Hart gekochte Eier

Als Frank Miles aufwachte, wusste er zunächst nicht, wo er sich befand. Er lag auf einer Küchenbank, aber eine Küche war nirgends zu erblicken. Hingegen eine Druckerpresse, ein Destillierapparat und unbegreiflich viele Branntweinflaschen.

»Druckerpresse«, sagte der Engländer vor sich hin.

Die half seinem Gedächtnis auf die Sprünge. Die Morgenmüdigkeit ging allmählich in den Zorn über, der ihm Zeit seines Lebens so viel Unheil eingebrockt hatte. Gekrönt von den zwei Jahren im Gefängnis von Jönköping. Es schien etwas zu sein, was sich nun mal beim besten Willen nicht eindämmen ließ. Jetzt fiel ihm ein, dass er gedroht hatte, einen Deutschen zu erschlagen. Wo steckte das Sackgesicht?

Doch da fiel sein Blick abermals auf die Unmengen von Branntweinflaschen. Hatte er nicht am Vorabend eine ganze Batterie Schnapsgläser gekippt? Und hatten sie nicht … besser geschmeckt als der schottische Whiskey, von dem Frank in seiner Jugend insgeheim so angetan gewesen war?

Er stand langsam auf und ging auf die Flaschen zu. Einen stärkenden Morgentrunk hatte er doch wohl verdient, ehe er sich gezwungen sah, die Fäuste zu schwingen! Das war schließlich das Mindeste, was der Deutsche ihm schuldete. Zwar waren weder Glas noch Tasse zur Hand, aber Branntwein schmeckte nun mal ohnehin am besten direkt aus dem Krug oder der Flasche.

***

Der Druckermeister war eigens früh aufgestanden, um dem Engländer, der sich vorgenommen hatte, den Tag damit einzuläuten, dass er ihn erschlug, das Frühstück zu machen. Eigentlich war es Anna Stinas Küchentag, aber Helmut hatte Verköstigung als eine gangbare Methode entdeckt, den Ex-Kommunisten zu besänftigen. Daher hatte er auch Algot mit ins Boot geholt.

Am Vorabend hatten sie mit vereinten Kräften die Küchenbank samt halb bewusstlosem Engländer in die Druckerei geschleppt, damit Frank Miles ausschlafen konnte, während in der Küche rumort wurde.

Apotheker Otterdahl kochte Eier und deckte den Tisch, Druckermeister Zimmermann briet Fleischwurst und schnitt Brot auf. Worauf sich Anna Stina und Maja zur Frühstückstruppe gesellten. Beide Frauen verstanden, worum es ging.

»Kein zwei Tage altes Brot, Vater!«, sagte Anna Stina. »Ich habe einen fertigen Sauerteig im Keller.«

»Sehr gut!«, sekundierte Maja. »Ich heize so lange den Backofen an.«

»Gibt es dort unten auch Käse?«, erkundigte sich der Ex-Pächter.

»Ich nehme alles mit, was sich mir bietet«, sagte Anna Stina. »Stellst du eine Flasche Wasserburg Wodka auf den Tisch? Ich glaube, der hat Vater gestern Abend das Leben gerettet. Vielleicht klappt das heute ja erneut?«

»Sämtlicher Branntwein in unserem Besitz befindet sich leider dort, wo der Engländer ist«, sagte Algot.

»Ich bin nervös«, gestand Helmut.

»Und zu Recht. Ich bin sehr gespannt, ob du den Tag überleben wirst«, sagte seine Tochter und zog ab.

Wie stets genoss sie es, ihren Vater aufzuziehen. De facto sah sie nicht ein, wie ein einsamer, in die Jahre gekommener Engländer einen erwachsenen Deutschen erschlagen könnte, während drei nahezu ebenso erwachsene Schweden ihm dabei zusahen. Zudem war im ganzen Haus nicht eine einzige Bibel als Waffe vorrätig.

***

Im Salon schlug es neun. Das üppigste Frühstück, das gewöhnliche Leute je gesehen hatten, stand schon lange auf dem fertig gedeckten Tisch. Im Herd brannte immer noch ein Feuer, damit die warmen Speisen nicht kalt wurden.

»Hoffentlich mag er seine Eier hart gekocht«, sagte Algot.

»Wollen wir klopfen, um zu sehen, ob er noch lebt?«, schlug Maja vor.

