Beiderseitige Sehnsucht
An diesem Abend war Graf Bielkegren bei Tisch exzellenter Laune. Und zwar so auffallend, dass die Gräfin sich fragte, was da wohl im Busch lag. Für gewöhnlich hütete sie sich davor, ihn nach seinen Betätigungen zu fragen, um sich nur ja nicht in selbige mit hineinziehen zu lassen.
»Dein Tag scheint erfreulich verlaufen zu sein, mein Bester«, sagte sie. »Hast du mir etwas zu erzählen?«
Gustav strahlte.
»Gewiss doch! Jetzt hört her!«, sagte er, womit er selbst die Tochter Sophia ins Tischgespräch mit einbezog.
Um zu erzählen, dass er soeben den aufsässigen Sohn des Schweinezüchters von dem Pachtgrundstück vertrieben habe, das ihm vor einiger Zeit zugeteilt worden war.
»Zugeteilt?«, wunderte sich die Gräfin.
»Er hat natürlich Pacht dafür entrichtet«, korrigierte sich der Graf. »Doch damit nicht genug, hat er doch tatsächlich Boden, Wände und Dach auf eigene Kosten ausgetauscht, bevor ich ihn von dort verjagt habe! Wie dumm kann man sein?«
Gustav grinste über das ganze Gesicht.
Sophia zuckte mit den Schultern (woher sollte sie auch wissen, wie dumm man sein konnte) und versank wieder in eigene Gedanken. Alldieweil verstand Antoinette, dass von ihr eine Reaktion erwartet wurde. An und für sich hegte sie keine leutseligen Sentiments für den verstorbenen Schweinezüchter oder seinen Sohn. Ganz im Gegenteil hatte sie den Bauern steif und fest im Verdacht, damals, als sie ihm ihren Wunsch kundgetan hatte, seinen Hof zu kaufen, etwas Unverschämtes gesagt zu haben, nur eben auf Schwedisch und daher unverständlich.
Aber wenig später hatte der Sohn ja Vater und Mutter verloren und war stattdessen zu einem Leben als Pächter verurteilt worden. Und jetzt nicht einmal mehr das.
»Meinst du nicht, dass du ein wenig zu hart mit dem jungen Mann ins Gericht gegangen bist?«
Das war beileibe nicht die Reaktion, die der Graf sich gewünscht oder erwartet hatte.
»Hart? Was meinst du wohl, was aus Kronogården geworden wäre, wenn nicht jemand mit harter Hand das Sägewerk zum Florieren gebracht hätte?«
Gustavs gute Laune war dahin.
Antoinette beschloss, sich sowohl aus dem Gespräch als auch vom restlichen Diner zu verabschieden.
»Du hast gewiss recht, mein Lieber«, sagte sie und legte Besteck und Serviette auf dem Teller ab. »Ich danke für das Essen und begebe mich in mein Gemach.«
Jetzt war Gustav regelrecht verstimmt:
»Wir sind doch nicht mal beim Dessert angelangt.«
Aber Antoinette war schon auf dem Weg zur Tür.
»Darauf verzichte ich heute, ich habe noch einen Brief zu schreiben.«
»An deinen verdammten Bruder, wen sonst!«, rief er ihr hinterher.
Das Funkeln in den Augen der Gräfin konnte er am Tisch nicht sehen.
Niemand durfte sich so respektlos über Gérard äußern. Am allerwenigsten der, der es soeben getan hatte.
***
Antoinette nahm an ihrem Schreibtisch Platz, legte ein Blatt Papier vor sich hin und griff zum Gänsekiel. Wo sollte sie anfangen? Mit dem, was soeben bei Tisch geschehen war? Oder damit, dass Gustav sich in letzter Zeit noch öfter als sonst in den Keller zurückzog?
Nein, was sie mehr als alles andere auf dem Herzen hatte, war die Frage, wie es ihrem geliebten Bruder und dem Weingut ging. Die arabischen Vollblüter waren eine reine Freude, und sie wollte gern über Gérard ein oder zwei hinzuerwerben, wenn ihm das von Nutzen war. Im Übrigen konnte er schon bald mit einer weiteren Bestellung von Sophia rechnen, Gustav musste nur vorher ein bisschen weichgeklopft werden.
Apropos, wie sah es bei ihm mit der Liebe aus? Hatte ihr lieber Bruder ihr auf diesem Gebiet Neuigkeiten mitzuteilen? Dass er andere Männer begehrte, hielt er gewiss nach wie vor geheim? Auch wenn die Kirche in ihrer Heimat nicht gar so grausam dagegen vorging wie hier in Schweden, war sie doch sicherlich immer noch grausam genug? Das lag ja schließlich in der kirchlichen Natur, nicht wahr?
Die Zwillinge schrieben einander seit bald fünfundzwanzig Jahren dreimal wöchentlich. Sie teilten alles miteinander, ob klein, ob groß. Aber die Entfernung zwischen ihnen wollte beiden schier unüberwindlich scheinen. Bestenfalls brauchte jeder Brief drei Wochen für den weiten Weg. Gelegentlich einen Monat. Oft genug zwei. Wenn der Winter besonders streng war (wie der, welcher gerade hinter ihnen lag), konnte es gar vier ganze Monate dauern. Antoinette und Gérard hatten auch erfahren müssen, dass in unruhigen Zeiten gar keine Briefe ankamen, zuletzt etwa während der Revolution von 1848.
***
Gérard Lemots Verwalter war nicht nur so schön, dass sein Anblick Gérard den Atem verschlug, sondern auch einfühlsam und unternehmungslustig. Jeden Tag machte er sich zum Postamt auf, um nach Briefen aus Schweden für den Marquis zu fragen. Meist erhielt er abschlägige Antworten, doch mitunter trafen Bündel mit drei, fünf oder sieben Briefen ein.
An diesem Tag reichte es, dass der Verwalter den Kopf schüttelte, als die Männer sich in die Augen sahen. Keine Briefe; seit dem letzten Mal waren nun wohl schon zehn Tage vergangen.
Der Marquis dachte immer häufiger an seine Schwester dort oben im hohen Norden. Vielleicht lag es daran, dass bei ihm mittlerweile alles so gut lief? Die Weinlese versprach ergiebig zu werden. Das Wetter war ihm hold. Bei den Geschäften mit den Vollblütern als Zwischenhändler agieren zu können, hatte ihm wahrhaftig durch die schweren Jahre direkt nach der Revolution geholfen, doch nun war er nicht mehr auf finanzielle Unterstützung seiner Schwester angewiesen. Natürlich schickte er der jungen Sophia trotzdem gerne frische Sortimente der neuesten Mode – die Nichte, die noch nicht einmal auf der Welt gewesen war, als Antoinette und Gérard sich zuletzt getroffen hatten! Und selbstverständlich neue Kisten mit Wein! Was, wenn der abscheuliche Graf erfuhr, von welchem Gut er über all die Jahre seinen Rebensaft bezogen hatte?
Der Gedanke brachte Gérard zum Lächeln. Und schon fehlte ihm Antoinette mehr denn je.