Die Rückkehr des Kandidaten
Der ehemalige Kandidat, nunmehr Rechtsanwalt Elias Henriksson, saß in seiner Kanzlei an der Hauptstraße Storgatan in Växjö und sah sich Ermittlungsakten an, um einen Fall zu finden, den er sich als Nächstes vornehmen könnte. Am besten etwas mit Schwach gegen Stark, Klein gegen Groß. Und doch mit einigermaßen akzeptablen Erfolgsaussichten.
Da klopfte seine Sekretärin und teilte ihm mit, der Herr Anwalt habe unangemeldeten Besuch, ob sich das einrichten lasse?
»Aber gewiss doch«, sagte Elias und bat die Sekretärin, den unangemeldeten Gast hereinzuführen.
***
Als Student hatte Elias Henriksson seine Kasse aufgebessert, indem er Kindern und Jünglingen, deren Eltern sich das leisten konnte, Privatunterricht erteilte. Damals wurde er von Eltern wie Schülern kurz und gut Herr Kandidat genannt. Denn ein solcher war er ja.
Eines Tages hatte es sich ergeben, dass er bei Graf und Gräfin Bielkegren auf Kronogården vorstellig wurde. Und zwar auf Empfehlung eines Kommilitonen, der den Auftrag hatte ablehnen müssen, weil er in ein anderes Kirchspiel gezogen war.
Das gräfliche Paar hatte einen zwölfjährigen Sohn, eine zehnjährige Tochter und noch eine Tochter um die fünf oder sechs Jahre. Der Kandidat unterrichtete alle drei zusammen einmal wöchentlich. Doch es war von Anfang an kein Zuckerschlecken gewesen. Die Töchter hatten sowohl mit ihm als auch untereinander ausschließlich Französisch reden wollen, und der Sohn hatte sich geweigert, zu lesen oder auch nur eine einzige Hausaufgabe zu erledigen. Das Französisch des Kandidaten reichte für ein vernünftiges Gespräch aus; das Problem war eher, dass zwei von den dreien sich für nichts anderes interessierten, als was in Frankreich gesagt und getan wurde, während der Dritte, Thema oder Sprache ungeachtet, nur wegwollte.
Nach einer längeren Unterrichtsstunde draußen im Hortensienhain des Schlossparks war dann Schluss gewesen. Die Gräfin war vorbeigekommen und hatte sich erkundigt, was der Herr Kandidat von den Fortschritten ihrer Kinder halte. Elias hatte wahrheitsgemäß geantwortet, dass es langsam voranginge, mit Betonung auf langsam .
»Wie das?«, hatte Antoinette Bielkegren pikiert gefragt.
Nachdem er kurz in sich gegangen war, hatte Elias beschlossen, den aufrichtigen Weg weiterzugehen. Als Beispiel führte er an, dass er eben erst mit seinen Zöglingen alle Weltmeere habe durchnehmen wollen, wobei indes eine erkleckliche Zeitspanne dafür draufgegangen sei, dem Sohn zu erklären, warum der nah gelegene See Salen keines sei. Während die Töchter andere Themen untereinander erörtert hätten. Möglicherweise die Größe Kaiser Napoleons III .
»Einer mit limitiertem Verstand und zwei mit noch limitierterer Aufmerksamkeitsspanne«, hatte sein Fazit gelautet. »Doch Ihr sollt wissen, ich bin eifrig bemüht, Frau Gräfin.«
Als er danach um Bezahlung für die letzten drei Unterrichtstage gebeten hatte, war ihm stattdessen wegen Inkompetenz gekündigt worden. Und zwar bezogen auf seine Versuche, den Unterschied zwischen See und Meer zu erklären, nicht etwa auf den, der nichts verstand, oder die, die nicht aufpassen wollten.
Doch dann hatte sich per Zufall etwas Neues ergeben. Elias hatte noch nicht einmal mit Pferd und Wagen die Kronogården-Ländereien verlassen, da hatte ihn der benachbarte Schweinezüchter angesprochen. So war eins zum anderen gekommen, und schon hatte der Kandidat einen neuen Auftrag in der Tasche: Der elfjährige Bauernsohn brauchte Unterweisung – und das stellte sich als etwas ganz anderes heraus!
Der Kandidat und der junge Algot hatten sich auf Anhieb verstanden. Der Elfjährige hatte nicht nur alles begriffen, was Elias ihm beibrachte, sondern es sich auch noch gemerkt. Außerdem hatte der Schweinezüchter ihn nie auf das Honorar warten lassen.
