Mauritz räumt auf
»Guten Morgen, mein geliebter Sohn«, sagte die Gräfin.
Antoinette saß bereits mit Sophia beim Frühstück im Spiegelsaal, als Mauritz eintrat. Sie hörte sich sorgloser denn je an, was am genauen Gegenteil lag. So wie sich die Dinge mit dem maladen Rücken des Grafen entwickelten, galt es, Mauritz mit dem mütterlichen Netz zu umgarnen, bevor er sich zu etwas auswuchs, das sich womöglich ihrer Kontrolle entzog.
Hoffentlich war es noch nicht zu spät! Der Sohn setzte sich an den Platz des Grafen am Kopfende der Tafel.
Zufall?
Oder wollte er ihnen damit etwas sagen?
Mauritz war strikt auf seine Aufgaben dieses Tages fokussiert: Erst mit seiner Mutter von wegen ihrer Araber Tacheles reden, dann auf zum Sägewerk, um dem Vorarbeiter klarzumachen, wer ab jetzt das Sagen hatte.
Antoinettes Befürchtung sollte sich früh genug als berechtigt erweisen.
»Guten Morgen, Mutter und Schwester«, sagte der Sohn alles andere als herzlich.
»Wissen wir, wie es Vater geht?«, erkundigte sich Sophia, weil sie sich mit dem Grafen auf diesem Stuhl wohler fühlte als mit ihrem großen Bruder.
»Der hat vor Kurzem nach der Haushälterin gerufen, die wir nicht mehr haben, seit ihr auf der Welt seid, wird also wohl bereits frühstücken«, sagte die Gräfin in dem Versuch, die Stimmung etwas aufzulockern.
»Was wird aus meinen neuen Schuhen für den Besuch des Königs?«, fuhr Sophia fort, der die Erfahrung ihrer Mutter im Einschätzen von Situationen fehlte. »Kann ich so was jetzt selbst entscheiden, wo Vater nun mal bettlägerig ist?«
»Er ist eigentlich eher ein Sesselpupser«, sagte Mauritz. »Und die Antwort auf deine Frage lautet: Nein, liebe Schwester. Bis auf weitere Verlautbarungen bin ich es, der die Entscheidungen in diesem Hause fällt. Und als Erstes verfüge ich, dass du mit deinen bereits vorhandenen vierzig Paar Schuhen auskommen musst.«
Als seine kleine Schwester protestieren wollte, schnitt Mauritz ihr das Wort ab:
»Der Hofstaat wird vermutlich nachmittags hier eintreffen und zwei Tage darauf nach Dänemark weiterziehen. Wie lange mag das dauern, vierzig Stunden? Das ist ja perfekt! Da kannst du vor den Augen Seiner Majestät stündlich die Schuhe wechseln.«
Sophia brach in Tränen aus.
»War das jetzt nicht unnötig herzlos von dir, Mauritz?«, fragte die Gräfin nervös.
»Womit wir auf all Eure Vollblüter zu sprechen kommen«, sagte der Sohn.
Antoinette hörte augenblicklich auf, ihre Tochter zu bemitleiden. Wenn die Araber zur Sprache kamen, war sie in ihrem Element. Zunächst erkannte sie nicht einmal die Gefahr.
»Oh, danke!«, sagte sie. »Diese wundervollen Geschöpfe.«
Und ehe Mauritz sie aufhalten konnte, schilderte sie in bewegenden Worten die elegant geschwungene Nasenpartie mit den großen geblähten Nüstern, den Araberknick im Nasenbein, das Temperament, das in nichts demjenigen des Grafen nachstand, sowie den hohen Schweifansatz.
»Auch darin Gustav nicht unähnlich«, sagte die Gräfin lächelnd. »Aber im Unterschied zu ihm, der bloß da oben herumsitzt, sind meine Araber schnell wie der Wind!«
»Wozu soll das gut sein?«, sagte Mauritz kurz angebunden.
Jetzt wurde die Gräfin wieder wachsam. Ihr Charme verfing nicht beim Sohn. Was er wohl dachte?
»Schnell wie der Wind, habe ich doch gesagt.«
»Und wohin willst du so eilig?«
Er sagte du zu ihr statt Mutter und Ihr ! Was war da im Busche?
»Mit einem Vollblut will man nirgends hin, lieber Mauritz. Es ist mehr so, dass es … für pure Lebensfreude steht!«
»Seht Ihr, wie unsere Tagelöhner und Pächter hungern und sich plagen? Wenn wir Eure Pferde schlachten, Mutter, haben wir den ganzen kommenden Winter genug Fleisch für die Armen.«
Mauritz hatte durchaus nicht vor, irgendwelche Arbeiter gratis durchzufüttern, aber diesen Spruch hatte er sich nun mal vorher so zurechtgelegt.
