Der gräfliche Spaziergang
Weit verstreut über die Bielkegren’schen Ländereien lagen sechsunddreißig Bauernkaten mit zugehörigen drei Hektar Getreidefeld plus Kartoffelacker. Sie wurden per Einjahresvertrag an einfache Leute aus der Gegend verpachtet, mit der Option auf Verlängerung, falls sie sich gut führten und pünktlich zahlten. Wenn sich ein Pächter totarbeitete (was ja früher oder später der Fall sein würde), mussten seine Hinterbliebenen wegziehen. Ins Armenhaus oder wohin sie wollten, das war nicht Sache des Grafen. An der herrschenden Gesellschaftsordnung, die der Herrgott gefügt hatte, sollte der Mensch nicht rütteln.
Wer sich hingegen nicht gut führte, bekam zwei Wochen Zeit, um Frau, Kind und etwaige Habe zusammenzupacken und ein anderes Dach über dem Kopf zu finden. Als ob es das gäbe.
Graf Bielkegren hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, an jedem Monatsletzten einen kräftigenden Spaziergang zu unternehmen, um seine Pachtgelder höchstpersönlich und bar auf die Hand einzutreiben. Bei sechsunddreißig weit verstreuten Pachtgrundstücken ergab das eine Strecke von gut sechs Meilen, bis er wieder im Sägewerk zurück war.
Gegen Ende seines Spaziergangs bog sich der Rucksack auf seinem Rücken von all den Reichstalern und Schillingen, doch da sich Geld gewichtsunabhängig leichter trägt als Steine, hatte der Graf keine Hemmungen, die ganze Prozedur alle dreißig Tage zu wiederholen.
In der ältesten, kleinsten und kümmerlichsten aller sechsunddreißig Katen wohnte der einundzwanzig Jahre junge Algot Olsson. Wie alle anderen hatte er einen Einjahresvertrag mit zwei Wochen Kündigungsfrist, falls er seinen Verpflichtungen nicht nachkäme, welche im festgelegten Pachtbetrag an Reichstalern nebst guter Führung bestanden.
Olsson war ja nun der Sohn des Schweinezüchters. Das konnte der Graf nicht so leicht vergessen, zumal er zu Beginn jedes Inkassospaziergangs an dem Elternhaus des jungen Mannes vorbeikam. Es durfte stehen bleiben, da es nunmehr als Futterspeicher für die arabischen Vollblutpferde der Gräfin diente, während er selbst das ehemalige Schlachthaus zur Schmiede umfunktioniert hatte.
Ärgerlicher war, dass der junge Algot offenbar auch nichts vergaß. Sondern sich nur zu gut erinnerte. Für die Beziehungen zwischen einem Grafen und seinem Pächter gab es ja ungeschriebene Gesetze. Beispielsweise war es Letzterem untersagt, den Grafen anzusprechen, wofern er nicht selbst angesprochen wurde. Auch durfte er seinem Grafen nicht in die Augen sehen, und er durfte ihm absolut nicht widersprechen, bei welchem Thema und in welcher Situation auch immer.
Dass Algot ganz der Vater war, daran gab es an sich nichts auszusetzen. Beispielsweise hätte es nichts geschadet, wenn auch nur ein Hauch von Gustavs Verstand auf Mauritz abgefärbt hätte. Doch der junge Mann auf Kråketorp führte sich auf, als wäre er immer noch in erster Linie Bauernsohn, obgleich er aufgrund seiner neuen Stellung sonntags in der Kirche achtzehn Bankreihen weiter hinten sitzen musste.
***
Es war der letzte Tag des Monats September, und Algot wusste, wer und was auf ihn zukam. Daher hatte er eine Brenn-Pause eingelegt, um der verräterischen Geruchsentwicklung vorzubeugen.
Kråketorp lag so günstig auf dem gewundenen Weg, dass der Graf auf etwa einer Meile Entfernung in Sicht kam. Daraufhin stellte sich der ehemalige Schweinezüchtersohn aus strategischen Gründen mit der Hacke in der Hand mitten in den Kartoffelacker und tat, als grabe er den Boden um, bis der Eintreiber nahe genug war; da erst blickte er auf.
»Ei, sieh an, einen recht schönen guten Tag, Herr Graf! Was verschafft mir die Ehre?«
Bielkegren schnaubte. Noch so eine Respektlosigkeit von diesem Tölpel!
