Algot und der Propst

Im Augenblick hatte Algot gewisse Mühe damit, seine Gedanken zu ordnen. Einerseits wollte er nicht eine Minute bei der Suche nach einer neuen Unterkunft verlieren. Sonst würde er schnurstracks als Landstreicher gelten, und die wurden von Rechts wegen eingesperrt.

Andererseits war Geld der Schlüssel zum Überleben. Eigentlich musste er so viel wie möglich brennen und verkaufen, verkaufen und brennen, bevor die Gleisbauer die andere Seite der Bezirksgrenze erreichten.

Natürlich bloß, wenn es ihm nicht gelang, einen Reisepass zu bekommen. Den nur der Oberbefehlshaber Seiner Majestät in der Bezirksverwaltung in Växjö ausfertigen konnte. Die Bezeichnung allein verriet ja schon, wie mühsam sich das Ganze womöglich gestaltete. Aber vor allem – womit sich Algots Gedankenkette endgültig schloss – brauchte er für einen Reisepass zunächst einmal ein priesterliches Attest. Und wer stellte dergleichen aus, wenn nicht Propst Sikelius in Aringsås!

Der Graf hatte ihm ja deutlich genug zu verstehen gegeben, dass er bei seinem ganzen Brimborium mit Verlobter und Familiengründung den Propst hinter sich wusste. Sobald Sikelius von den letzten Neuigkeiten, sprich seinem Rauswurf, erfuhr, würde Algot ihn nie im Leben zur Bezeugung bewegen können, dass er von unbescholtenem Leumund war. Nein, dann würde er der Bezirksverwaltung lediglich Bezeichnungen wie von üblem Leumund und obdachlos vorzuweisen haben.

Woraus folgte: Der Pächter, der kein Pächter mehr war, musste vor dem Grafen beim Propst sein!

An diesem Tag war es noch nicht zu spät. Die Küsterei müsste noch eine Dreiviertelstunde lang geöffnet sein, und mit der richtigen Aufmunterung würde Brunte ihn bestimmt dort hinbringen, bevor Sikelius zumachte und heimging.

Gesagt, getan. Algot spannte sein Pferd aus dem Fahrgeschirr aus und legte ihm stattdessen den Sattel auf.

»Zum Propst!«, sagte er mit einem Zungenschnalzer zu Brunte. »Ich zeig dir den Weg!«

Eine halbe Stunde später waren Pferd und Reiter am Ziel. Algot brachte seinen Freund zum Stehen, sprang ab und sagte, dass er gleich wiederkäme. Das Pferd nickte; Algot und er verstanden sich ja.

Und so lief die Begegnung mit dem Propst ab:

»Guten Tag, Herr Olsson. Ich muss schon sagen, welch überraschender Besuch. Kommt Ihr, um das Aufgebot zu bestellen?«

Und Sikelius schielte verstohlen an Algot vorbei, wo in dem Fall eine schüchterne junge Frau zur Bestätigung hätte stehen müssen.

»Ansonsten verstehe ich nicht, was Euch hierherführt. Im Kirchengestühl seid Ihr ja nun nicht allzu oft anzutreffen.«

In den Kirchenbänken wurde man nach Rang und Namen platziert. Seit vergangenem Herbst war Algot so weit nach hinten versetzt worden, dass der Propst unmöglich wissen konnte, ob er teilnahm, was er folglich tunlichst unterließ.

»Als der strebsame Pächter, der ich ja nun geworden bin, bin ich vielleicht dem direkten Sichtfeld des Herrn Propstes entzogen worden, auch wenn ich allemal fleißig Kirchengang pflege. Am Sonntag habe ich mir die ergreifenden Worte des Herrn Propstes über unseren Herrn Jesus Christus ungemein zu Herzen genommen.«

Das war zwar riskant, aber wozu war der Propst Propst, wenn er während eines ganzen langen Gottesdienstes nicht irgendwann auf Jesus zu sprechen kam?

