Auge in Auge mit dem Vater
Mauritz hatte sich schon seit Tagen nicht mehr um das Gebrüll aus dem Schlafgemach seines Vaters gekümmert.
Da die Vollblüter nun abgeschafft und die Spirituosenfabrik einigermaßen im ehemaligen Stall installiert war, hatte er Gustav die Zukunftsaussichten an sich bereits tags zuvor präsentieren wollen. Doch als ihm zugetragen wurde, dass die Stümper im Sägewerk den totalen Stillstand der Schnittholzannahme verursacht hatten, musste er sich zunächst über das Ausmaß des Schadens informieren. Woraufhin er Zeit benötigte, um darüber nachzudenken, wie er dem Vater am schonendsten beibrachte, dass die Familie kein Sägewerk mehr besaß.
Aber jetzt war es jedenfalls so weit, den Stier (sprich: den Vater) bei den Hörnern zu packen. Zur Sicherheit hatte der Sohn zwei Fläschchen Medizin dabei, die er anlässlich der Vertragsunterzeichnung und Kaufpreisentrichtung per Sparkasseneinzahlung von Apotheker Otterdahl bekommen hatte.
Mauritz hatte ja bislang alles richtig gemacht, nun galt es nur noch, seinem Vater das zu verklickern. Er holte einmal tief Luft und betrat das Krankenzimmer.
»Da bist du ja, du verfluchtes Phantom!«, brüllte Gustav aus seinem Ohrensessel laut, worauf ihm der Schmerz heftiger denn je in den Rücken und das eine Bein schoss.
»Bitte beruhigt Euch, Vater«, sagte Mauritz Bielkegren, der sich zur Sicherheit in Türschwellennähe aufhielt. »Während Ihr hier gesessen und Euch geärgert habt, habe ich sämtliche Probleme des Sägewerks in Angriff genommen.«
Wollte er ihm jetzt etwa auch noch die Stirn bieten? Der Graf dachte – all seiner Schmerzen ungeachtet – gar nicht daran, sich zu beruhigen.
»Das Einzige, was du in deinem ganzen Leben in Angriff genommen hast, ist ja wohl die Schnapsflasche! Was hast du jetzt wieder angestellt, du Unglücksrabe?«
Wenn der Vater partout in so einer Stimmung sein wollte, käme Mauritz nicht weiter. Er beschloss, mit der Medizin anzufangen. In dem Zusammenhang konnte eine Notlüge nicht schaden.
Und so erklärte er, dass er seinen Vater liebe und sich große Sorgen um ihn mache, weshalb er medizinische Fachleute in Stockholm und sogar Kopenhagen konsultiert habe (wie ihm das wohl gelungen sein mochte, wurde vom Vater nicht hinterfragt).
»König Oskars Besuch rückt ja immer näher, und wir müssen versuchen, Euch bis dahin ganz wiederherzustellen, Vater. Die Fachleute sagen, dass positive Gedanken das beste Heilmittel sind. Diese können sich mithilfe von Opium einstellen, aber ich weiß ja, was Ihr davon haltet, Vater. Zudem bin ich ganz Eurer Meinung! Der Königsbesuch verlangt, dass der Gastgeber, will sagen Ihr, Vater, einen klaren Kopf behält.«
Gustav hörte sich an, was der Sohn da zu sagen hatte, auch wenn er fand, dass der weidlich lange brauchte, um zur Sache zu kommen.
»Hier!«, sagte Mauritz und überreichte ihm eins der Apotheker-Fläschchen.
Der Graf besah sich erst das Etikett und las dann auf der Rückseite:
Apotheker Otterdahls Zaubertropfen gegen finstere Gedanken
Enthalten Kräuter aus Hinterasien und anderen exotischen Kontinenten. Unter anderem Schwarzwurzel, Ingwer, Kümmel und anderes, das Sie nicht für möglich gehalten hätten. Unglaublich, aber wahr! Das Rezept wurde von Apotheker Otterdahl persönlich erprobt! Löffelmenge nach Belieben in beliebigen Abständen einnehmen, bis sämtliche finsteren Gedanken verflogen sind!
Mauritz wollte Gustav einen Löffel reichen, den dieser mit einer Hand wegwedelte. Er zog den Korken aus der Flasche und probierte. Erst ein kleines bisschen. Dann ein bisschen mehr.
»Stark«, sagte er.
»Das ist bestimmt der Ingwer, der sich im Gaumen durchsetzt«, sagte Mauritz. »Wenn nicht gar eins der Kräuter, die wir nicht für möglich gehalten hätten.«
Der Graf summte vor sich hin. Behielt die Flasche in der Hand und zeigte auf den Stuhl in der einen Zimmerecke:
»Steh hier nicht herum und halte Maulaffen feil! Setz dich und erklär mir, was dir in letzter Zeit alles misslungen ist!«
Mauritz setzte sich. Und spürte, wie ihn trotz allem eine gewisse Ruhe angesichts des Unausweichlichen überkam.
»Vater, Eure Probleme mit Mutters vielen Vollbütern sind nun Schnee von gestern«, begann er. »Was Euch in all den Jahren nicht gelungen ist, habe ich in wenigen Tagen vollbracht.«
Der Graf beäugte seinen Sohn misstrauisch.
»Und wie hat die Hexe das aufgenommen?«
»Ich möchte nicht, dass Ihr so über sie redet, Vater«, sagte Mauritz, der bezüglich dieser Person dasselbe Wort in Gedanken verwendet hatte.
