Frank Miles

Der Kätner begriff, dass der Mann, der vor der Tür stand und auf Schwedisch-Englisch nach Frank Zimmermann fragte, eben derselbe war, dem der Druckermeister nicht nur sein Geld, sondern auch seine Bücher und damit noch mehr Geld abgeluchst hatte. Offensichtlich hatte der Kommunist auch einen Namen, denn Helmut eilte mit großen Schritten auf ihn zu:

»Frank Miles, wahr und wahrhaftig! Wie bin ich froh, Euch zu sehen!«

Algot dachte sich, dass diese Worte unmöglich mit der Wirklichkeit übereinstimmen konnten.

Anna Stina war ebenso entgegenkommend wie ihr Vater.

»Hat der Herr Miles Hunger mitgebracht? Wir haben noch kalten Schweinebauch mit Kartoffeln da, wäre das nichts? Und Zwiebelsoße, die wärmt Vater Ihnen bestimmt gern auf. Warum nicht ein Schnäpschen dazu?«

Maja zog sich vorsichtshalber aus dem Gesichtsfeld des Besuchers zurück und stellte sich in den Durchgang zur Druckerei. Im Unterschied zu Vater und Tochter hatte sie ja keine Ahnung, um wen es sich handelte und warum er hier war; sie spürte nur eine gewisse Anspannung in der Luft.

Frank Miles hatte bislang keinen Grund zu dem Verdacht gehabt, dass diejenigen, die ihm jetzt Essen und Trinken anboten, ihn bereits um all seine vermeintliche Habe betrogen hatten.

Allerdings hatte er einen Bärenhunger, was in Småland im Jahre 1853 durchaus nichts Ungewöhnliches war.

»Danke, äußerst freundlich«, sagte er. »Ich komme zu Fuß den ganzen Weg von Jönköping her. Bin gestern früh aufgebrochen und habe seither nichts in den Magen bekommen.«

Der Kommunist wurde zum Küchentisch gebracht, wo man ihm einen Stuhl anbot. Der Druckermeister hatte ja bei der Essenszubereitung nicht geknausert, weil es auch für den nächsten Tag reichen sollte. Doch als erst Maja zu ihnen stieß, gefolgt von dem ausgehungerten Engländer, schwanden die Aussichten dahin, dass etwas übrig bleiben würde.

Frank Miles langte sogleich tüchtig zu und sagte, zur Ergänzung sei ihm die Zwiebelsoße mehr als recht.

Helmut trug sie auf und setzte sich neben Algot an den Tisch. Indessen schlich sich Anna Stina ums Eck zu Maja, um ihr das Drama, das sich abspielte, so gut es ging zu erklären.

»Ihr seid, scheint’s, nicht recht glücklich mit dem neuen Besucher?«, fragte Maja mit gedämpfter Stimme.

Anna Stina flüsterte zurück, das sei noch untertrieben. Der Mann, der dort säße und sich vollstopfe, als habe er noch nie im Leben etwas zu essen bekommen, würde gleich nach den Büchern fragen, die ihr Vater für ihn gedruckt habe.

»Leider sind keine mehr da. Ich habe sie alle verkauft.«

»Und das Geld?«, erkundigte sich Maja.

Das war es ja gerade.

»Das hat Papa versilbert und einem Holländer in Frankreich geschickt.«

Maja verstand nicht ganz. Lugte um die Ecke.

»Er sieht nett aus«, stellte sie fest. »Meint ihr nicht, ihr könnt euch irgendwie aus dem ganzen Schlamassel rausreden?«

»Vielleicht«, s agte Anna Stina und dachte sich, dass der letzte ihr bekannte Vorfall, bei dem der nette Engländer mit der Situation unzufrieden gewesen war, damit geendet hatte, dass er einem Polizisten das Nasenbein brach.

Als der gröbste Hunger gestillt war, drosselte Frank Miles die Geschwindigkeit seiner Nahrungsaufnahme und begann sich mit dem Geschmack zu befassen.

»Die schmackhafteste Zwiebelsoße, die ich je gegessen habe, wenn nicht gar die einzige«, sagte er und griff nach dem dritten Schnaps, frisch eingeschenkt von Algot.

Plötzlich hielt er inne.

»Was ist denn das?«

»Wieso?«, sagte Algot.

»Das schmeckt doch gar nicht … will sagen, es ist trinkbar … will sagen … das ist ja wohlschmeckend

Er schnappte sich die Flasche, die auf dem Tisch stand.

»Wasserburg Wodka. Ihr habt ausländischen Qualitätsbranntwein!«

»Das ist eine lange Geschichte, Herr Miles«, sagte Helmut. »Aber genehmigt Euch doch noch ein Gläschen.«

Noch eins machte vier. Dann war der englische Kommunist mit Essen fertig. Zufrieden lehnte er sich auf dem Küchenstuhl weit zurück, und Algot befürchtete schon, er könnte hintüberkippen und mit dem Kopf auf dem Boden aufschlagen, während Helmut sich genau das wünschte, gerne mit fatalem Endergebnis.