Der Kandidat vermisste fast schon die Unterrichtsstunden mit Sven Olssons Sohn. Damit war vor fünf Jahren Schluss gewesen, als der Knabe endgültig zum Mann heranwuchs. Danach waren sie sich erst auf der Beerdigung des Schweinezüchters erneut begegnet. Eine zutiefst traurige Geschichte. Und als Nächstes dann das glückliche Wiedersehen mit dem jungen Algot und … wie hieß sie noch mal … Fräulein Anna Stina? – vor gar nicht allzu langer Zeit in Frau Mellgrens Konditorei!
Was für eine Geschichte sie ihm aufgetischt hatten! Freilich mit einigen Leerstellen, aber dennoch! Auf gewisse Weise schienen die beiden ein Paar zu sein – wenn auch nicht verlobt . Die eine verkaufte tagsüber Bücher, der andere brannte schwarz zur Freude der schwer arbeitenden Gleisbauer. Und sie wohnten unter einem Dach in Aringsås beziehungsweise zusammen. Das musste wohl bedeuten, dass Algot ein für alle Mal dem gräflichen Zugriff entronnen war.
Elias hätte sich schließlich denken können, dass der pfiffige Sohn des Schweinezüchters sich trotz eigentlich kümmerlicher Voraussetzungen gut durchs Leben schlagen würde.
***
All das ging dem Anwalt in rasender Fahrt durch den Kopf, als er den Mann, der sein Büro betrat, auf den ersten Blick wiedererkannte.
»Guten Tag, Herr Anwalt. Ich bin Leutnant Mauritz Bielkegren, Sohn des Grafen Gustav Bielkegren und mit guten Beziehungen zum Königshof. Ich wünsche Euch in einer komplexen Angelegenheit zu konsultieren; es geht um den Diebstahl eines gräflichen Gebäudes.«
Der einstmals so lernfaule Grafensohn erkannte keine Verbindung zwischen dem Anwalt und dem Kandidaten, der seinerzeit versucht hatte, ihm den Unterschied zwischen dem See Salen und dem Pazifik beizubringen. Elias Henriksson nahm sich umgehend vor, ihn nicht daran zu erinnern.
Der ehemalige Kandidat war wie stes neugierig, womit das Leben wohl noch aufzuwarten hatte, und seine Neugier wurde von dem zuletzt Wahrgenommenen keineswegs gedämpft. Dass dieser Mauritz ihn nicht einmal wiedererkannte! Auch wenn sich der Anwalt auf Schwach gegen Stark spezialisiert hatte, war ja nun nicht in Stein gemeißelt, dass Adlige ausnahmslos unrecht hatten. Gerechtigkeit sollte für alle gelten.
Der einstmalige Kandidat, der beschlossen hatte, nicht an seine und des angehenden Klienten gemeinsame Vorgeschichte zu rühren, erinnerte sich hingegen noch gut daran, wie er einmal um den Preis für drei volle Unterrichtseinheiten mit unter anderem dem Mann, der nun vor ihm stand, geprellt worden war.
»Ich nehme fünf Reichstaler pro Stunde und verlange mein Honorar für sechzehn Stunden im Voraus. Unter der Bedingung bin ich bereit, Euch zu helfen, das gestohlene gräfliche Gebäude zurückzubeschaffen. Wie stiehlt man übrigens ein ganzes Haus?«
Der Anwalt erhielt den Auftrag, zusammen mit Mauritz Bielkegren einen gewissen Druckermeister Zimmermann aufzusuchen, auf dessen Grundstück sich die gestohlene Kate befinden sollte. Mittlerweile war der Besitz offenbar an einen gewissen Apother Otterdahl übergegangen – obgleich die Kate doch de facto gräfliches Eigentum war!
Ein Druckermeister und ein Apotheker , dachte Anwalt Henriksson. Er wusste nur zu gut, wie die Bürger zusammenhielten. Natürlich musste er sich gründlicher in die Materie einarbeiten, doch die Voraussetzungen für einen Sieg vor dem Kreisgericht von Allbo sahen fürs Erste gar nicht so übel aus. Daran, dass die Sieger in dem Fall der Graf und sein stupider Sohn sein würden, ließ sich leider nichts ändern.
»Dann wollen wir uns doch gleich der Sache annehmen«, sagte der Anwalt, sowie er die geforderten Reichstaler in der Hand hatte. »Den Sachverhalt könnt Ihr mir auf der Fahrt näher erläutern.«
Als sie angelangt waren, entschied sich Elias – obgleich ihm sein Klient dringendst davon abriet –, zunächst einmal an die Tür des fraglichen Streitobjekts Kate zu klopfen. Wodurch der Engländer Frank Miles zum zweiten Mal innerhalb von drei Stunden nicht nur geweckt, sondern auch gestört wurde.
Jetzt reichte es ihm aber endgültig!
Elias kam glücklicherweise mit dem Schrecken davon, weil sich Frank Miles auf den Uniformierten direkt hinter ihm konzentrierte.
»Du schon wieder, du Satans-Füsilier!«