Hilfe von einer nahestehenden Person
Am Anfang der gut zwölf Meilen langen Fahrt nach Växjö schwiegen die beiden Kompagnons. Es dauerte ja seine Zeit, und Helmut hatte es nicht eilig. Früher oder später würde Algot nicht mehr damit hinterm Berg halten können, was letzte Nacht zwischen ihm und Anna Stina passiert oder auch nicht passiert war.
Als die Stadt schon fast erreicht war und Algot immer noch kein Wort gesagt oder auch nur die leiseste Andeutung gemacht hatte, konnte sich Helmut nicht mehr zurückhalten.
»Warum erzählst du nicht endlich etwas von der Nacht?«
»Welcher Nacht?«, sagte Algot.
»Der letzten, du Blödmann.«
»Warum sollte ich davon erzählen?«
»Weil ich als Anna Stinas Vater ein Recht drauf habe, es zu erfahren!«
Algot sagte, Anna Stina, die die peinliche Befragung, der er nun unterzogen werden sollte, bereits vorausgesehen habe, lasse ihm ausrichten, ihr Vater habe einzig und allein das Recht, sie wegen Ungehorsams zu züchtigen, und außerdem stünde ihm künftig täglicher Küchendienst bevor, wenn er auch nur daran dachte, es zu versuchen.
Helmut konnte ein kleinwinziges Lächeln nicht unterdrücken. Seine Lieblingstochter Anna Stina hatte ihn mal wieder überlistet, ohne selbst zugegen zu sein.
»Ich soll also rein gar nichts davon erfahren, wie es war?«
Selbst das hatte Anna Stina vorausgesehen.
»Wir haben uns auf ein Kommuniqué geeinigt«, sagte Algot.
Helmut fand, es sei höchste Zeit, dass sein Kompagnon mit besagtem Kommuniqué herausrückte, denn jetzt waren sie doch schon an der Bücherei angekommen.
»Auf die Frage, wie es war, lautet unsere übereinstimmende Antwort: Es ging an «, sagte Algot und stieg vom Wagen. »Grüß den Oberbefehlshaber von mir! Wir treffen uns in einer Stunde hier vor der Bibliothek.«
Der Druckermeister versprach, nicht von Algot zu grüßen. Und dann zogen die Kompagnons jeder in seine Richtung davon.
***
Apotheker Otterdahls Ansinnen in der Landesbibliothek bestand darin, so viel wie möglich über verschiedene Heilpflanzen, Kräuter und bereits vorhandene Heilmittel gegen dieses oder jenes zu finden. Er hatte ja in der Eile auf gut Glück von sich behauptet, Experte für Medizin gegen Zahnschmerzen und finstere Gedanken zu sein. Das mit den Zahnschmerzen schlug er sich bei näherer Betrachtung aus dem Kopf. Die einzige bekannte Medizin bestand offenbar aus dreißig Tropfen Opium (was Algot nicht zur Verfügung stand) oder mehr Schnaps, als selbst der Engländer schaffte. Wobei sich die Zahnschmerzen am nächsten Morgen zurückmeldeten. Da war es in jedem Fall praktischer, sich den Zahn vom nächsten Schmied ziehen zu lassen.
Mit den finsteren Gedanken sah es freilich anders aus. Wer in Schweden trug sich im Jahr 1853 nicht mit solchen? Arm wie Reich! Man nehme nur Frank Miles, der laut eigener Aussage von Geburt an davon heimgesucht wurde.
Doch mit Wasserburg Wodka in der richtigen Dosierung und in passenden Abständen war er umgänglich wie kein zweiter geworden! Anscheinend vergaß er, dass er um sowohl seine Vorauszahlung an die Druckerei als auch um die Bücher und Einnahmen aus deren Verkauf geprellt worden war, er erklärte sich einverstanden mit einem nicht näher spezifizierten Gehalt mit noch unspezifizierterem Zahlungsdatum – und war brav in die Kate im Garten gezogen, solange man ihm abends zwei Schnäpse auf den Holzklotz stellte, neben dem, was bis vor Kurzem Algots Bett gewesen war.
