Algot und der Kandidat
1842
Als der Bauernsohn Algot noch in den Kinderschuhen steckte (lange bevor der Graf seinen Vater und ihn auf dem Kieker hatte), bestand in Schweden keine Schulpflicht. Und die Schulen, die es dennoch gab, richteten ihr Augenmerk mehr auf religiöse Dinge als auf die Faktenlage. Doch mit zunehmendem Erfolg des Schweinehofs befanden Sven und Esther Olsson, dass ihnen für ihren einzigen Sohn nichts zu schade war und er bekommen sollte, was sie nie hatten.
Dank der direkten Nachbarschaft zum Schloss hatten sie mit eigenen Augen gesehen, wie dort ein Hauslehrer einmal die Woche mit Pferd und Wagen vorfuhr, um die drei Kinder des gräflichen Paares zu unterrichten. Sommers, wenn das Wetter es zuließ, wurden die Stunden in den nahe gelegenen Hortensienhain verlegt.
Nach einer solchen Stunde im Freien schlich sich der Schweinebauer zum Lehrer, als der für die gut zwölf Meilen bis Växjö schon wieder auf den Kutschbock gestiegen war.
»Verzeihung«, sagte Sven, worauf der andere am Zügel seines Pferdes zog.
»Weswegen, wenn ich fragen darf?«
Der Bauer stellte sich vor und sagte, ihm falle schon seit Längerem auf, dass der Herr den drei gräflichen Kindern regelmäßig Wissen einflöße.
Der Mann auf dem Wagen nickte und sagte, in der Hinsicht gebe er sich schon seit geraumer Zeit redlich Mühe. Und mit einem Freimut, der Sven regelrecht begeisterte, fuhr er fort:
»Leider Gottes wurde von mir erwartet, ihnen selbiges auf Französisch einzutrichtern, was nicht eben eine Sprache ist, in der ich beschwerdefrei parliere. Ich habe den Auftrag trotzdem angenommen, weil zwei plus zwei selbst in Paris vier macht und Gustav III . ungeachtet der Sprache 1792 in Stockholm erschossen wurde. Es geht also so leidlich seinen Gang, auch wenn ich dem Grafen oder der Gräfin gelegentlich die vereinbarten Reichstaler aus den Händen winden musste. Die trennen sich nicht gern von ihrer Barschaft.«
Der Mann redete im selben Dialekt wie Sven, was anheimelnd auf ihn wirkte. Eigentlich war der Schweinebauer zu ihm gegangen, um sich beraten zu lassen, wer seinen Sohn auf vergleichbare Art und Weise unterrichten könne. Doch nun fasste er einen noch kühneren Plan:
»Wie wär’s, wenn der Herr zu einem Schüler wechselt, mit dem Er sprechen kann, ohne sich die Zunge zu verrenken, gerne zweimal wöchentlich gegen das Doppelte von dem, was der Graf löhnt – und dazu per Vorauszahlung?«
Da stieg der andere vom Wagen und kam auf den Meistbietenden zu.
»Wie alt ist der fragliche Knabe?«
»Elf Jahre.«
»Und wie ist es um seinen Verstand bestellt?«
Das wusste Sven nicht so genau. Deshalb konnte er auch gleich sagen, wie es war:
»Er kann die Uhr lesen, er kann zusammenzählen und auch abziehen, wenn er Futter abmisst, und Mist schaufeln kann er schon wie ein ganzer Kerl. Hingegen weiß er wohl nicht allzu viel darüber, wann Gustav III . gestorben ist. Sagtet Ihr, der wurde erschossen?«
Daraufhin reichte ihm der andere die Hand und stellte sich vor:
»Ich bin Kandidat Henriksson aus Växjö. Gräfin Bielkegren hat mich soeben aus ihren Diensten entlassen, weil ich ihre Frage, was ich von den Lernerfolgen ihrer Kinder hielte, freimütig beantwortet habe. Ich habe also Kapazitäten für einen neuen Schüler, und was könnte besser passen als ein Jüngling, der nicht nur Schwedisch spricht, sondern auch Mist schaufelt wie ein ganzer Kerl?«
So kam es, dass Sven, Esther und der elfjährige Algot mit Kandidat Henriksson um den Küchentisch der Bauernfamilie saßen. Letzterer erzählte, dass er Jura studiere, ihn aber Sprachen, Gesellschaft, Literatur, Politik und Geschichte schon immer interessiert hätten. Und dass er glaube, dem Knaben ein würdiger Wegbegleiter sein zu können.
