Verschwundene Witwe!
Nach Umarmungen, Gelächter und Freudentränen gingen Antoinette und Gérard alsbald zum Ernst der Lage über. Der Bruder sagte noch, er könne keinen anderen Grund nennen, warum er plötzlich zur weiten Fahrt nach Schweden aufgebrochen sei, als dass er gespürt habe, die Schwester brauche ihn.
Antoinette sagte, sie habe ihren Gérard stets gebraucht, aber auch, dass ihn sein Gefühl nicht getrogen habe. Auf Kronogården sei ihr Dasein fürchterlicher denn je. Mauritz habe sich zu einer schlimmeren Kopie seines Vaters entwickelt, und solange Gustav mit angeknackstem Rücken in seinem Gemach lag oder saß, wollte der Sohn sich offenbar profilieren. Unter anderem, indem er Antoinette und Sophia ihre einzigen kleinen Freuden nahm.
»Bald ist September«, sagte die Gräfin. »Dann halten wieder Dunkelheit und Kälte Einzug. Ich weiß nicht, wie ich noch einen Winter überstehen soll.«
Schließlich kam noch hinzu, dass Sophia jetzt jederzeit verheiratet werden konnte! Noch dazu an irgendeinen x-Beliebigen, so wie es aussah.
»Bitte, lieber Onkel Gérard«, meldete sie sich zu Wort. »Können wir nicht mit zu dir nach Frankreich kommen?«
Antoinette antwortete für ihren Bruder. Tragischerweise gäbe das einen Skandal, von dem sich kein Mitglied der Familien Bielkegren und Lemot jemals erholen würde, denn nichts sprach sich in Europa schneller herum als Klatsch und Tratsch aus Hochadelskreisen! Sophia könnte zwar womöglich vor einem drohenden Schaf- oder Schweinezüchter gerettet werden, doch eine Gräfin , die durchbrennt und ihren Grafen verlässt?
Nicht auszudenken!
Gérard stimmte ihr nickend zu. Wenn einfache Leute wüssten, mit was für Sorgen sich Grafen, Barone und Marquise herumplagen mussten! Doch er gestattete sich, die Frage aufzuwerfen …
»Eine rechtmäßige Scheidung wäre natürlich etwas ganz anderes. Besonders, wenn dein Gatte der Schuldige wäre. Was sagt das Gesetz in diesem Lande dazu?«
Antoinette ging seit fünfundzwanzig Jahren jeden Sonntag in die schwedische Kirche, ohne zu verstehen, was der Pfarrer predigte. Aber von dem Klatsch auf der Kirchentreppe hatte sie durchaus das eine oder andere aufgeschnappt.
»Wenn einer der beiden Ehegatten trunksüchtig, gewalttätig oder verschwenderisch ist …«, sagte sie.
Gérard sah seine Zwillingsschwester fragend an. Zwischen ihnen waren Worte manchmal überflüssig.
»Gustav trinkt bedauerlicherweise fast gar nicht, und er würde es nie wagen, die Hand gegen mich zu erheben. Auch das ist bedauerlich , in einem größeren Zusammenhang betrachtet.«
»Und Verschwendungssucht?«, versuchte es der Bruder.
Das rang Antoinette ein klitzekleines Lächeln ab:
»… die könnte man noch am ehesten Sophia und mir anlasten.«
Gérard dachte an die Hunderttausende von Reichstalern, die er als Vermittler – wie etwa von Schuhen, Vollblutaraberpferden und Kisten mit Wein – im Lauf der Jahre am Grafen verdient hatte. Er musste seiner Schwester recht geben: Verschwendungssucht fiel als Scheidungsgrund weg.
»Sonst nichts?«
»Ehebruch mit einer unverheirateten oder einer verheirateten Person natürlich. Doch wenn er keine Gespielin unten in seinem Keller hält, wüsste ich nicht, wann derlei stattgefunden haben sollte.«
Schon wieder dieser Keller! Was machte der Graf dort unten?
Seit seiner Rückenverletzung nichts. Doch davor zweimal wöchentlich! Es konnte sich um irgendein dunkles Geheimnis handeln, wenn auch wohl kaum so dunkel, dass es Antoinette und Sophia in ihrer derzeitigen Lage helfen würde.
Die Frage blieb unbeantwortet.
