Algot H. Otterdahl

Helmut saß bereits am Tisch, als Algot hinzukam.

»Bitte setz dich. Wenn jetzt nur meine Tochter hier und obendrein weiblich genug wäre, hätten wir eine Tasse Kaffee bekommen können, aber es muss auch so gehen.«

»Ich koche uns gerne welchen«, sagte Algot und stand in dem Moment auf, als Anna Stina zur Küchentür hereinkam.

»Ich hab gehört, was du gesagt hast, Vater.«

Helmut verzog das Gesicht.

»Setz dich wieder, Algot«, fuhr sie fort. »Ich kümmere mich um den Kaffee. Ich koche zwei Tassen, eine für dich und eine für mich. Der grummelige Deutsche kann Brunnenwasser trinken.«

Helmut entschuldigte sich bei seinem Kompagnon.

»Du siehst, wie man mir mitspielt.«

Aber Algot war immer noch ganz vernarrt in die eigensinnige Anna Stina und schlug sich auf ihre Seite.

»Wenn sie mich nur nicht hätte abblitzen lassen, als ich ihr nach vier Minuten Bekanntschaft einen Antrag gemacht habe, hätte ich ihr jeden Morgen den Kaffee ans Bett gebracht. Du hast eine entzückende Tochter, Helmut, nur dass du es weißt.«

Anna Stina lächelte.

»Das ist das Netteste, was ich seit Langem gehört habe«, sagte sie. »Allein dafür mache ich dem Deutschen doch auch eine Tasse.«

Helmut Zimmermann fand sich damit ab, dass er das Wortgeplänkel verloren hatte, wie immer, wenn seine Tochter in dieser Stimmung war. Obwohl, eigentlich auch in jeder anderen Stimmung.

»Zur Sache!«, verlangte er.

Vor sich hatte er etliche noch unausgefüllte Reisepässe sowie einen Gänsekiel. Ganz unten sollte der königliche Oberbefehlshaber seine Signatur anbringen.

»Die geht mir mittlerweile leicht von der Hand«, sagte Helmut.

Blieb noch alles Übrige. Der Pass verlangte die Angabe von Name, Alter, Größe, Gebrechen und noch so einigem.

»Gebrechen?«, sagte Algot. »Kann man in diesem Land nicht einmal hinken, ohne dass es registriert werden muss?«

Aber Helmut erwiderte, Gebrechen seien das Allerwichtigste überhaupt. Ohne ein solches könne das Königshaus Algot jederzeit einberufen und in den Krieg gegen den Russen schicken.

Algot hatte eigentlich angenommen, dass er dank Kandidat und Landesbibliothek in Växjö ausreichend von den Vorgängen im Königreich und in der Welt unterrichtet wäre.

»Ziehen wir jetzt schon wieder gegen den in den Krieg?«

In der Hinsicht konnte Helmut ihn beruhigen.

»Nein, das ist schon eine ganze Weile her, doch zwei Dinge, auf die man sich absolut nicht verlassen kann, sind nun mal der Russe im Allgemeinen und der russische Zar im Besonderen. Und der Franzose. Und der Däne. Und noch ein paar andere.«

»Der Deutsche?«, erkundigte sich Algot.

Helmut grummelte, auch unter denen gäbe es das eine oder andere Arschgesicht. Jedenfalls mehr oder weniger. Doch wenn sie unbedingt Helmuts Herkunftsgegend in die Geschichte mit einbeziehen wollten, läge Österreich näher.

Algot schätzte seinen Kompagnon, weil der offenbar so viel über die Welt außerhalb von Graf Bielkegrens Regionen wusste. Zuvor hatte er sich selbst für den Einzigen in meilenweitem Umkreis gehalten.

»Dann verpassen wir mir sicherheitshalber ein Gebrechen«, sagte er. »Geht Hinken in Ordnung?«

Nein, davor wollte Helmut ihn warnen. Da müsse man ja ständig vor sich hin hinken, und so etwas könne man leicht mal vergessen, besonders irgendwo nach einem feuchtfröhlichen Abend, also, weil man es in dem Fall gewöhnlich mit dem Länsman zu tun bekam.

