Wolfswinter
1852 – 1853
Auf mehrere strenge Winter folgte ein noch strengerer. Bei Algot daheim war es dennoch warm und gemütlich. Der Apparat lief ja fast ständig, die Reichstaler trudelten in die Kasse, die Kiste im Kriechkeller war bereits zu einem Fünftel gefüllt. Und das, obwohl der unfreiwillige Pächter da bereits in einen immer größeren Bestand an Krügen investiert und notgedrungen auf dem Växjöer Markt hatte Kartoffeln einkaufen müssen, als seine eigenen zur Neige gingen.
Je kälter das Wetter, desto mehr Stoff brauchten die Gleisbauer, um sich warm zu halten. Schnee und Frost verlangsamten obendrein zum Glück ihre Arbeit, sodass Algot Geld an ihnen verdienen konnte. Hinter Vislanda waren sie noch nicht einmal ganz bis Alvesta und in Algots heimische Scholle vorgedrungen.
Aber Mitte Januar kam man nicht mehr mit dem Pferdewagen voran. Nun war Brunte keiner, der sich von einem bisschen Wetter ins Bockshorn jagen ließ; Algot sattelte ihn und schaffte es, hoch zu Ross sechzehn Krüge zu transportieren: sechs in den Satteltaschen an jeder Flanke und vier auf dem eigenen Rücken. Die Gleisbauer, die am Verdursten gewesen waren, erklärten sich vor lauter Seligkeit damit einverstanden, dass der Preis umständehalber jetzt nicht mehr bei zwei, sondern drei Reichstalern pro Krug lag. So war das nun mal mit dem Prinzip von Angebot und Nachfrage.
Indessen ging die Produktion unbeirrt ihren stetigen Gang. Wenn sich der Winter verzog – falls er das jemals tat –, konnte Algot den ganzen Wagen vollladen.
***
Für Graf Bielkegren war dieser Winter noch beschwerlicher als üblicherweise. Erst verbreitete sich die Tuberkulose in einer seiner Tagelöhnerunterkünfte; acht Tagelöhner verstarben binnen kürzester Zeit, was zu Lücken in der Produktionskette führte. Der Vorarbeiter Björk war eigentlich ein erfahrener Mann, doch diesmal war einfach der Wurm drin. Als er einem der Übrigen befahl, zur eigenen Arbeit die eines der Toten in der Kette zu übernehmen, kam es zu dem Malheur, bei dem dieser sich den Arm absägte. Es dauerte etwas, bis er verblutet war, doch dann fehlten dem Grafen neun Mann!
Zur Strafe erhielt Björk den Auftrag, des jungen Tagelöhners ebenso junge Frau vor die Tür zu setzen, die konnte ja nicht in der Unterkunft bleiben und nutzlos Platz wegnehmen. Mit den acht Tuberkulosefällen war der Graf nach folgendem Prinzip verfahren: Beileid bekunden und den Leidtragenden fünf Reichstaler als Beitrag zu den Umzugskosten zustecken, mit der Mitteilung, sie müssten erst in drei Wochen ausziehen.
Der Vorarbeiter grämte sich über das Missgeschick mit dem abgesägten Arm. Aber der Graf wollte nichts mehr davon hören. Außerdem hatte Björk die Umzugsbeihilfe für die Witwe auf vier statt fünf Reichstaler herunterhandeln können. Der Tote hatte ja erst ein paar Monate bei ihnen gearbeitet, und das Paar war kinderlos.
»Sehr gut, Björk! Dann sagen wir: Schwamm drüber. Jetzt musst du neun Neue zum Anlernen finden. Auch noch mitten im Winter!«
Doch damit fing das ganze Elend überhaupt erst an. Als der Schnee schon meterhoch lag, schlug das Wetter um – in die falsche Richtung! Es wurde kälter, als so ziemlich jeder es je zuvor erlebt hatte. Ganz weit oben im hohen Norden konnte es schon mal minus dreißig Grad werden, aber doch nicht so weit südlich wie in Småland! Der Bach gefror zu Eis, Wasserrad und Säge standen still.
Das Diner verlegte man vorübergehend aufgrund der Kälte aus dem Spiegelsaal in die große Küche, wo sich der Graf nun gezwungenermaßen die Sorgen der Gräfin, weil ihre arabischen Vollblüter froren, sowie das Verlangen der Tochter nach einem Marderpelz anhören musste, damit es ihr nicht wie den Pferden erginge. Seine Gattin stellte Gustav zufrieden, indem er ihr zusätzliche Heizöfen im Pferdestall versprach. Die Tagelöhner – die ohnehin nichts zu tun hatten, solange das Sägewerk stillstand – mussten zusehen, wie sie sie rund um die Uhr befeuerten.