»Am allerliebsten möchte ich lernen, wie Vaters Apparat zum Schwarzbrennen funktioniert«, sagte Algot. »Gehört das vielleicht auch zum Auftrag des Kandidaten?«
Da schritt Sven ein und sagte, alles zu seiner Zeit. Mit Schnapsbrennerei solle man nicht vor dem fünfzehnten Lebensjahr herumhantieren. Oder wenigstens nicht vor dem vierzehnten.
»Dann fangen wir stattdessen mit Kirchenlehre an«, sagte der Kandidat.
Das hätte er sich besser verkniffen.
»Dass Ihr mir das ja bleiben lasst, zur Hölle auch!«, polterte der Schweinebauer.
»Wie redest du, Sven!«, ereiferte sich Esther. »Noch dazu am Küchentisch!«
Sie war ja krank und wagte nicht an Besserung zu glauben. Wenn in nicht allzu ferner Zeit ihr Stündlein schlug und der Herrgott sie heimholte, wollte sie sich nicht zunächst einmal für ihren Ehemann entschuldigen müssen.
Der Schweinebauer zügelte sein Temperament. Esther wusste ja, dass er Propst Sikelius partout nicht ausstehen konnte. Die Vorstellung, der religiöse Lehrstoff könnte Algot womöglich gar zu einem kirchlichen Beruf verleiten, hatte ihm die Zunge entgleiten lassen.
Pfarrer werden? , dachte der elfjährige Algot. Bloß das nicht. Er wollte doch Schweinebauer sein. Aber das hier war ein Erwachsenengespräch. Er blieb still sitzen.
Allerdings hatte der Kandidat beruhigende Nachrichten, was das Religiöse anging. Er für seinen Teil hegte da beträchtliche Zweifel an bestimmten Bibelpassagen. Es war nur so, dass all jene, die ihren Katechismus beherrschten, es im Leben so viel leichter hatten. Denn bei allem Respekt vor dem Adel, den Bürgern und Bauern – gleich nach dem König war es nun mal der Priesterstand, vor dem die Menschen buckeln mussten.
»Habt Ihr übrigens gesagt, dass der Propst hier in der Gemeinde Sikelius heißt? Der ist mir vage ein Begriff. Als ganz junger Spund wurde ich in Växjo in die Kirchenbank gezwungen, als er dort das Sagen hatte. Damals war er barsch bis dorthinaus.«
»Seither ist es nicht besser geworden«, sagte Sven, der immer mit sich reden ließ und seine Meinung nötigenfalls auch mal ändern konnte.
Folglich wurde die Regelung getroffen, dass er seinen Sohn, ob mit oder ohne väterliche Billigung, zweimal die Woche zur Kirchenschule schickte, während der Kandidat ebenso oft die über zwölf Meilen von Växjö zum Schweinehof zurücklegte.
Was dann so aussah:
Montags und mittwochs lehrte der Propst Algot, dass Gott in sechs Tagen Himmel und Erde erschaffen hat, während der Kandidat die Dienstage und Donnerstage dazu nutzte, ihm zu erklären, dass eben diese Erde rund ist und sich um die Sonne dreht, anstatt umgekehrt, und es keine noch so ausgeklügelte wissenschaftliche Erklärung dafür gibt, wie sich Wasser in Wein verwandeln lässt.
***
Algot und der Kandidat hielten sieben Jahre lang regelmäßig Unterrichtsstunden ab und schlossen einander ins Herz. Als es an Algots achtzehntem Geburtstag ans Abschiednehmen ging, war der Kandidat längst kein Kandidat mehr, sondern ein vielversprechender Jurist mit besten Zukunftsaussichten. Für Algot war und blieb er dennoch der Kandidat.
»Vielen herzlichen Dank für diese Jahre, Herr Kandidat«, sagte er.
»Gustav III . wurde 1792 in der Oper erschossen«, sagte Papa Sven, der sich an seine allererste Begegnung mit dem jungen Mann erinnerte und ihm zeigen wollte, dass auch er das eine oder andere aufgeschnappt hatte.
»Und wer hat auf ihn geschossen?«, erkundigte sich der Kandidat lächelnd.
»Lasst gut sein«, sagte Sven.