»›Eingeschränkte Sehkraft‹ ist viel besser. Das steht auch bei mir, obgleich ich Adleraugen habe. Ich weiß noch, wie ich einmal über eine Stunde nach der eigentlichen Sperrstunde aus dem Wirtshaus in Sävsjö getorkelt bin. Und was meinst du wohl, da stand doch tatsächlich ein Polizist davor, in der Absicht, sich den Erstbesten vorzuknöpfen! Ich bin mit Vorsatz direktemang in eine Scheunenwand gelaufen und habe mich bei der Wand entschuldigt. Der Dienstbeflissene hat vor meinen Augen drei Suffköppe hochgenommen, aber ich bin davongekommen. Wie sich herausstellte, war die Mutter des Polizisten von ebenso schwacher Sehkraft, wie ich geschauspielert hatte. Er sagte, er habe Verständnis für mein Leiden, und ließ mich laufen.«

Algot fuhr zusammen. Hatte Helmut auch bei sich selbst falsche Angaben gemacht? Aber warum? Außer aus dem soeben erwähnten Grund.

»Nicht viel, nur ein bisschen was. Helmut Zimmermann habe ich beibehalten, weil es sich in deiner Sprache gut anhört. Besser als Algot Olsson, du entschuldigst schon. Außer dem Gebrechen habe ich mir ein paar Lebensjahre mehr draufgepackt, damit ich auch ganz bestimmt nicht einberufen werden kann.«

Der werdende Branntweinunternehmer erkundigte sich gekränkt, was an dem Namen Algot Olsson so verkehrt sei.

»Was meinst du, wie das in der Bezirksverwaltung ankam?«

Der Deutsche erklärte, dass nicht nur Kleider Leute machten, sondern ebenso Namen und am allermeisten Titel.

»Und vielleicht auch, wie man sich beträgt?«, überlegte Algot laut.

Zimmermann fuhr mit seinen eigenen Überlegungen fort:

»Algot mag noch angehen, aber Olsson muss weg.«

Helmut griff zum Gänsekiel, bereit, loszuschreiben. In der obersten Zeile wurde justament nach dem Namen gefragt.

»Mir würde es gefallen, wenn auch mein neuer Nachname mit O anfängt!«, sagte Algot. »Dann kann ich ihn mir leichter merken.«

Helmut dachte laut nach:

»Ohls … noch was? Nein. Otter … Otterdeg? Otterdag? Otterdahl?«

Otterdahl klang elegant!

»Mit H in der letzten Silbe. Ein bisschen wie Bladh, mein letzter Kunde vor dir. Ich habe ein H hinter das D gesetzt, obgleich es weder gehört noch gebraucht wird. Der hieß vorher übrigens auch Olsson, bevor ich ihn aufgemöbelt habe. Als Johan Olsson ist er gekommen, als Johannes Bladh davonstolziert.«

Algot gefiel dieses Gespräch.

»Können wir nicht noch ein zweites H reinquetschen, wo wir gerade dabei sind? Algot H. Otterdahl.«

Helmut wurde der junge Mann immer symapthischer. Er schien zwar nicht älter als Anna Stina zu sein, besaß aber eine mustergültig rasche Auffassungsgabe.

»Hast du einen Wunsch, wofür das H in der Mitte stehen soll?«

»Nein. Können wir uns das morgen überlegen?«

Helmut hatte nichts dagegen.

»Eigentlich kann es stehen, wofür es will.«

Er begann zu schreiben:

»Algot H. Otterdahl … wann bist du geboren?«

»Den siebten oder neunten Juni 1831.«

Helmut blickte von seiner Schreibarbeit auf, weil er fand, der junge Mann mache es ihm unnötig kompliziert. Algot merkte, dass er sich näher erklären musste.

»Nach allem, was ich weiß, bin ich an einem Donnerstag, dem neunten, zur Welt gekommen, aber meine Mutter ist wiederum am sechsten Juni 1809 geboren, am selben Tag, an dem der damalige König die neue Regierungsform abgesegnet hat, die schließlich ermöglichte, dass mein Vater später Reichstagsabgeordneter werden konnte.«

»Und?« Helmut kam nicht mehr mit.