»Auf das Gegenteil zu hoffen, wäre wohl vermessen«, murmelte Helmut.

Der Deutsche war hin- und hergerissen. Konnten Eier, Brot, Wurst, Käse, Schinkenspeck, Fleischbällchen, Grütze und hart gekochte Eier ihn wirklich vor dem jähzornigen Bibelwerfer und Ex-Kommunisten retten?

»Vielleicht findet er die Verbindungstür zum Wohnhaus nicht?«, rätselte Anna Stina.

»Wenn er nicht ganz und gar hirnlos ist, wird er doch wohl die einzige Tür in dem Raum entdecken, in dem er sich befindet?«, sagte Algot.

»Ganz und gar hirnlos «, wiederholte der Druckermeister. »Wie konnte ich nur unser gesamtes Geld für einen Destillierapparat ausgeben?«

»Ich klopfe jetzt«, sagte Maja.

»Nein, bitte nicht. Wir warten noch zehn Minuten«, sagte Helmut.

Die zehn Minuten schnurrten zu zehn Sekunden zusammen. Die Tür zur Druckerei ging auf, und im Zwischengang wurden Schritte laut, woraufhin sich der lange Frank Miles zeigte.

Mit einem Lächeln auf den Lippen!

»Guten Morgen, meine Freunde! Was duftet hier so herrlich?«

»Die hart gekochten Eier?«, warf Algot aus reiner Verblüffung in den Raum.

Der Ex-Pächter kannte seinen Branntwein. Frank Miles war augenscheinlich nicht nüchtern, und dabei handelte es sich nicht um die Reste seines Rauschs vom Vorabend. Bestärkt wurde Algots These von dem Umstand, dass der Engländer eine zur Hälfte bereits geleerte Flasche Wasserburg Wodka in der Hand hielt.

Anna Stina bat ihn rasch zu Tisch. Sie zog einen Stuhl heraus.

»Bitte Platz zu nehmen, Herr Miles.«

Der Kommunist, der keiner war, ließ sich nicht lange bitten. Er setzte sich und stellte seine mitgebrachte Branntweinflasche auf den Tisch.

»Die hier hab ich mitgenommen, falls jemand möchte. Habe am Morgen schon selbst ein wenig davon probiert.«

Ein wenig? , dachte Helmut. Wie viel mochte wohl noch übrig sein? Es gab ja Leute, die von zu viel Schnaps völlig den Verstand verloren. Mit Frank Miles verhielt es sich anscheinend genau umgekehrt.

Der Engländer sprach fleißig den Eiern, der Fleischwurst, dem Sauerteigbrot, der Marmelade und dem Branntwein zu. Die anderen nahmen sich von dem, was übrig blieb.

Während des Essens berichteten Helmut, Anna Stina und Algot offenherzig vom Geschäft. Von der Woche mit Sara und dem Kommunistischen Manifest , von Anna Stinas regelmäßigen Verkaufsfahrten bis über die Bezirksgrenzen hinaus, davon, wie Algot sich ihnen durch einen glücklichen Zufall angeschlossen hatte und wie seine Kate im Garten der Familie Zimmermann gelandet war.

»Aha, ihr zwei seid also ein Paar?«, sagte Frank Miles mit Blick auf Anna Stina und Algot. »Gestern kam es mir so vor.«

»Ich habe einmal um ihre Hand angehalten, aber einen Korb bekommen«, sagte Algot.

»Versuch es gerne noch mal«, schlug Helmut vor.

Anna Stina warf ihrem Vater einen bösen Blick zu, während sich der Engländer an Maja wandte.

»Druckereiassistentin, wenn ich mich recht entsinne?«

Frank Miles staunte über sich selbst, weil ihm das noch eingefallen war.

»Knapp daneben«, sagte Maja. »Druckerei-Chefassistentin. Aber vorher etwas anderes und davor Tagelöhnerfrau. Das gräfliche Sägewerk hat meinem geliebten Gatten den Garaus gemacht, und von da an ging es bergab, kann man so sagen.«

Der Engländer stockte bei der Erwähnung des Grafen.

»Ist das derselbe Graf, der Euch von der Kate vertrieben hat, die Ihr später mitgenommen habt?«, fragte er Algot.

»Hier in der Gegend gibt es nur den einen«, sagte Helmut.

»Einer zu viel«, murmelte Maja.

Frank Miles wurde neugierig auf mehr.

