!“ Lord Nelson klang jetzt ungeduldig.

„Ich komme ja schon“, flüsterte Violet.

Wie still es um diese Zeit auf dem Campingplatz war. Tagsüber drangen immer irgendwelche Stimmen zu ihnen herüber, man hörte Musik oder Gelächter. Jetzt gurrte nur eine Taube in einem der Bäume. Hinter den Fenstern der Wohnmobile war alles dunkel.

Der Boden war kühl und klamm unter Violets nackten Fußsohlen.

Lord Nelson huschte vor ihr über den Weg, dann verließ er ihn wieder und rannte auf Tante Abigails Bus zu. Die Schiebetür auf der Seite stand einen Spaltbreit offen. Es war typisch für Tante Abigail, dass sie den Wagen nachts nicht zumachte.

Wenigstens hatte sie Lady Madonna mit reingenommen, der Vogelkäfig hing nicht mehr an dem Ast neben der Tür.

Der Kater sprang mit einem eleganten Satz in den Bus und verschwand dort im Dunkeln.

Ob Violet ihm nachgehen sollte? Sie zögerte. Warum war sie Lord Nelson überhaupt gefolgt? Wahrscheinlich rollte er sich in diesem Moment auf Tante Abigails Bettdecke zusammen und schlief gemütlich ein.

Sie schlich auf Zehenspitzen zum Reisebus und warf einen Blick hinein. Lord Nelsons Augen glühten ihr aus der Dunkelheit entgegen. Er stand mitten im Wagen. Unter dem Brett, hinter dem sich das Geheimfach befand.

Und nun wusste Violet, wieso der Kater sie geweckt hatte. Er wollte, dass sie das Buch herausnahm. Und zwar leise, ohne dass Tante Abigail etwas davon mitbekam. Aber warum wollte er das? Normalerweise bewachte Lord Nelson das Buch wie seinen Augapfel und ließ Violet nicht in seine Nähe, wenn Tante Abigail nicht dabei war.

Aber heute schlief ihre Tante tief und fest. Violet konnte sie nicht sehen, doch sie hörte sie leise schnarchen, als sie jetzt in den Bus kletterte. Lady Madonna schien zum Glück ebenfalls tief zu schlafen, sonst hätte sie längst losgepiepst. Ihr Käfig stand neben der Tür und war mit einem großen Handtuch abgedeckt.

Lord Nelson rieb seinen Kopf an Violets nackten Beinen. Beeil dich, hieß das.

Lautlos ging Violet zum Regal. Behutsam räumte sie die Bücher, die Vase und den Bilderrahmen zu Boden. Als sie die Hand ausstreckte, um das Fach zu öffnen, hatte sie wieder dieses Kribbeln in den Fingern, das sie bereits am Nachmittag gespürt hatte. Sie holte tief Luft und zog die Tür auf.

Aus der Dunkelheit leuchtete ihr ein heller rechteckiger Gegenstand entgegen, der einen leichten Blumenduft verströmte.

Das magische Blumenbuch.