Der letzte Tag im Monat Mai
1853

Als der Winter in Frühling überging, war kaum etwas davon zu spüren. Der Schnee schien nie mehr weichen zu wollen. Algot wusste, dass nur wenige Pächter mit dem kümmerlichen Ertrag über die Runden kämen, den die Ernte des Jahres 1853 einzubringen versprach.

Wetter und Kälte ungeachtet, ließ der Graf während des ganzen Winters nicht eine Wanderung zum Monatsletzten ausfallen. Am achtundzwanzigsten Februar herrschten neunzehn Grad minus, kräftiger Wind und Schneefall. Dennoch sah Algot ihn schon von Weitem heranstaksen. Da musste sich der illegale Schwarzbrenner flugs etwas überziehen und in die Kälte hinaus, um dem Grafen gegenüberzutreten. Ihn ins Haus zu lassen, ging ja nicht.

Allerdings wurde die Drohung vom letzten Herbst, von wegen Verlobte und Familiengründung, mit keinem Wort erwähnt. Nicht einmal am letzten Tag im März. Oder im April.

Algot schöpfte so langsam Hoffnung, dass die Sache mit der Heirat über den Winter in Vergessenheit geraten sein könnte. Unter einer Schneewehe verschwunden.

Daher war es schon gelinde gesagt eine Überraschung, was am letzten Tag im Monat Mai geschah.

Bielkegren schlug am Anfang des Pachtgesprächs zunächst eine versöhnliche Note an:

»Ich muss schon sagen, Er hat meine Kate ganz ansehnlich hergerichtet, Olsson.«

Algot verstand sofort, dass etwas Unangenehmes folgen musste. Ein umgänglicher Graf war ein Graf mit Hintergedanken.

»Ja, oder sagen wir so: Ich habe alles, was ich zur Pacht bekam, gegen haltbare Bestandteile eingetauscht«, sagte der Schwarzbrenner ohne Respekt vor dem ungeschriebenen Gesetz, dass Pächter Grafen nicht berichtigten.

Aber Bielkegren ließ sich davon nicht verstimmen. Dafür war er gedanklich viel zu zielorientiert.

»Wie dem auch sei«, sagte er und kam allmählich zur Sache: »Seit unserem letzten Gespräch haben ja einige Scheunentänze stattgefunden. Was ist mit der Verlobten, die zu präsentieren Er mir versprochen hat, Olsson?«

Den ganzen Winter lang hatte der Graf reichlich Zeit gehabt, über die moralischen Aspekte seiner Andeutung gegenüber Sikelius nachzudenken, dass der missliebige Pächter möglicherweise Neigungen weit jenseits der von Gott allen Menschen auferlegten Grenze verfolgte. Ging es wirklich an, dem Propst derartig ins Gesicht zu lügen?

Die Antwort, die er sich gab, lautete: Ja! Denn hierbei handelte es sich um eine Notlüge , in etwa so wie jedes Mal, wenn Gustav seine Gräfin meine Liebste nannte.

Bielkegren war schließlich eine zentrale Figur, was das Wohlergehen der Gemeinde, des Landkreises und gewissermaßen des ganzen Landes betraf. Objektiv betrachtet, war es wichtig, dass es ihm gut ging, was ihm aber recht schwerfiel, solange er immerzu an den verstorbenen Schweinezüchter erinnert wurde. Wenn der Bauernsohn Olsson von den gräflichen Ländereien verjagt wurde, würde es ihm zwar ebenso schlecht gehen wie dem Grafen jetzt. Doch im größeren Zusammenhang spielte das eine äußerst untergeordnete Rolle, denn wie vielen diesem Olsson Gleichgestellten ging es nicht schlecht, was die gesellschaftliche Entwicklung jedoch kaum beeinträchtigte?

Beispielsweise dieser Tagelöhner neulich, der, der sich den Arm abgesägt hatte und gestorben war: allemal unerfreulich. Doch wirkte sich das etwa auf die Außenhandelsbilanz zwischen Schweden und England aus? Der Graf hingegen exportierte sowohl Bauholz als auch fertige Dielenbretter. Es gab eben ein für alle Mal gewisse Unterschiede zwischen solchen und solchen. Wenn sich gewisse Leute doch nur damit abfinden und endlich aufhören könnten, von Wahlrecht und dergleichen zu schwadronieren!

Eine Notlüge war also gar keine Lüge! Und jetzt war Olsson fällig und musste sein Versprechen einer Verlobung einlösen.

»Ich habe ja aber nur versprochen, es zu versuchen «, sagte Algot. »Wenn wir ehrlich sind.«

Wenn wir ehrlich sind?

Zweifelte der Tölpel etwa die Ehrlichkeit des Grafen an? Jetzt geriet Bielkegren in Wut.