»Stell Er sich nicht dümmer, als er ist, Olsson. Er weiß recht gut, weshalb ich hier bin.«
Er kam bereits zum dritten Mal, um die völlig überhöhte Pacht einzutreiben, und hoffte zum dritten Mal, dass Olssons Sohn um Aufschub bitten würde, den er natürlich nicht bekäme.
Aber Algot lächelte demütig, legte die Hacke beiseite, verließ den Kartoffelacker und zog den vorbereiteten Geldbeutel aus der Tasche.
»Danke für einen weiteren Monat«, sagte er. »Wenn der Herr Graf weiter nichts auf dem Herzen haben, mache ich mich gerne wieder an meine Kartoffeln …«
Versuchte der Pächterbengel ihn jetzt etwa auch noch zu verabschieden? Als wäre Gustav ein Knecht und kein Graf! Und übrigens: Weshalb hatte der Lümmel nicht Frau und fünf Kinder wie alle anderen? Reichte sein Geld deshalb so ewig lange?
»Die Weizenernte war dieses Jahr nicht sehr ergiebig«, sagte der Graf und ließ den Blick über das kärgliche Getreidefeld des Pächters schweifen.
Algot merkte sofort auf. Worauf der andere jetzt wohl hinauswollte?
»Nein, aber ich muss dankbar sein für den guten Bestand an Kartoffeln im Acker bei meiner Ankunft. Ich überlege, ihnen im Frühjahr mehr Platz zu gönnen, auf Kosten des Getreidefeldes.«
Kartoffeln brauchte er ja zur Branntweinproduktion.
Der Graf verfluchte sich selbst. Natürlich hätte er alles von Wert aus dem Kartoffelacker räumen lassen müssen, bevor der Bursche Zugang erhielt. Junggeselle und so weiter, niedrige Kosten … was, wenn er sich auch noch bis zum Frühling durchschlug und sich dann mit den Kartoffeln neue Geldquellen erschloss?
Natürlich konnte er den Unliebsamen unter Angabe rein fiktiver Gründe loswerden. Aber der Graf spürte an der Stimmung in der Gemeinde, eigentlich im ganzen Landkreis, dass ehrbare Leute meinten, er habe dem Schweinezüchter allzu übel mitgespielt. Jetzt also den Sohn in das nämliche Armenhaus schicken, in dem der Vater eben erst dahingesiecht war? Ja, nichts lieber als das, wenn es bloß nicht so nachteilig für ihn ausgesehen hätte.
Die Pacht nur dem Olsson und nicht den anderen fünfunddreißig Pächterfamilien zu erhöhen, kam ebenso wenig infrage. Der zahlte ja schon von allen am meisten.
Was nun aber all die anderen anging: Der Graf kam ins Grübeln, als ihm wieder einfiel, dass Olsson weder Frau noch Kinder hatte. Diese brauchten ja keine arabischen Vollblüter oder Schuhe aus Paris zu kaufen, um den fraglichen Pächter zu ruinieren, es reichte vollkommen, wenn sie ihm die Haare vom Kopf fraßen und tranken.
»Wie sieht es bei Olsson mit Verlobter und Familiengründung aus?«, fragte der Graf.
Das kam unerwartet! Denn bei Graf Bielkegren stand ja nun zweifelsfrei fest, dass er sich nie und nimmer mit wem auch immer zu harmlosen Plaudereien über x-beliebige Themen herabließ.
Verlobte und Familiengründung? Algot verfolgte weder mit dem einen noch mit dem anderen irgendwelche Absichten. Zumindest nicht, bevor er es geschafft hatte, eine deutlich spürbare Veränderung in seinem Leben herbeizuführen.
Er begriff, dass er in seiner Eigenschaft als Pächter dazu bestimmt war, als solcher zu leben und auf dem Weg zu seinem unausweichlichen Tod das Brot mit einer Ehefrau zu teilen, der dieselbe aussichtslose Zukunft bevorstand. Dazu mit zwei, drei, vier oder gar fünf Kindern, denn ein anderes Vergnügen, als sich miteinander abzugeben, würden sich Algot und seine bessere Hälfte nie leisten können. Eins oder sogar mehrere der Kinder würden trotz permanenter Unterernährung überleben und somit sicherstellen, dass auch die Obrigkeit der nächsten Generation einfache Leute zur Verfügung hatte, die sie ausbeuten konnte.
Aber Algot war ja seinerzeit zu etwas anderem geboren worden. Und er hatte vor, in jedem Fall eine Stellung wie seine Eltern zu erlangen, ehe alles Unglück dieser Welt die Familie heimgesucht hatte. Um das Unmögliche zu erreichen – einen Aufstieg in dem feudalen System, das im vielleicht ärmsten Land Europas herrschte –, waren Ideenreichtum und Glück gefragt. Aber vor allem anderen: Reichstaler.