Da sich Sikelius auf die Schnelle nicht erinnern konnte, was er am letzten Sonntag gepredigt hatte, entschied er sich, nach vorn zu schauen:

»Und was führt Ihn hierher, Olsson?«

Algot antwortete, er bitte untertänigst darum, ein priesterliches, ausgefertigtes Attest zu erhalten, in welchem der Propst bezeuge, wer er war und dass er von unbescholtenem Leumund sei.

Sikelius sah sein Gemeindemitglied, das eventuell finstere Geheimnisse vor ihm verbarg, argwöhnisch an. Er fragte sich, wie der Graf wohl mit dem Vorhaben vorankam, über das sie vergangenen Herbst gesprochen und an das sie einander im Winter erinnert hatten. Olsson müsste doch nun bald entweder hinausgeworfen oder verheiratet sein? Das musste Sikelius in nächster Zeit mit Bielkegren besprechen. Solange er nichts Näheres wusste, konnte er nur seines Amtes walten.

»Aus welchem Grund braucht Er ein priesterliches Leumundszeugnis, Olsson?«

Algot fiel auf, dass er nicht mehr Herr und Ihr sagte. Jetzt galt es, nicht zu lügen und doch einen Bogen um weite und wichtige Teile der Wahrheit zu machen:

»Die Zeiten sind schwer … und das Misstrauen nimmt allerorten überhand. So viele Leute treiben sich herum, da wäre es beruhigend für mich, ein Ausweispapier zu besitzen, das darlegt, wer ich bin und dass ich mich redlich im Geiste des Herrn mühe. Für den Fall, dass jemand an mir zweifeln sollte.«

Algot hörte Sikelius verächtlich schnauben. Mit dem Geiste des Herrn hatte er vielleicht etwas zu dick aufgetragen.

»Bald zweiundzwanzig und immer noch unverheiratet«, murmelte der Propst. »Aber Er soll sein Leumundszeugnis haben.«

In der Hauptstadt waren neue Richtlinien erlassen worden, wie so ein Dokument auszusehen hatte, aber Propst Sikelius, schon über sechzig Jahre alt, hielt grundsätzlich nichts von Neuerungen und vertrat vor allem die Meinung, niemand in Stockholm brauche ihm vorzuschreiben, wie er seine Pfarrei zu führen habe. Somit schrieb er frisch von der Leber weg:

Hiermit wird bezeugt, dass Algot Olsson, geboren den Sechsten des Monats Juni im Jahre des Herrn 1831, seit dem Sommer des Jahres 1852 als Pächter mit festem Wohnsitz auf den Ländereien des ehrbaren Grafen Bielkegren sesshaft ist.

Des Weiteren wird bezeugt, dass Herr Olsson sich weder bei der Katechismusprüfung hervorgetan noch zuvörderst während seiner Schulzeit unter kirchlicher Leitung vor seinen Mitschülern ausgezeichnet hat, jedoch auch nicht von bescholtenem Leumund ist. Er hat weder Ehefrau noch Kinder. Er ist geringfügig über der Durchschnittsgröße, von durchschnittlicher Statur, Augenfarbe: grün, und weist keine körperlichen Gebrechen auf. Haarfarbe: dunkelblond.

Algot fand es kleinlich, seine Ergebnisse der häuslichen Prüfung in dem Leumundszeugnis mit aufzuführen und zu erwähnen, dass er als Kind meist still in der Kirchenschule gesessen und zugehört hatte. Er war sich ziemlich sicher, dass er den verdammten Katechismus auswendig herbeten konnte, hatte sich nur nie bemüßigt gesehen, sich gegenüber dem pompösen Mann im Talar besonders hervorzutun.

Und das rächte sich jetzt.

Doch das wirklich Wichtige am priesterlichen Attest war schließlich das mit dem nicht bescholtenen Leumund , was ja nun eine perfide Verdrehung von unbescholten war, worum er gebeten hatte. Im günstigsten Falle würde es auch so für die Bezirksverwaltung in Växjö ausreichen.