Gräm dich nicht!

Gérard Lemot saß in seinem Kontor und stellte die Kosten-Nutzen-Rechnung des Weinguts auf. Es war der neunte Monat in Folge mit beträchtlichem Überschuss. Draußen vor dem Fenster erstreckten sich die neuen Weinstöcke, die eine Rekordernte versprachen.

Es klopfte an der Tür. Der so unwiderstehliche Verwalter Bastien trat ein. Mit bedauernder Miene berichtete er, das Postamt könne auch heute nicht mit einem oder mehreren Briefen aus Schweden aufwarten.

»Die letzten Briefe kamen nun schon bald vor drei Wochen«, sagte er und fügte hinzu, der Herr Marquis solle sich deshalb keine gar zu großen Sorgen machen.

»Bestimmt trifft jederzeit ein ganzer Packen ein.«

Seufzend wog Gérard im Geiste das Wohlergehen des Weinguts gegen die fehlenden Lebenszeichen von seiner Schwester ab; zu alledem war Bastien seit Neuestem verlobt – mit einer Frau!

Er dankte dem schwer Widerstehlichen für die Auskunft und bat, nicht gestört zu werden.

Abermals allein, griff er zur Feder und setzte an:

Meung-sur-Loire, den 4. August 1853

Geliebte Schwester!

Nun ist es schon eine halbe Ewigkeit her, dass mich Briefe aus Deiner Feder erreichten. Dabei wüsste ich so gerne, wie es Dir dort im hohen Norden mit Deinem vulgären Gatten in dem Land ergeht, das Du nicht erträgst. Ich denke auch an die junge Sophia, der ich noch nicht leibhaftig begegnet bin. An wen sie wohl verhökert werden wird? Mag sein, dass Du nun meinst, ich hätte mich im Ausdruck vergriffen, aber

Genau hier hielt der Marquis inne, von einer plötzlichen Eingebung getroffen, den Federkiel noch in der Hand. Dass er seine Zwillingsschwester brauchte, war das eine, doch nun spürte er plötzlich ganz intensiv, dass sie ihn brauchte ! Wofür und warum, wusste er nicht, aber wozu waren Zwillinge sonst füreinander da!

Er rief den schwer Widerstehlichen herbei und sagte ihm, er halte die Warterei auf den nächsten Brief nicht mehr aus.

»Es ist fünfundzwanzig Jahre her, dass ich meine Schwester das letzte Mal gesehen habe, nun ist es genug! Ich will mich gen Schweden begeben!«

Er fragte den schwer Widerstehlichen, ob dieser die Arbeiten auf dem Weingut beaufsichtigen könne, während Gérard zwei, drei Monate oder auch länger fort sei.

»Pas de problème , Monsieur Marquis«, sagte der Verwalter. Kein Problem!

Er war zwar nur fünfzehn Jahre jünger als Gérard, aber noch Junggeselle. Jahrelang hatte der Marquis sich gefragt, warum wohl? , freilich ohne einen Annäherungsversuch zu wagen. Und jetzt: verlobt! Es gab mehr als einen Grund, das Land zu verlassen, auch wenn der Hauptgrund schon ausreichte.

Wieder sollte es der Sechsspänner sein. Und die neue Kutsche mit sechs Fenstern, Kühlkasten, Heizofen und Schlafkoje. Zudem zwei Kutscher und Madame Bayard, die Köchin mit der Warze auf der Nase. Gérard wusste nicht, was er schlimmer fand, Madame Bayard oder ihre Warze. Aber sie verstand sich wie keine andere darauf, aus lauter frischen Zutaten ein Festmahl zuzubereiten. Nicht zuletzt unter den eingeschränkten Bedingungen, die sie auf der Landstraße erwarteten.

Gräm dich nicht, Antoinette!, dachte ihr Bruder. Ich eile, ich fliege!