»Meine Araber schlachten? Bist du wahnsinnig geworden, Mauritz?«
»Wenn Ihr rechnen könntet, Mutter, wärt Ihr meiner Meinung. Oder wir verkaufen sie an einen, der nicht nur viel Geld, sondern auch wenig Verstand hat.«
Jetzt kamen der Gräfin echte Tränen. Und das, während Sophia immer noch schniefend ihren Schuhen hinterhertrauerte. Mauritz griff sich zwei frisch gebackene Brötchen und schmierte Pflaumenmus darauf. Sagte, er habe anderes zu tun, als seine Zeit mit Herumsitzen zu verschwenden. Die Brötchen in einer Hand, stand er auf:
»Jetzt muss ich zusehen, wie ich im Sägewerk aufräume.«
In letzter Sekunde fiel Mauritz der doppelte Morgenschnaps ein, den er sich regelmäßig bestellte. Der stand zwei Stühle weiter, dort, wo er sonst immer saß. Rasch kippte er den Fusel hinunter, ehe er aus dem Saal ging – während die Gräfin und ihre Tochter so laut um die Wette weinten, dass es sogar der Mann in seinem Ohrensessel einen Stock höher vernahm.
»Brav, mein Sohn!«, sagte der Graf. »Wer hätte das gedacht, dass du dich schließlich doch noch nützlich machen würdest!«
Sophia schluchzte wirklich herzzerreißend, aber Antoinette hörte auf zu weinen, als sie Mauritz’ Schritte auf dem Kiesweg vor dem Schloss hörte. Sitzenbleiben und Flennen war nun nicht mehr opportun. Also beruhigte sie sich, trocknete ihre Tränen mit der Serviette und bedeutete ihrer Tochter, es ihr gleichzutun.
»Ich bin mir nicht sicher, ob das hier noch lange so weitergeht, Sophia.«
»Wie meint Ihr das, Mutter?«, fragte die schniefende Tochter.
»Ich weiß nicht recht. Doch es gibt einen Menschen auf dieser Welt, in den ich mehr Vertrauen habe als in jeden anderen.«
Sophia verstand, dass sich das nicht auf ihre Person bezog:
»Und wer ist das, wenn ich fragen darf?«
Die Gräfin verfuhr nach dem Prinzip: Keine Antwort ist auch eine Antwort.
»Ich habe einen Brief zu schreiben. Lang und detailreich …«
Und sie umarmte ihre Tochter und sagte, dass sie beabsichtige, sich unverzüglich an den Schreibtisch in ihrem Schlafgemach zu begeben.
»Ich erzähle später mehr, Schätzchen.«
***
Als Mauritz am Sägewerk ankam, lief der Betrieb schon seit vier Stunden. Die Arbeiter hatten fünf Minuten Pause.
»Aha, wie ich sehe, stehen die Leute hier faul in der Gegend herum«, begann er das Gespräch mit dem Sägewerksvorarbeiter Björk.
Anders Björk war ein langjähriger treuer Mitarbeiter des Grafen, hatte Mauritz aufwachsen sehen und den Grafen über dessen sämtliche Defizite schimpfen gehört. Dass der Bursche jetzt ankam und sich wie Graf Koks aufführte, nur weil sein Vater ein wenig Rückenschmerzen hatte … nein, das beeindruckte Björk wenig.
»Na, sie sitzen wohl eher. Wärt Ihr seit Arbeitsbeginn um halb sieben Uhr morgens dabei gewesen, junger Herr Mauritz, könntet Ihr Euch sicherlich leichter mit einer kurzen Verschnaufpause um diese Zeit abfinden. Meint Ihr nicht auch?«
Junger Herr Mauritz? Für wen hielt dieser Vorarbeiter sich?
»Ich kann Euch nur raten, Euch unverzüglich das Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. Euer verdammtes Sägewerk macht Verluste! Man erwirtschaftet keinen Gewinn, wenn Tagelöhner während der Arbeitszeit Kaffee trinken dürfen! Das würdet Ihr allemal auch begreifen, Herr Vorarbeiter, wenn Ihr mehr als zwei Jahre lang die Schulbank gedrückt hättet.«
Doch da fuhr Björk aus der Haut (der im Übrigen ein Jahr lang die Schulbank gedrückt hatte):
»Wenn Ihr daheim geblieben wärt, Herr Leutnant, und neben meinen tüchtigen Tagelöhnern zugepackt hättet, würde die Bilanz vielleicht anders aussehen – anstatt überall im ganzen Land von so vielen Regimentern wie möglich entlassen zu werden. Das Klagelied des Grafen über den unnützen Herrn Sohn habe ich wohl vernommen.«
Bodenlose Frechheit! Und das auch noch vor Augen und Ohren der Kaffee trinkenden Tagelöhner.
»Ich könnt Euer Sack und Pack nehmen und von hier verschwinden«, sagte Mauritz.
»Was?«, erwiderte der Vormann.
»Hört gefälligst hin, was ich Euch sage! Ihr seid entlassen. Es reicht, wenn Ihr die Dienstwohnung mit Eurer Familie in einer Stunde geräumt habt. Aber nehmt ja nichts aus dem Besitz des Schlosses mit, sonst hetze ich Euch den Amtmann auf den Hals. Rask und ich sind so dicke Freunde!«
Anders Björk dachte an den Grafen. Das hier konnte unmöglich in dessen Sinne sein.
»Vielleicht wollt Ihr Eure Entscheidung zunächst einmal mit Eurem Vater abstimmen, junger Herr Mauritz? Bevor das Maß voll ist.«
»Noch fünzig Minuten«, sagte Mauritz. »Dann wende ich mich an den Amtmann.«
Offensichtlich hatten die Tagelöhner verstanden, dass das Sägewerk soeben eine ganz andere, energischere Führungspersönlichkeit bekommen hatte.
»Und was euch anbelangt …«, setzte er an, um nach kurzer Pause fortzufahren: »… zurück an die Arbeit!«