Sophia ruhigzustellen war da schon schwieriger.
»Na gut, dann schreib halt und bestell einen Pelz!«, rang er sich schließlich durch.
Wohl wissend, dass die Postkutsche bei diesem Wetter ganz genauso stillstand wie das Sägewerk. Der Marderpelz der Tochter würde wohl genau zur rechten Zeit eintreffen, wenn sie sich stattdessen ein neues Badekostüm wünschte.
***
Der Graf fragte sich schon manchmal, ob er zu gutmütig war. Einerseits waren da die Gräfin und die Jüngste, denen er gewohnheitsmäßig nachgab, damit er die Mahlzeiten (und das Dasein im Allgemeinen) ertrug. Aber die Tagelöhner?
Sie hatten freies Logis und bekamen alljährlich Mehl und Kartoffeln zugeteilt, außerdem gab es eine Weihnachtsgratifikation für alle, die den Grafen oder seinetwegen auch die Gräfin im Lauf des Jahres nicht zu sehr verärgert hatten. Und dann auch noch ganze sieben Reichstaler jährlich in Form von Produkten aus dem gräflichen Kolonialwarenladen. Des Weiteren gehörte zu jeder Tagelöhnerwohnung ein Gemüsegärtchen, in dem sie beispielsweise Dill, oder was auch immer sie wollten, anbauen konnten. Oder vielleicht nicht ganz, was sie wollten, viel mehr als Dill hatte da genau genommen nicht wirklich Platz.
Eines Abends beim Rehrücken führte die Gräfin das Argument ins Feld, dass der Lohn der Tagelöhner aufgrund der harten Zeiten erhöht werden sollte.
Die bekamen doch überhaupt keinen Lohn! Was stellte sie sich eigentlich vor, was aus der Bilanz des Sägewerks werden sollte, wenn er damit anfing?
»Und die Weihnachtsgratifikationen? Fallen die nicht zu mager aus?«
»Weißt du, wie viel sie bekommen?«
Natürlich nicht.
Die Fürsprache der Gräfin für die Tagelöhner bewegte sich irgendwo zwischen rührend und regelrecht dummdreist. Blieb die Frage, die der Graf sich selbst stellte:
Ob er womöglich gar zu gutmütig war?
Gewiss, er hatte seit vielen Jahren ein Prinzip weitergeführt, das der alte Graf, Gustavs Vater, hochgehalten hatte: alljährlich mindestens einer Tagelöhnerfamilie kündigen und sie hinauswerfen. Sowie einer weiteren Familie die Weihnachtsgabe entziehen. Und zwar ganz gleich, ob mit oder ohne Grund.
So hielt man die einfachen Leute auf Trab.
Doch jetzt hatte Björk neun Arbeiter zu wenig, wenn der Winter endlich abzog und das Sägewerk wieder in Gang kam. Und Gustav wusste, dass die Übrigen froren und hungerten. Daher beschloss er, dieses Jahr überhaupt keine Kündigungen auszusprechen. Die Weihnachtsgaben waren ja schon verteilt, es ging schließlich auf den Februar zu.
Zu gutmütig? Ja, vielleicht. Aber er überschüttete die Tagelöhner jedenfalls nicht mit Reichstalern, wie Antoinette es sich offenbar wünschte. Niemand konnte abstreiten, dass der Gutsbetrieb im Allgemeinen und das Sägewerk im Besonderen so liefen, wie sie sollten. Das hieß, außer wenn der Winter nun mal so war, wie er war. Und der Kleinigkeit, dass der Betrieb auch nach Jahrzehnten noch keinen Gewinn abwarf.
Zu all dem Nicht-Lukrativen gehörte ein Graf, der seiner gesellschaftlichen Stellung nicht gerecht wurde. Das konnte das ganze politische System infrage stellen. Daher verkaufte Gustav Jahr für Jahr dem Königshaus ein Stück von seinem Wald. Dabei ließ er äußerste Diskretion walten und sicherte sich mit langfristigen Verträgen fortlaufende Nutzungsrechte. So konnte er die Gräfin mit ihrer ständig anwachsenden Anzahl arabischer Vollblüter gnädig stimmen, Sophia konnte weiterhin Schuhe und was sie sonst noch nicht brauchte aus Paris bestellen – und auf Schloss Kronogården konnte weiterhin der König mit seinem Hofstaat, immer wenn sie ihr Weg hier vorbeiführte, mit Pomp und Pracht empfangen werden.
Und niemand hatte Grund, daran zu zweifeln, wer auf mehrere Tagesritte Entfernung die wichtigste Person im ganzen Land war.