Gedanken unterwegs
Die Fahrt nach Aringsås dauerte eine ganze Weile. Das verschaffte Mauritz Zeit zum Nachdenken.
Sophia hatte mit ihren Schuhen nach ihm geworfen. Keine Treffer, nichts passiert. Wenn er die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte, würde er sie sofort verheiraten, damit er sie los war. Der Graf versuchte das zwar schon seit Jahren, doch wie alles andere mit zu wenig Entschlusskraft.
Mauritz selbst würde sich nie mit einer nicht standesgemäß arrangierten Ehe zufriedengeben, er war ja der Stammhalter. Aber für seine kleine Schwester müsste eigentlich jeder x-beliebige Schafzüchter reichen, solange er einen Viehbestand von über fünfhundert hatte. Oder zumindest dreihundert.
Die Reaktion seiner Mutter auf die Sache mit den Vollblütern konnte er auch wegstecken. Denn was blieb ihm anderes übrig, wo er nun mal der Einzige in der Familie war, der etwas vom Wirtschaften verstand? Nun, er brauchte die Pferde ja nicht vor ihren Augen schlachten zu lassen, es genügte schließlich, sie zu verkaufen. An irgendwen. Irgendwie.
Die Situation mit dem Sägewerk verdross ihn empfindlicher. Seinem Vater würde es nicht gefallen, dass er den Vorarbeiter entlassen hatte, und die daraus resultierende Hilflosigkeit der Arbeiter war frappierend. Aber das Sägewerk hatte ja Jahr für Jahr Verlust erwirtschaftet.
Ihm stand immer klarer vor Augen, dass Papa Gustav die Kontrolle über sein Sägewerk entglitten war. Ob es jemals anders gewesen war? Seine Rückenverletzung entpuppte sich womöglich als Rettung ihres Geschlechts! Und die Verantwortung dafür ruhte offensichtlich auf Mauritz’ Schultern.
Warum fuhr er dann eigentlich nach Aringsås und versuchte erneut, Algot Olsson zu fassen zu bekommen? Die gestohlene Kate war nicht mehr wert als zwei Paar der Schuhe, die seine kleine Schwester schon einmal aus dem Fenster geworfen hatte und bestimmt wieder nach ihm schmeißen würde.
Der Leutnant wusste die Antwort selbst: Erstens war es wichtig, dass der Adel die herrschende Gesellschaftsordnung aufrechterhielt. Einfache Leute waren nun mal einfach. Sie sollten nicht am gedeckten Tisch Platz nehmen und sich schon gleich gar nicht von den aufgetischten Speisen bedienen.
Doch noch wichtiger war, dass Mauritz den Vater an seiner Seite brauchte, solange der Alte weiterzuleben gedachte. Und für den stand die gestohlene Kate für etwas ganz Wichtiges. Wenn der Sohn dieses Problem zusammen mit den schwesterlichen Schuhen und den mütterlichen Araberpferden gelöst hatte – dann hätte er den Vater da, wo er ihn haben wollte, nämlich so weit, dass dieser alles der neunten Bielkegren-Generation übergeben würde. Wonach er in seinem gräflichen Gemach nach Lust und Laune ableben konnte.
»Graf Mauritz Bielkegren«, sagte Mauritz und stellte sich sich selbst vor.
»Sehr erfreut«, antwortete er sich.
***
Beim ersten Mal hatte Mauritz zunächst bei der Kate angeklopft, vergebens. Anschließend war er zum großen Haus gegangen und hatte erneut geklopft. Woraufhin er sich mit dem Druckermeister, dessen Tochter, noch einer Frau und einem Apotheker herumschlagen musste. Aber eigentlich wollte er Algot Olsson in die Finger kriegen.
Der Apotheker hatte behauptet, Algot habe besagte Kate verkauft, aber nicht, an wen. Etwa an den Apotheker persönlich? Mauritz konnte sich nicht erinnern. Wenn die Auskunft überhaupt stimmte! Auf Bürger oder Bauern war noch nie Verlass gewesen.
Er ließ Pferd und Wagen in sicherer Entfernung zurück, ging das letzte Stück bis zur Kate zu Fuß, klopfte und wartete auf Antwort.
Immer noch keiner da?
Er klopfte wieder.
Aha, jetzt waren drinnen Geräusche zu hören. Schritte, die näher kamen. Die Tür ging auf.
Ein baumlanger Kerl um die sechzig stand vor ihm, der verlebt und verschlafen wirkte. Komisch, verschlafen? Es war doch halb zwei Uhr nachmittags.
»Um was geht’s?«, sagte Frank Miles. »Und wer, zum Teufel, bist du?«
Der Engländer hasste es wie die Pest, geweckt zu werden! Außerdem hatte er so lange geschlafen, dass sich der Alkoholpegel in seinem Blut verflüchtigt hatte. Als der Uniformierte dann auch noch antwortete, er sei quasi verwandt mit dem König und verlange eine andere Anrede – da verwandelte sich Frank Miles in sein altes Ich.
Er kam strumpfsockig heraus, packte Mauritz Bielkegren an Nacken und einem Arm und stieß ihn ins Möhrenbeet der Familie Zimmermann (das schon so vieles hatte über sich ergehen lassen).
Als sein Blick anschließend auf die Kutsche weiter oben am Weg fiel, stellte er den Eindringling wieder auf die Beine, schleifte ihn hinter sich her und half ihm unsanft auf den Kutschbock hinauf.
»Tut mir nichts!«, wimmerte der Leutnant dort, wo er hockte.
Nein, das war nicht nötig. Frank Miles wollte nur seine Ruhe haben und löste das Problem, indem er dem Pferd einen kräftigen Klaps auf die Kruppe gab.
Das Kaltblut, das weder Schwedisch noch Englisch verstand, wusste immerhin, was ein Klaps aufs Hinterteil bedeutete, und zuckelte sofort los.
»Grüß den König!«, rief der Geweckte Pferd und Wagen hinterher und kehrte auf Strümpfen zu seiner Kate zurück. Stand da nicht noch ein volles Schnapsgläschen am Bett? Oder hatte er sich das schon hinter die Binde gekippt?