»So gut ist es mir noch nie gegangen!«, stellte Frank Miles fest. »Kaum zu glauben, dass ich zwei Jahre lang in einer Gefängniszelle gesessen und mir Sorgen gemacht habe, Herr Zimmermann könnte mich übers Ohr gehauen haben. Und dann werde ich hier so fürstlich empfangen! Ich muss mich tausendmal für all meine misstrauischen Gedanken entschuldigen.«

Dass Frank Miles damit fortfuhr, sich über sein jähzorniges Temperament zu ärgern, machte die Sache auch nicht besser. Doch vielleicht trat ja nun ein Wendepunkt in seinem Leben ein? Erst die völlig überraschende Nachricht vor wenigen Tagen, dass sein Urteil von zwei Jahren und acht Monaten Gefängnis auf glatte zwei Jahre gemildert worden sei und er die restliche Zeit als Freigänger abbüßen könne! Freilich unter der Bedingung, binnen einer Woche den Nachweis eines festen Wohnsitzes und einer ordentlichen Arbeitsstelle zu erbringen.

»Hinter Schloss und Riegel herrschte Überbelegung, bestimmt haben sie meinen Platz für jemand noch Missrateneren als mich gebraucht.«

»Na, so ein Glück!«, log Helmut Zimmermann, worauf der Engländer resümierte:

»Jetzt müssen wir bloß den Verkauf meines Kommunistischen Manifestes ankurbeln, und ich muss eine Wohnung finden und – vor allem – allen Streitigkeiten aus dem Wege gehen.«

Und schon waren die gestohlenen und veruntreuten Manifeste wieder Thema.

»Noch ein Gläschen?«, erkundigte sich Algot.

Dazu mochte Frank Miles nicht Nein sagen. Er kippte das fünfte Glas in Folge hinunter und schloss die Augen ob der glücklichen Mischung aus Hochgenuss, Sättigung und Erschöpfung. Während Helmut Zimmermann fieberhaft nachdachte, wann wohl d er am wenigsten katastrophale Zeitpunkt zur Enthüllung der Wahrheit käme. Und während Anna Stina etwas weiter entfernt das Bedürfnis verspürte, helfend einzugreifen. Sie flüsterte Maja zu:

»Du verstehst, warum Algot und Papa um den Engländer scharwenzeln, oder?«

Maja nickte.

»Meinst du, das schaffst du auch?«, fuhr Annan Stina fort.

Maja nickte noch mal.

»Gewiss doch! Ich blute ja nicht mehr, habe ein eigenes Zimmer und eine Assistentinnenstelle. Assistieren ist dann ja wohl das Mindeste, was ich tun kann. Komm, wir gehen und machen dem Engländer gemeinsam schöne Augen.«

Falls es Frank Miles gelungen war, hinter seinen geschlossenen Augenlidern einzuschlafen, so wachte er auf jeden Fall auf, nachdem sich der Druckermeister lange und vernehmlich genug geräuspert hatte. Helmut ertrug die Ungewissheit nicht länger, was da noch auf ihn zukam, und rang sich durch, auf einen Schlag mit der vollen Wahrheit rauszurücken.

»Willkommen zurück, Herr Miles«, sagte er, als der Engländer die Augen geöffnet hatte.

»Wo bin ich?«, fragte der Kommunist, als ihm plötzlich Schweinebauch, Kartoffeln, Zwiebelsoße und Schnäpse zeitgleich wieder einfielen.

»Im Himmelreich?«

»Nicht ganz«, sagte Algot. »Aber in Aringsås ist es auch ganz schön, besonders im Sommer.«

Helmut warf seinem Kompagnon einen verärgerten Blick zu. Er wollte sich nicht von Geschwätz ablenken lassen, jetzt, da die Wahrheit ans Licht sollte:

»Es ist nämlich so, Herr Miles, dass ich mich ebenso sehr freue, wie ich überrascht bin, dass Ihr wieder auf freiem Fuß seid. Ich hätte gedacht, die Strafverfolgung für das … nun ja, für das, was Ihr getan habt, wäre eine strengere.«

Weiter kam er nicht mit seinem Geständnis, denn in dem Moment traten Anna Stina und Maja vor. Die beiden Frauen tauchten unverhofft aus dem Nichts auf, offensichtlich, um die Situation zu entschärfen.

»Herr Miles!«, setzte Anna Stina an. »Wie es mich freut, zu sehen, dass Ihr an Leib und Seele gestärkt seid! Darf ich Euch Fräulein Maja vorstellen?«