Radau draußen
In der Küche kehrte relative Ruhe ein. Die Erörterung, wie man auf lange Sicht mit Frank Miles verfahren sollte, konnte wieder aufgenommen werden. Ihn in der Kate unterzubringen, war ein vielversprechender Anfang.
»Vielleicht können wir die Hütte dem Grafen zurückgeben, unter der Bedingung, dass er den Inhalt mitnimmt?«, überlegte Anna Stina laut.
Das wäre an sich keine schlechte Idee, nur dass der Engländer damit wohl kaum einverstanden wäre. Sie schuldeten ihm ja eigentlich Geld und würden ihn vermutlich nicht loswerden, solange die Schulden nicht auf die eine oder andere Art beglichen wurden.
»Ein zweiter Bücherverkäufer könnte den Umsatz verdoppeln«, spekulierte Helmut.
»Ja, bis er sich mit dem erstbesten Buchhändler anlegt«, sagte Anna Stina.
»Wozu es vielleicht gar nicht erst kommt, wenn er eine ausreichende Wodkamenge intus hat?«, sagte Algot.
»Und wer soll das überprüfen?«, fragte Maja.
Die Fortsetzung des Strategieplanungsgesprächs fiel flach, weil sich der Engländer zur allgemeinen Überraschung blicken ließ. Die schütteren Haare zerzaust, war er offenbar eben erst aus den Federn gekrochen.
»Kann man nicht mal in Ruhe ein kleines Mittagsschläfchen halten?«, murrte er.
»Vier Stunden?«, sagte Helmut. »Aber was gibt’s denn?«
»Ja, was ist das für ein fürchterlicher Radau vor dem großen Tor?«
Den hatten die anderen allesamt nicht mitgekriegt.
***
Helmut hatte nie behauptet, der Holländer wäre billig, aber wenigstens war seiner Meinung nach auf ihn Verlass. Das sollte sich als zutreffender erweisen, als er sich je hätte träumen lassen.
In seiner Unwissenheit hatte der Druckermeister angenommen, das Silber, das er ins Ausland geschickt hatte, würde seinem Kompagnon Algot zu einem deutlich größeren Destillierapparat verhelfen.
Stattdessen bekam er eine ganze Branntweinfabrik geliefert.
Vor der Druckerei standen nämlich fünf vollgeladene Wagen mit … ja, mit was eigentlich?
Verantwortlich für diese Lieferung war kein Geringerer als der Holländer höchstpersönlich!
»Guten Tag, Herr Zimmermann«, sagte er auf Deutsch. »Bonne journée. Good day! Meine Männer und ich liefern Ihnen auf unserer Fahrt gen Norden das bestellte Produkt. Ich habe ausgerechnet, dass es unter diesen Umständen acht Prozent billiger wird, die nächste Kupferlieferung mit Pferdewagen statt auf dem Seeweg auszuliefern.«
Mithilfe seiner Mitarbeiter hatte er schon vor dem großen Tor der Druckerei mit Ausladen begonnen.
»Aber da kann sie nicht stehen bleiben!«, sagte Helmut.
Der ganze Sprengel würde ja mitbekommen, was bei ihnen vorging.
»Sollen wir die Lieferung über die Schwelle tragen? Dafür verlange ich drei Reichstaler die halbe Stunde pro Mitarbeiter. Zeit ist Geld, Herr Zimmermann.«
Es verhielt sich ja nun mal so, dass der Holländer eigennützig war.
»Wir finden selbst eine Lösung, danke«, sagte Helmut, und der Holländer passte lächelnd auf, dass seine Leute auch alles abluden, zuppelte an seinem Mützenschirm, wünschte Bonne chance! , und weg war er.
Immerhin war er so freundlich gewesen, eine ausführliche Aufbauanleitung dazulassen.
Außer dem riesigen Destillierapparat gehörten eine Kartoffelwasch- und kochanlage, ein Vormaischeapparat, ein Gießbottich, ein Malzzerkleinerer, zwei verschiedene Zubereiter und eine Gärwanne zur Ausstattung. Nebst mindestens zwei Gerätschaften, die Helmut in der französischen Gebrauchsanleitung nicht übersetzen und folglich nicht auf Anhieb in einer imaginären Produktionskette unterbringen konnte.
Die ehemalige Kattunfabrik hatte außer ihrer einzigen Tür zum Wohnhaus ein etwas überdimensioniertes Tor für größere Lieferungen. Durch das hatte Helmut vor Jahrzehnten mit Ach und Krach seine Druckerpresse ins Gebäude hineinbefördert. Seither war es geschlossen geblieben.