Kurz und gut, der Branntwein hatte bewirkt, dass der Engländer eine positive Einstellung zum Leben bekam. Wenn Algot das Produkt ein Ideechen veredeln könnte, sollte heißen: den Alkoholgehalt verdoppeln und zugleich den Alkoholgeschmack wegzaubern, dann müsste Apotheker Algot H. Otterdahls Wundermedizin gegen finstere Gedanken Potenzial haben. Mit einem Verkauf in kleineren Flaschen zum fünfmal höheren Preis.
Algot saß still an seinem Platz, schlug in verschiedenen Büchern nach und machte sich dazu Anmerkungen:
Süßholz, Zitrusgewürz, Ingwer, Gewürznelke, Majoran, Kümmel, Koriander, Basilikum, Muskat … und dazu so gewöhnliche Ingredienzien wie rote Bete, Möhren, getrockneter Holunder und Bärlauch von der Insel Öland.
Alles würde vielleicht nicht in ein und dieselbe Flasche passen, aber umso interessanter für den Engländer sein, der ja nun Chefverkoster werden sollte.
Als Rückendeckung für sein Anliegen fand Algot außerdem einen Artikel in der Göteborgs Handels- och Sjöfartstidning , der Göteborger Handels- und Schifffahrtszeitung, über Karl Heinrich Thielemann, einen deutschen Lehrer, der in St. Petersburg wirkte. Seine Tropfen gegen Magengrimmen, die sich unter anderem aus Pfefferminzöl und Safran zusammensetzten, wurden teuer verkauft. Algot verstand nicht, wie so etwas gegen Durchfall helfen konnte. Doch das war ja Thielemanns Problem. Oder eher das seiner Kunden.
»Ich habe Denkanstöße bekommen«, sagte er, als er vor der Bibliothek auf seinen Kompagnon traf.
»Ich auch!«, sagte Helmut.
»Hast du den Oberbefehlshaber gesprochen?«
Der Druckermeister verzog das Gesicht:
»Das erzähle ich dir auf der Rückfahrt.«
***
Oberbefehlshaber Klerbring, der zunächst nichts von dem unangemeldeten Besucher wissen wollte, änderte seine Meinung, als er erfuhr, dass es um Branntweinfabrikation ging.
Als Einstieg erinnerte Druckermeister Helmut Zimmermann an den bereits vorliegenden Antrag auf Import von Spirituosen aus Bayern.
»Ja, freilich«, sagte Oberbefehlshaber Klerbring. »Den hatte ich ja ganz vergessen. Allerdings kann ich Euch schon jetzt sagen, dass Ihr Euch keine gar zu großen Hoffnungen machen solltet, Herr Druckermeister.«
Das überraschte Helmut, aber er versuchte, das Beste daraus zu machen.
»Wie gut, dass mein heutiger Besuch ein verwandtes Anliegen betrifft, bei dem jedoch keine Gelder ins Ausland fließen müssten. Sowohl die Staatskasse als auch wir armen Gewerbetreibenden brauchen in diesen schweren Zeiten ja jeden Reichstaler, den wir zusammenraffen können.«
Als der Oberbefehlshaber sich daraufhin erkundigte, was genau Helmut beabsichtige, bekam er zur Antwort, dass dieser eine eigene Spirituosenfabrik in Aringsås gründen wolle.
Zu Helmuts Verwunderung brach der Oberbefehlshaber in schallendes Gelächter aus und sagte, der Herr Druckermeister hätte kaum einen schlechteren Zeitpunkt für seine avisierte Unternehmensgründung wählen können!
»Wie das?«, fragte Helmut verwundert, einen höchst ungünstigen Gesprächsausgang vorausahnend.
Nun ja, der Oberbefehlshaber, sprich: Bezirksverwaltungsleiter, war soeben von einer dreitägigen Sitzung mit seinen gleichrangigen Kollegen im ganzen Land zurückgekehrt. Dort war ihnen unter anderem eröffnet worden, dass Klerbrings Betitelung in Bälde in Bezirksregierungspräsident abgeändert werden sollte.