»Schluss mit den Spitzfindigkeiten! Es ist Ihm also misslungen?«

Algot gab mit Worten sein Bestes, um seinen Kopf aus der Schlinge des Rauswurfs zu ziehen. Bislang war es nicht so gut gelaufen; er musste sich etwas Gescheiteres einfallen lassen.

»Ich halte Tag und Nacht die Augen offen, Herr Graf. Aber es war ja nun ein langer, strenger Winter, der nicht direkt zu Verabredungen und noch weniger zu romantischen Spaziergängen einlud. Aber nun zieht ja doch noch der Frühling ins Land, und man kann nie wissen, wann die Liebe zuschlägt, so raffiniert, wie sie ist.«

»Die Liebe?«, schnaubte Bielkegren. »Was hat die mit der ganzen Sache zu tun?«

Der Graf hatte sich eine Rede zurechtgelegt, die zum gewünschten Ergebnis führen sollte. Und jetzt war die Zeit reif.

»Das Eis taut erst seit voriger Woche«, hob er an.

Algot hatte keine Ahnung, worauf der Schlossherr hinauswollte.

»Wie unangenehm für uns alle, Herr Graf«, versuchte er es.

»Und es wird noch viel unangenehmer«, sagte Bielkegren.

Er und seine Gattin hätten bei jedem Diner im Spiegelsaal den lieben Herrgott nicht nur gebeten, das Moorhuhn oder die Forelle zu segnen, die das Dienstmädchen aufgetischt habe, sondern ihn auch um eine mildere Witterung angefleht.

»Immer wenn wir abends bei Tisch saßen, Olsson. Den ganzen Winter und Frühling hindurch!«

»Wenn Sie mich fragen würden, so wäre mein Gedanke, der Herr Graf und seine Frau Gemahlin hätten die lang anhaltende Frostperiode nicht gar so persönlich nehmen müssen. Gott hat ja so furchtbar viel auf dem Zettel …«

Das kam nicht so gut an.

»Pfui, schäm Er sich, Lümmel! Hätte Er seine Bibel studiert, so wüsste Er, dass der Herr allmächtig ist! Es versteht sich von selbst, dass wir Seinen Zorn über uns gebracht haben! Warum sonst sollte die Witterung unserem wertvollen Betrieb so übel mitspielen?«

Algot dachte sich, mit Sicherheit könne man über das Wetter einzig und allein wissen, dass es wechselhaft war. Glaubte der feine Herr, den er vor sich hatte, wirklich, das Tun und Lassen von ihm und seiner französischen Frau hätten Einfluss auf das Klima?

Na, und ob.

»Nachdem wir das Unterste zuoberst gekehrt hatten, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir einen Pächter mitten unter uns haben, der in Sünde lebt.«

»In Sünde?«, wunderte sich Algot.

Nach seiner eigenen Definition war es das Letzte, was man ihm vorwerfen konnte.

»Hat Er etwa vergessen, was in Kapitel siebzehn des Matthäusevangeliums steht?«, polterte der Graf.

»Im neunzehnten«, berichtigte Algot ihn, ehe er fortfuhr: »Und jetzt denken der Herr Graf und die Frau Gräfin, die Schneeschmelze hätte schon im März eingesetzt, wenn ich mich nur früh genug verheiratet hätte?«

Algot wusste ja nun, dass rein gar nichts davon besser wurde, wenn er Bielkegren provozierte. Aber es gab doch gewisse Grenzen, wie viel Dummdreistigkeit man ertragen konnte.

Der Graf war wütend, aber nicht auf den Kopf gefallen. Er registrierte den aufsässigen Ton seines Pächters. Der Schelm gehörte umgehend in hohem Bogen vor die Tür gesetzt, wenn Graf und Propst es nicht anders eingefädelt hätten. Gustav beschloss, bei dem Plan zu bleiben.

»Morgen Nachmittag bin ich wieder da, Olsson. Und zwar mit dem Amtmann. Falls Er mir dann eine Verlobte mit Ehegelöbnis vorweisen kann, will ich fünfe gerade sein lassen. Ansonsten bleibt mir nichts anderes übrig, als Ihn vor die Tür zu setzen. Verstanden?«

Algot dachte, dass er nun eine Frau finden, mit ihr ins Gespräch kommen, sich in sie verlieben, ihr den Hof machen, lange Spaziergänge mit ihr in der Frühjahrssonne unternehmen, ihr vielleicht einen Kuss rauben, seinen ganzen Mut zusammennehmen, vor ihr auf die Knie gehen, um ihre Hand anhalten und ein »Ja« zur Antwort erhalten musste.

All das binnen vierundzwanzig Stunden.

»Ich habe verstanden, Herr Graf. Dann sehen wir uns morgen wieder.«

Nun wurde ihm mehr als deutlich, dass er ein Problem hatte.