Jetzt wurde es erneut gebraucht. Doch das Schloss war natürlich zugerostet.
Mittlerweile war Frank Miles wieder hellwach. Er sagte, während seiner Zeit in der Spinnerei in Schottland habe er noch mehr zuwege gebracht, als sich krankzumelden, Maschinen zu sabotieren und Whiskey zu klauen.
»Aha, Ihr habt also krankgefeiert und die Maschinen ruiniert, Herr Miles?«, sagte Maja. »Von der Sache mit dem Whiskey mal abgesehen.«
Vielleicht hatte der Idealist Owen sich doch nicht so weitgehend in der gesamten Menschheit getäuscht.
Doch der Engländer blickte nach vorn, nicht zurück:
»Ich bin geradezu Experte darin geworden, wie man alles Mögliche einölt und instand hält. Bestimmt könnte ich das Torschloss binnen Minuten in Ordnung bringen …«
Da fiel ihm ein, dass er sich in einer guten Verhandlungsposition befand.
»… gesetzt den Fall, das wäre ein passender Arbeitsauftrag für einen einfachen Druckerei-Chefassistentinnen-Assistenten.«
Helmut brannte es schon auf den Nägeln. Noch schien niemand in der Nachbarschaft entdeckt zu haben, was da draußen herumstand, doch dieses Glück konnte nicht mehr allzu lange währen. Warum stellte sich der Engländer jetzt so an? Helmut begriff gar nichts mehr.
Maja hingegen schon. Männer waren überall gleich. Der Engländer versuchte sie beruflich auszubooten. Allerdings reichte es nicht, sich nur dagegen zu sperren. Die Dringlichkeit war ihr ebenso bewusst wie dem Druckerei-Chef.
»Ich als erste Druckerei-Chefassistentin kann das Problem garantiert lösen. Ich muss ehrlicherweise feststellen, dass mein Assistent – Herr Miles – bislang keine herausragende Arbeitsmoral bewiesen hat. Während der Arbeitszeit zu schlafen! Noch dazu stundenlang! Hat man so etwas schon mal erlebt?«
Nach einer kurzen Kunstpause fuhr Maja fort:
»In Anbetracht dessen kann ich mir vorstellen, auf seine weiteren Dienste zu verzichten, das heißt, wenn beispielsweise du, Algot, einen Assistenten zur Verkostung neuer Branntweinprodukte benötigen solltest?«
Der ehemalige Pächter verstand sofort, worauf die blitzgescheite Maja hinauswollte.
»Assistent wäre vielleicht etwas untertrieben. Hingegen suche ich wie die Nadel im Heuhaufen einen Chefverkoster.«
Frank Miles strahlte wie ein Kind am Weihnachtsabend!
»Natürlich, sehr sehr gern! Das bedeutet gewiss eine Gehaltserhöhung?«
Auf eine Gehaltserhöhung konnte Helmut sich leicht einlassen.
»Wenn Ihr das Tor in zehn Minuten aufbekommt, Herr Miles, verspreche ich Euch eine fünfzigprozentige Erhöhung des Gehalts, welches wir noch nicht ausgehandelt haben.«
»Ich mache mich sofort daran! Ich brauche Öl, Stemmeisen, Hammer, besonders saugfähige Tücher und einen Schnaps.«
Doch das ging dem Druckermeister nun doch zu weit.
»Wenn die ganze Lieferung durchs Tor ist, hat Er sich einen doppelten Schnaps verdient. Vorher nicht!«
Eine knappe Stunde später war alles, was bis dahin zur allgemeinen Beschau vor dem Geschäftslokal der Familie Zimmermann gestanden hatte, unter Dach und Fach.
Jetzt war das Chaos in der kombinierten Druckerei- und Schwarzbrennerwerkstatt komplett. Bekannte und unbekannte Fässer, Gefäße, Krüge, Rohre, Thermostate und anderes lagen kreuz und quer durcheinander. Zwei Holzkisten unbekannten Inhalts mussten auf der Druckerpresse abgestellt werden. Auf die Küchenbank konnte man sich nicht mehr zu einem etwaigen Mittagsschläfchen zurückziehen. Denn dort lagen acht Kupferrohre, die montiert werden mussten.
»Ich glaube, ich brauche etwas zu trinken«, sagte Algot, der sich selten etwas von dem genehmigte, das er so vortrefflich herzustellen wusste.
»Apropos …«, sagte Frank Miles.