»Ein ehrenwerter Titel, wenn Ihr mich fragt, Herr Zimmermann«, hatte der Oberbefehlshaber stolz kundgetan. »›Oberbefehlshaber Seiner Königlichen Majestät‹ ist natürlich auch nicht zu verachten, aber um das auszusprechen, geht ja ein halber Arbeitstag drauf.«
Und Klerbring lachte über seinen eigenen originellen Witz.
»Hätten der künftige Herr Bezirksregierungspräsident wohl die Güte, einem einfachen Druckermeister zu erklären, was seine Betitelung mit meinen Plänen für eine Spirituosenfabrik zu tun hat?«
Klerbrings Gelächter versiegte, er wurde erneut ernst. Und bemerkte eine gewisse Aufmüpfigkeit in den jüngsten Äußerungen des Deutschen.
»Selbstverständlich wurden an den drei Tagen in Stockholm noch andere Themen erörtert, wie Ihr Euch vielleicht denken könnt, Herr Zimmermann?«
Ohne Helmuts Antwort abzuwarten, fuhr er fort:
»Ihre Majestät blicken gemeinsam mit dem Reichstag wie auch der Regierung mit vermehrter Sorge auf den zunehmenden Alkoholkonsum hierzulande. Noch ist es nicht offiziell, aber alles deutet darauf hin, dass das Recht auf Schnapsbrennen für den Hausgebrauch aufgekündigt werden soll. Die Bezirksverwaltungen, das heißt also ich, was Kronoberg angeht, erhalten außerdem den Auftrag, unter der zunehmenden Anzahl verderblicher Wirtshäuser aufzuräumen, die wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Und nicht zuletzt soll es hier in der Region weniger, nicht mehr Spirituosenproduzenten geben.«
»Weniger?«, war das Einzige, was Helmut da noch herausbrachte.
»Ganz genau. Solange ich auf diesem Stuhl sitze, also hoffentlich noch lange Zeit, könnt Ihr nicht darauf zählen, zum weiteren Verderben des schwedischen Volkes beitragen zu dürfen, Herr Druckermeister. Stattdessen solltet Ihr – wenn Ihr mir einen freundschaftlich gemeinten Rat gestattet – einer der vielen Abstinenzlervereinigungen beitreten, die glücklicherweise in unserem Land zunehmend Verbreitung finden.«
Helmut hatte zwar bemerkt, dass die Anzahl der strikten Abstinenzler rapide zunahm, sich davon aber nicht beunruhigen lassen. Zum einen, weil die Schluckspechte immer noch die weit überwiegende Mehrheit stellten, zum anderen, weil es selbst unter den Abstinenzlern einen beträchtlichen Anteil an heimlichen Säufern gab. Aber dass Algot und er jetzt Branntwein weder importieren noch selbst herstellen durften, war schwer zu verdauen. Die Gleisbauer kamen ja laufend weiter Richtung Norden voran und würden bald außer halbwegs bespielbarer Rechweite sein.
Sie hatten die Hälfte des Heimwegs zurückgelegt, als Helmut mit dem Bericht von seinem Besuch in der Bezirksverwaltung endete.
»Wenn wir also weiter so tun, als würden wir importieren, machen wir uns strafbar, und wenn wir die große Destilliermaschine in Betrieb nehmen, noch mehr?«, fasste Algot den Lagebericht zusammen.
»Und dazu kommt noch das mit den abrückenden Gleisbauern«, sagte Helmut.
»Und dass wir zwei neue Mitarbeiter und fast kein Geld mehr haben«, ergänzte Algot.
»Und der unausstehliche Sohn des Grafen hinter uns her ist«, machte sein Kompagnon weiter.
Da brachen beide in Gelächter aus hinter Algots Brunte, der schon gelernt hatte, auch den Weg zu seinem neuen Stall in Aringsås zu finden. Es stand so schlimm um alles, dass es schon wieder zum Lachen war. Jedenfalls einen Augenblick lang. Bis Helmut sagte:
»Was, zum Teufel, machen wir bloß, Algot?«
»Wir wenden uns Hilfe suchend an eine mir nahestehende Person.«
»Denkst du da an Apotheker Otterdahl?«
»Genau den.«
Helmut nickte.
»Ja, der ist ein braver Mann.«