»Vater muss wohl geglaubt haben, dass uns der sechste Juni Glück bringen könnte. Als ich also drei Tage zu spät zur Welt kam, hat er dem Pfarramt alle möglichen Ausreden aufgetischt und sogar einen Verweis wegen verspäteter Anzeige einer Geburt einkassiert, aber jedenfalls seinen Willen durchgesetzt.«

Helmut wurde allmählich ungeduldig.

»Was denkst du, wie viel Glück euch der sechste Juni bisher gebracht hat? Deine Mutter ist an Krebs gestorben, dein Vater vor Gram, und du wurdest auf die Straße gesetzt, hast du das nicht gesagt?«

»Aber Vater ist im Oktober geboren.«

Helmut musste den Gänsekiel erneut in Tinte tauchen, bevor er noch austrocknete.

»Noch mal ganz von vorne: Algot H. Otterdahl, wann bist du geboren?«

Der ehemalige Pächter musste sich entscheiden.

»Am neunten Juni 1831. Ein schöner Tag, nach allem, was man mir gesagt hat. Drei Tage zuvor hat es geregnet.«

Helmut wollte nicht eine Sekunde länger bei diesem Datum verweilen.

»Am neunten Juni 1825«, sagte er. »Es ist nicht gut, zu jung zu sein, wenn man ernst genommen werden will.«

Bevor Algot protestieren konnte, ging sein Kompagnon zum nächsten Punkt über.

»Größe?«

»Fünf Fuß und sieben Zoll, wenn du nichts hinzufügen oder abziehen möchtest.«

»Augenfarbe?«

»Grün. Natürlich nur, wenn du gestattest.«

Helmut schrieb. Seine Handschrift sah genauso gepflegt aus wie die des Oberbefehlshabers, dessen Unterschrift er gleich fälschen würde.

»Sollte er nicht auch einen vornehmen Titel bekommen?«, sagte Anna Stina, die den fertigen Kaffee brachte, beiden Männern einschenkte und sich mit ihrer eigenen Tasse setzte.

»Titel?«, sagte Algot. »Dein Vater hat mich vor ein paar Wochen Landstreicher genannt, wie würde dir das gefallen?«

»Also einen Landstreicher werde ich ganz gewiss niemals heiraten. Falls ich überhaupt je im Leben heiraten sollte.«

Algot dachte sich, dass es in seinen Beziehungen zur Tochter des Druckermeisters voranging. Unterdessen zerknüllte Helmut den bereits teilweise ausgefüllten Reisepass und begann von Neuem.

»Gelegentlich kann es vorkommen, dass Anna Stina recht hat. Wie wär’s mit Apotheker?«

Anna Stina nickte zufrieden.

»Mit einem Apotheker könnte man ins Heu hüpfen!«

»Schäm dich, du ungezogenes Weibsbild!«, rügte ihr Vater sie, wobei seine Stimme nicht allzu böse klang.

Algot beteiligte sich gern an launigen Scherzen:

»Dann kannst du zwischen Kaffee und Hustensaft an der Bettkante wählen.«

Der Druckermeister bereute es schon fast, dass er seine Tochter dazu ermuntert hatte, sich für den ehemaligen Pächter zu interessieren.

»Schämt euch alle beide, wenn ich es mir recht überlege. Ruhe, ich schreibe.«

***

Algot musste auf dem Grundstück einen zehn Ellen langen Fußweg von Helmuts und Anna Stinas großem Haus mit angegliederter Druckerei bis zur Kate zurücklegen. Es war schon Abend und dunkel geworden.

Er zündete eine Talgkerze am Bett an, zog sich aus, wusch sich das Gesicht und rieb sich die Zähne. Dann legte er sich im Bett zurecht und deckte sich zu, ehe er die Kerze auspustete.

Natürlich konnte er nicht einschlafen. Blieb auf dem Rücken liegen und starrte an die Decke.

»Apotheker Algot H. Otterdahl!«, sagte er vor sich hin. »Vielleicht sollte man ein oder zwei Medikamente erfinden.«