Das Trio beschloss gemeinsam, es als glücklichen Umstand zu werten, dass Gustav und Mauritz noch nichts von Gérards Ankunft wussten. Solange auch nur ein Fünkchen Hoffnung auf eine Scheidungs- beziehungsweise Verschwendungssucht-Lösung bestand, sollte es dabei bleiben. Außerdem würde es bald ohnehin eng genug im Schloss werden, wenn das Königspaar nebst an die vierzig weiteren Personen untergebracht werden mussten.
»Was haltet ihr davon, wenn meine beiden Kutscher, Madame Bayard und ich ins nächste Hotel ziehen und wir uns von nun an täglich heimlich treffen?«
»Madame Bayard?«, fragte Antoinette verwundert.
Gab sich ihr Zwillingsbruder etwa mit Frauenzimmern ab?
»Pfui Teufel, nicht doch!«, rief Gérard.
Er erklärte, Madame Bayard sei eine Witwe mit Haaren auf den Zähnen und einer Nasenwarze. Mit der könne man sich unmöglich einlassen.
»Mit der Witwe oder der Warze?«, fragte Sophia.
»Mit beiden!«
»Warum dann …?«, setzte Antoinette an.
»Weil sie eine Zauberkünstlerin am Herd ist. Du hast einmal in einem deiner Briefe über Désirée erzählt, dass sie in Dänemark glücklich von einem Windmühlenbaron mit Brot und Bier lebt. Wir mussten ja mindestens zwei Tage durch dieses Land fahren, und mir war der Gedanke unerträglich, dass …«
Nach kurzer Unterbrechung fuhr Gérard fort:
»Du weißt, geliebte Schwester, Essen, das kein richtiges Essen ist, ist überhaupt kein Essen.«
***
Weder Antoinette noch Gérard oder Sophia machten sich darüber Gedanken, dass Schweden zu jener Zeit dreieinhalb Millionen Einwohner hatte, deren überwältigende Mehrheit morgens, mittags und abends mit Brot und Bier zufrieden gewesen wären anstatt mit dem, was sie wenig später erwartete, als die große Hungersnot zuschlug.
Es fing mit verfrühten Frostnächten im Norden an, bereits im Juli. Gefolgt von einer gnadenlosen Dürre im Süden des Landes. Sechzigtausend Schweden verhungerten, während gleichzeitig große Mengen Getreide nach England verschifft wurden, damit sämtliche Droschkenkutscher in London ihre Pferde füttern konnten.
Am treffendsten formulierte der Bankier André Oscar Wallenberg in Stockholm eine politische Lösung der sich anbahnenden Hungerkatastrophe. Er empfahl so wenig Medizin wie möglich im Vertrauen auf die Selbstheilungskräfte der Natur.
Was die Natur den Schweden in erster Linie anzubieten hatte, war, Brot aus Baumrinde zu backen. Das Rezept der Kirche wiederum sah so aus, sonntags auf vollen Kirchenbänken zu bestehen, damit man ein gemeinsames Gebet an den Herrn im Himmel richten konnte. Indessen verbreitete sich von Gemeinde zu Gemeinde das Gerücht, dass es auf der anderen Seite des Atlantiks ein Land mit unendlich weiten Böden, fruchtbarer Erde, keiner staatlichen Besteuerung bis dorthinaus – und vor allem mit keiner mächtigen Geistlichkeit gab, von der man sich Gottvertrauen predigen ließ, anstatt selber die Ärmel hochzukrempeln.
Und so kam es, dass Bauern und Pächter in Småland ihre letzte Kuh und rostige Pflugschar verkauften, um sich vom Geld ein Familien-Schiffsticket nach Amerika leisten zu können: auf einem Dampfer von Göteborg nach Southampton und weiter bis Ellis Island. Von dort zogen sie zu Fuß bis nach Minnesota, steckten sich ein anständiges Stück Land ab, kamen auf die Beine – und schrieben nach Hause!
Die Zeugnisse der ersten Auswanderer hatten zur Folge, dass die schwedische Bevölkerung in wenigen Jahren um ein Viertel schrumpfte. Als über eine Million Schweden ihr Heimatland verlassen hatten, bekam Bankdirektor Wallenberg in Stockholm ein Problem. Er, der so überzeugend Zutrauen zu den Heilkräften der Natur gepredigt hatte, musste seine Bank mithilfe eines staatlichen Notdarlehens retten.