»Meine Erinnerungen an gestern Abend sind etwas nebulös, aber habt Ihr nicht gesagt, Ihr seid Apotheker, Herr Otterdahl?«

Das gab Helmut endlich Gelegenheit, auf das Thema gefälschte persönliche Dokumente zu sprechen zu kommen. Zum Abschluss führte er an, wovon er sich eine glückliche Abrundung des Frühstücks, wenn nicht gar des ganzen Tags erwartete:

»Wir können natürlich mit Euch ebenso verfahren, Herr Miles. Auf Wunsch würden wir dann Namen und Herkunft ändern.«

Die Reaktion des Engländers fiel gemischt aus.

»An meiner Herkunft gibt es nichts auszusetzen!«, sagte er bissig. »Aber eine Namensänderung könnte praktisch sein, im Laufe der Jahre ist mir ein paarmal im Kontakt mit anderen Leuten die Hand ausgerutscht, die sich nur allzugut erinnern könnten, wie ich hieß und immer noch heiße.«

Algot wollte sich beratend einbringen:

»Bei meinem Namenswechsel habe ich darauf geachtet, dass mein neuer Nachname mit demselben Buchstaben anfängt wie der alte, damit ich ihn mir leichter merken kann. Vielleicht wäre das auch für Euch passend? Von Miles zu … McGregor, zum Beispiel?«

Der Kandidat hatte einmal erwähnt, dass ein Ausländer zum Direktor des neuen Frauengefängnisses in Växjo ernannt worden war, und Algots Kopf hatte den Namen McGregor genau wie alles andere abgespeichert. Doch herrje, welch ein Fehler! Frank Miles’ Stimmung kippte schon wieder.

»Wollt Ihr etwa einen Schotten aus mir machen? Elender Hundsfott von Apotheker!«

Algot beeilte sich, ihm nachzuschenken, entschuldigte sich und beteuerte, die Namensfindung sei selbstverständlich dem Betreffenden selbst überlassen.

Dank des nachgefüllten Glases beruhigte sich der Engländer so langsam, auch wenn er nach wie vor nicht gut auf sein Gegenüber zu sprechen war.

»Ihr seid also eigentlich ein von Haus und Hof verjagter Pächter, Herr Apotheker.«

»Zum Landstreicher hätte nicht viel gefehlt«, bestätigte Algot. »Jedenfalls hatte Herr Zimmermann die Güte, mich bei unserem ersten oder zweiten Treffen als einen solchen zu bezeichnen.«

»Und Eure Medizin gegen Zahnschmerzen und finstere Gedanken? Was hat es damit auf sich?«

»Ist in Arbeit«, log Algot.

Dass der sich aber auch unbedingt ausgerechnet daran erinnern muss! , dachte er.

Wie sich herausstellte, dachte der Engländer ebenso darüber nach.

»Wieso erinnere ich mich ausgerechnet daran?«

Und plötzlich nachdenklich statt wütend:

»Womöglich, weil ich selbst gelegentlich unter finsteren Gedanken leide. Wie ich merke, hilft Branntwein dagegen …«

Je länger das Frühstück dauerte, an desto mehr Details vom Vorabend konnte sich der Engländer erinnern. Etwa, dass ihm eine Stelle als Druckerei-Chefsassistentinnenassistent angeboten worden war!

Was wiederum Helmut erneut bedrückter stimmte. In welchem Tempo konnte man überhaupt neue Mitarbeiter einstellen, angesichts der Tatsache, dass kein Geld da war, um Löhne und Gehälter zu zahlen?

Der Druckerei-Chef machte Maja diskret Zeichen, dem Engländer nachzuschenken. Er sah eine mögliche Lösung für ihrer aller Überleben darin, dass sie mit vereinten Kräften dafür sorgten, Frank Miles von nun an bis ans Ende aller Tage in einen Dauerrausch zu versetzen.

Andererseits besaß der Engländer womöglich auch jenseits seines Potenzials, den gesamten Alkoholbestand der Firma zu vernichten und unliebsame Mitmenschen zu verprügeln, noch andere Talente. Vielleicht konnte er etwas, das sich nutzbringend anwenden ließe?

»Wie wäre es, wenn Ihr uns etwas aus Eurem Leben erzählt, Herr Miles?«

»Gern!«, sagte der Engländer. »Ich bin ein vielseitig begabter Mann, möchte ich der hier versammelten Runde kund- und zu wissen tun.«