»Antworte gefälligst auf meine Frage!«
»Wir sehen uns nicht so oft. Nun ja, eigentlich überhaupt nicht. Sie hält sich in ihrem Gemach auf, wo sie einzig und allein Umgang mit ihrem Schreibtisch pflegt, soweit ich weiß.«
Der Graf nickte. Briefeschreiben war offenbar das Einzige, wozu sie taugte. Zumindest hatte das bislang seine beruhigende Wirkung auf sie nie verfehlt. Bald würde ja der Königshof ganz Kronogården überfallen, da ging es nicht an, dass die Gastgeberin herummurrte und einen Flunsch zog.
»Gut!«, sagte er. »Und weiter?«
»Meiner kleinen Schwester habe ich auch den Marsch geblasen, damit sie Bescheid weiß: von nun an keine teuren Einkäufe mehr. Ich werde einen reichen Bauern oder Bürger finden, an den man sie verheiraten kann, damit wir uns hier nicht mehr von ihr mit Schuhen aus dem Fenster bewerfen lassen müssen.«
Das kam dem Grafen nicht ganz so gut vor. An und für sich war es natürlich ausgezeichnet, wenn der Verschwendungssucht der Kleinen ein Riegel vorgeschoben wurde. Aber Mauritz’ Ausdrucksweise schürte in Gustav den Verdacht, der Sohn hielte sich für den Herrn im Hause.
»Nicht du bist es, der sie verheiratet, wie es dir gefällt. Sondern ich .«
»Und was stellt Ihr Euch vor, wie das gehen soll, solange du nicht aus deinem Sessel hochkommst?«
»Das wird ja wohl nicht mein Leben lang so bleiben, mit meinem Rücken ist es schon besser geworden.«
Er nahm noch einen Schluck aus der wundersamen Medizinflasche.
Dass es seinem Rücken besser ging, waren schlechte Nachrichten für Mauritz, falls es denn stimmte. Da hatte er so seine Zweifel, der Alte stand ja noch nicht auf und ging umher. Die zwei Ellen zwischen Bett und Sessel zählten nicht.
Gleichwohl, es war nun mal, wie es war. Mauritz hatte ja recht.
»Ich habe die Zahlen gesehen, Vater. Mit dem Sägewerk haben wir tagtäglich, Woche für Woche, Monat für Monat Verlust eingefahren. Und Ihr habt ja über all die Jahre unseren gesamten Wald verkauft, Vater.«
Der Graf wurde wieder wütend. Offenbar hatte die Wundermedizin ihre Grenzen.
»Was wühlst du in meinen Akten herum, verdammt noch mal!?«
»Vielleicht ein Glück, dass ich das getan habe, damit wir alles wieder in Ordnung bringen können.«
Gustav Bielkegren wollte aufstehen und auf seinen Sohn losgehen, doch das war leider unmöglich. Außerdem nagte an ihm, dass … nun ja, mit Schwedens stolzestem Sägewerk war es ja nicht so gut gelaufen. Die hohen Kosten für das Flößen … und wenn das Eis nicht rechtzeitig taute, konnte es nur noch schlimmer kommen.
»Und der untauglichste Soldat des ganzen Königreichs weiß die Lösung sämtlicher Probleme?«
Hm, das hörte sich nun doch etwas defensiv an.
Endlich durfte Mauritz von der neuen Ausrichtung des Sägewerks berichten: der Spirituosenfabrik. Sie konnte in wenigen Wochen in Betrieb gehen – wenn das nichts war, was man dem König voller Stolz präsentieren konnte!
Nach den Verhandlungen in Aringsås war Mauritz endlich dazu gekommen, das Ganze gründlicher durchzurechnen. Mit dem Ergebnis: drei Millionen einhunderttausend Reichstaler Gewinn jährlich. Sogar noch etwas mehr, wenn die Produktion auch sonntags weiterlief.
»Schnaps brennen, während der Pfarrer auf der Kanzel steht, das wollen wir mal hübsch bleiben lassen«, murrte der Graf, der sich nicht entscheiden konnte, was am schlimmsten war: einen nichtsnutzigen Sohn zu haben oder einen, der sich besser auf alles verstand als er.
»Was hast du für die Maschine bezahlt?«
Damit war die Katastrophe unabwendbar.
Mauritz berichtete, er habe den Preis auf läppische einhundertfünfzigtausend Reichstaler für alles gedrückt – und glücklicherweise fünfzigtausend auf einem anderen Konto gefunden, sonst wäre ihnen das Geschäft durch die Lappen gegangen.
»Was in Dreiteufelsnamen?!«, tönte Gustav Bielkegren, dem es wieder nicht gelang, wutentbrannt aufzustehen. »Das Konto wurde doch wegen des Königsbesuchs eingerichtet! Ein ganzer Hofstaat zwei Tage lang auf Kronogården, denkst du etwa, das würde nichts kosten?«
O weh.
Gar nicht gut.
Mithilfe der Wundermedizin konnte der Graf dennoch einen klaren Gedanken fassen. Nach einem weiteren Schluck sagte er:
»Sorg dafür, dass wir das Schnittholz wie verrückt abverkaufen, bevor der König kommt; frier alle Löhne vorübergehend ein, bezahl keine Rechnungen. Alle Eingänge müssen für den Königsbesuch verwendet werden! Mach einfach Björk Feuer unterm Hintern. Er begreift normalerweise, wann nicht mehr zu spaßen ist.«
Mauritz nickte. Mit dem Gefühl, der Graf müsste nicht unabdingbar ausgerechnet jetzt erfahren, dass das Sägewerk in Trümmern lag.
Und dass Björk den Laufpass bekommen hatte.