***
Am Straßenrand gab es immer mal wieder Dorfkrüge, aber Gérard war schließlich Marquis und hatte an seine Reputation zu denken. Blieb das relativ neu eröffnete Stadthotel in Växjö – der kleinen Stadt mit dem unaussprechlichen Namen.
Zwar verließ der Graf seinen Sessel ja nun nicht mehr, aber es wäre doch misslich, wenn Mauritz zu Hause einträfe, bevor der Sechsspänner vom Hof gefahren war. Also bekamen sie es plötzlich mit der Eile zu tun, denn schließlich sollte Gérards Besuch weiter geheim gehalten werden.
Umso ärgerlicher, dass Madame Bayard verschwunden war, als die Zwillinge und Sophia den Sechsspänner erreichten. Die beiden Kutscher zuckten mit den Schultern. Die Witwe war kurz nach dem Fortgang des Marquis mit ihrem Korb am Arm ins Schloss marschiert. Ohne Wiederkehr.
»Diese alte Hexe!«, sagte Gérard.
Sie mussten eine ganze Weile suchen, bis sie sie in der Schlossküche fanden, angeregt ins Gespräch mit Köchin Karolina vertieft, obgleich keine von beiden verstand, was die andere sagte. Die Frau mit der Warze auf der Nase hatte eigenhändig einen großen Korb mit Lebensmitteln hereingetragen und führte Karolina eine schwarze Flüssigkeit aus China nebst Senf aus Dijon vor, den sie nach eigenem Rezept verfeinert hatte: Essig, ersetzt durch den Saft unreifer Trauben aus den Weinbergen des Marquis.
»Was geht hier vor?«, fragte Antoinette auf Französisch.
Sophia übersetzte das pflichtschuldigst der Köchin Karolina, die antwortete, dass ihre Rinderrouladen all die Jahre gut geschmeckt hätten, so lange, bis Madame Soundso mit ihren Ingredienzien und Finessen aufgekreuzt sei.
»Plötzlich ist das gräfliche Mahl nicht mehr nur wohlschmeckend – sondern kommt direkt aus dem Himmelreich!«
Als die Worte in verschiedene Richtungen übersetzt worden waren, sagte Gérard, es freue ihn ja, dass Madame Bayards Kochkünste Kronogården bereicherten, doch nun sei es an der Zeit, von hier aufzubrechen.
»Ich fahre nirgends hin«, sagte Madame Bayard. »Ihr müsst schon entschuldigen, Herr Marquis, aber über längere Zeit seid Ihr schwer zu ertragen. Außerdem ist – falls ich die Worte meiner neuen Freundin richtig gedeutet habe – das schwedische Königspaar hierher unterwegs!«
Köchin Karolina ahnte eher, was das Französisch bedeutete, als dass sie es verstand, nahm aber an, dass es jetzt an der Zeit war, Klartext zu reden:
»Madame Soundso – deren Namen ich bald gelernt haben werde – wurde soeben von mir als neue assistierende Küchenchefin auf Kronogården eingestellt.«
»Habt Ihr dazu überhaupt die Befugnis, Fräulein Karolina?«, sagte die Gräfin verblüfft.
Sophia übersetzte sowohl dies als auch Karolinas Antwort:
»Dem König und der Königin wird nur das Beste vom Besten vorgesetzt! Jetzt machen wir es so, wie ich es gesagt habe.«
***
Die Witwe mit der Warze blieb also auf Kronogården, während der Sechsspänner losraste, ohne von dem Falschen entdeckt worden zu sein.
Der Marquis war mehr als zufrieden, wie sich die Dinge entwickelten, als er allein in seinem Wagenkasten saß und sich weder über die Warze noch deren Besitzerin mehr ärgern musste. Auf Sophias Vorschlag hin würde das Trio tags drauf gegen zwei Uhr nachmittags im Hain hinter dem ehemaligen Schlachthaus von Bauer Olsson wieder zusammenkommen. Das war weit genug vom Schloss entfernt und vollkommen geschützt vor Blicken, falls jemand im Innenhof umherging.
Gérard trieb seine beiden Kutscher zur Eile an, weil er ins Hotel wollte, wo er sich den Reisestaub abwaschen und ausspannen konnte, in Anbetracht dessen, was noch alles auf ihn zukam.
Vielleicht war es etwas zu viel der Eile, denn nach nicht einmal einem Fünftel der Strecke löste sich das linke Rad vom Wagen, der daraufhin in den Straßengraben abrutschte und schließlich in ein Möhrenbeet kippte.