Die konnte jemand wie Algot mit seinem schäbigen Getreidefeld und dem annähernd genauso schäbigen Kartoffelacker niemals säckeweise horten. Wenn da nicht der Destillierapparat gewesen wäre, den sein Vater ihm mit auf den Weg gegeben und der sich erst vor wenigen Tagen bezahlt gemacht hatte.
Algot hatte die zwanzig Reichstaler für die Monatspacht beiseitegelegt und den Rest in einer Kiste im Kriechkeller unter der Kate versteckt. Was für ein feierliches Gefühl er dabei empfunden hatte! Wenn er sich mit dem Apparat tüchtig ins Zeug legte und die Gleisbauer sich nicht so rasch Richtung Norden davonmachten, wäre die Kiste eines Tages voll. Was genau er dann machen sollte, konnte er nicht sagen, noch hatte er ja auch nicht allzu viel Gelegenheit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Von einer Verlobten, die der Reihe nach zu Ehe und Kindern führen würde, konnte freilich noch keine Rede sein, das wusste er. Eine innere Stimme sagte ihm, dass er das dem Grafen besser nicht so kundtäte, der ihn soeben aus heiterem Himmel gefragt hatte, wie es denn mit einer Verlobten und Familiengründung aussähe.
Also entschied Algot sich für eine möglichst unverfängliche Antwort:
»Ich habe noch nicht die Richtige gefunden, Herr Graf.«
»Nicht die Richtige gefunden?«
Da bist du verdammt noch mal nicht der Einzige , dachte Gustav.
Doch als gottesfürchtiger Mann, der er als Kirchenratsvorsitzender war, befleißigte er sich einer christlichen Ausdrucksweise:
»Wenn es Gottes Wille wäre, dass wir einsam lebten, hätte Er nicht die Frau aus der Rippe des Mannes nach Seinem Ebenbild erschaffen, meint Er nicht auch, Olsson?«
Algot hegte zwar erhebliche Zweifel an der Schöpfungsgeschichte, wollte aber nicht das Dach über dem Kopf verlieren.
»Gewiss doch, Herr Graf.«
Bielkegren kramte weiter in seinem Gedächtnis:
»Denkt daran, was in Kapitel siebzehn des Matthäusevangeliums geschrieben steht: Der Mann soll sich ein Weib nehmen und an ihm hangen, und werden die zwei ein Fleisch sein … Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.«
Algot hatte oft genug vom Kandidaten zu hören bekommen, dass er mit einem guten Gedächtnis gesegnet war. Noch dazu war er jahrelang als Schüler von Propst Sikelius an zwei Wochentagen in allgemeinen Glaubensfragen gedrillt worden.
»Ganz so steht es da nicht. Und übrigens ist es Kapitel neunzehn. Aber ich habe mir überlegt, am Samstag zum Scheunentanz zu gehen. Wer weiß, vielleicht begegnet mir dort meine Zukünftige?«
Da war er schon wieder! Dieser Tonfall. So überheblich. Als wäre der Graf der Pächter und der Pächter der Graf. Nicht auf Kapitel siebzehn oder neunzehn kam es an, sondern darauf, dass sich der Tölpel mit der Kartoffelhacke in der Hand unterstand, denjenigen zurechtzuweisen, von dem sein ganzes Leben und seine Zukunft abhingen.
Der Graf war mit seiner Geduld am Ende.
»Olsson, ich lasse Euch noch den Winter und Frühling über gewähren. Wenn Ihr danach keine Zukünftige gefunden habt, ist der Pachtvertrag null und nichtig.«
Algot hatte nicht gedacht, dass Bielkegren so weit gehen würde.
»Aber gnädiger Herr, ich bitte darum …«, setzte er an, bevor ihm das Wort abgeschnitten wurde.
»Ich bin nicht gnädig! Aber ich bin ein Ehrenmann und gedenke es zu bleiben. Auf meinen Ländereien hat niemand zu wohnen, der nicht Verstand genug hat, auf den Herrn im Himmel zu hören.«
Sprach der Graf, sah zu, dass er nach Hause kam, speiste mit Gräfin und jüngster Tochter zu Abend, wünschte ihnen eine gute Nacht, schlich sich in seinen Weinkeller, wohlgemerkt bei verschlossener Tür, falls eine der beiden auf die Idee kommen sollte, ihm zu folgen – und schlüpfte aus dem Schloss.
Es war ja Mittwoch.