Excusez-moi
Daheim bei Familie Otterdahl & Zimmermann ging alles seinen gewohnten Gang.
Der nur sporadisch nüchterne Frank Miles ging dermaßen in seiner Arbeit auf, dass er (trotz täglicher Mittagsruhe) bereits um vier Uhr nachmittags Feierabend machte. Wodurch Algot, Anna Stina, Maja und Helmut beim Abendessen unter sich blieben und alles Anliegende besprechen konnten, ohne vom Engländer mit belanglosen Abschweifungen unterbrochen zu werden.
An diesem Abend hatte Anna Stina vor, sich nicht lumpen zu lassen und Rinderfilet in Rotweinsoße zu servieren. Zum einen, weil es saumäßig lecker schmeckte, zum anderen, weil sie es sich leisten konnten.
Während des Wartens aufs Essen herrschte gute Stimmung am Tisch, freilich nur, bis es – zum wie vielten Mal in letzter Zeit? – an der Tür klopfte.
»Noch einmal, und ich vernagle sie«, murrte Helmut und ging aufmachen.
»Excusez-moi «, sagte ein elegant gekleideter, aber leicht schlammverkrusteter Herr mit Anzug und Hut.
»Nimmt das denn nie ein Ende«, sagte Helmut auf Schwedisch, ehe er resigniert in das Französisch wechselte, das er seit so vielen Jahren nicht mehr hatte anwenden müssen.
»Willkommen und hereinspaziert, wer Ihr auch sein mögt. Können wir Euch mit ein wenig Rinderfilet in Versuchung führen?«
***
Der fremde Besuch war schon allein deswegen aufregend, weil der elegant gekleidete Herr Französisch sprach. Noch viel mehr, als er sich als Marquis Gérard Lemot von der Loire vorstellte. Und am allermeisten, als allen in der Küche aufging, dass es sich beim Marquis um den Bruder der Gräfin Bielkegren auf Schloss und Gut Kronogården handelte.
»Seid Ihr gekommen, um mehr Geld zu leihen?«, sagte Helmut, der Einzige, der außer dem Besucher annehmbar Französisch sprach.
Der Marquis, der die Frage nicht verstand, berichtete, sein Sechsspänner sei unseligerweise im Garten der Familie gelandet.
»Meine beiden Kutscher konnten immerhin die Pferde vor einem Sturz bewahren und arbeiten jetzt daran, den Wagen wieder auf den Fahrweg zu bringen. Ich bin hier, um Euch eine Entschädigung für den verursachten Schaden anzubieten.«
»Was sagt er?«, erkundigte sich Maja.
»Ja, was eigentlich?«, brachte sich Algot ein.
Anna Stina hatte im Lauf der Jahre so einiges über all die Sünden ihres Vaters in seinen wild bewegten Jahren in Frankreich mitbekommen und verstand ansatzweise, worum es ging.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, glaube aber, dass er sich in unser Möhrenbeet verlaufen und wieder herausgefunden hat. Wie so ziemlich alle anderen.«
Bevor Helmut das bestätigen konnte, fragte der Marquis, ob es den Herrschaften lieber sei, wenn er stattdessen Deutsch spreche.
Für Maja machte es keinen Unterschied, für Algot wurde es dadurch etwas leichter, während Helmut und Anna Stina diesen Vorschlag dankend annahmen.
Das Verständnis zwischen den Schweden, der Halbschwedin, dem Deutschen und dem Franzosen nahm mit wechselseitigem Konsum von Gérard Lemots exquisitem Bourgogne, Jahrgang 1842, stetig zu. Mit dem Sprachenwirrwarr war es bald ganz vorbei, als der Marquis eine der letzten Flaschen Wasserburg Wodka verkosten durfte.
»Habe ich’s doch gewusst, dass es selbst in diesem Land Talente gibt!«
Der unfreiwillige Besucher war also der Bruder der Gräfin, was ja nun an sich nicht unbedingt für ihn sprach. Das Problem dabei war, dass er einen durchaus sympathischen Eindruck machte. Oder ob das am Wein lag? Oder an einer glücklichen Mischung aus beidem.
Irgendwann erkundigte sich der Marquis vorsichtig, in welchem Verhältnis die Gruppe zu Graf Bielkegren, dem Gatten seiner Schwester, stünde.
Anna Stina hielt sich etwas abseits und legte letzte Hand an die Abendmahlzeit. Ein weiterer Teller war bereits gedeckt:
»Das möchten wir lieber nicht sagen, weil die Gefahr besteht, dass es uns den Appetit verdirbt.«
Helmut verzog das Gesicht ob des losen Mundwerks seiner Tochter, aber nicht lange. Denn der Marquis entschuldigte sich sogleich dafür, den Namen des Grafen so kurz vor dem Abendessen in den Mund genommen zu haben; die Soße werde doch hoffentlich nicht deswegen verklumpen?
Damit heizte sich die bereits recht zwanglose Stimmung in der Küche weiter auf. Als das Essen aufgetragen wurde, hatten sie die mitgebrachte Weinflasche des Marquis geleert.
»Ich komme gleich wieder«, sagte er und nahm den Küchenausgang zum Zimmermann’schen Möhrenbeet. Dort stellte er zufrieden fest, dass die Kutscher bereits Pferde und Wagen wieder auf den Weg bugsiert hatten. Er machte sich an der Klappe mit den Vorräten zu schaffen und holte drei neue Flaschen heraus. Eine davon, eine einfachere Lese von 1851, reichte er den Kutschern mit der Bitte, sich die zu teilen.
Die anderen zwei waren Kleinode.
»Ich bleibe nicht lange«, sagte er zu den hocherfreuten Männern. »Oder vielleicht doch.«
»Tut Euch keinen Zwang an«, erwiderte einer der beiden. »Wir haben ja jetzt eine ganze Weile gut zu tun.«
Der Marquis erntete viel Lob für seinen Wein. Er erklärte, dass sie jetzt einen Bordeaux Jahrgang 1834 trinken würden, von dem er einmal drei Flaschen ergattert habe. Die erste habe vor langer Zeit dran glauben müssen, worauf er beschlossen habe, die zwei restlichen für einen besonderen Anlass aufzuheben.
»Einen wie diesen!«, sagte er und erhob das Glas. »Meinen innigsten Dank für Eure Gastfreundschaft, ganz besonders für das ausgezeichnete Essen, auch wenn das Rinderfilet vielleicht ein Ideechen zu durchgebraten war und der Thymian fehlte.«
Bei Anna Stina hatte es beinahe den Anschein, als wollte sie über die letzte Bemerkung schmollen, doch Helmut erklärte ihr auf Schwedisch, dass der Marquis Franzose sei und als solcher nicht anders könne. Und dann, an den Gast gewandt:
»Wenn Ihr morgen hier vorbeikommt, Herr Marquis, könnt Ihr meinen Schweinebauch mit Zwiebelsoße probieren.«
»Oder meine … was heißt Erbsensuppe auf Französisch?«, sagte Algot. »Oder auf Deutsch?«
»Oder ihr beiden haltet einfach mal den Rand«, sagte Anna Stina.
Nach knapp einer Stunde in deutsch-schwedischer Gesellschaft wusste Gérard Lemot, dass der Graf vor gut einem Jahr erst Algots Vater ins Armenhaus und einem verfrühen Tod in die Arme getrieben und dann auch noch Algot von seinen Ländereien verjagt hatte.
»Ein Mann in unserer direkten Nachbarschaft würde ihn wohl einen Trottel nennen«, sagte Anna Stina.
Der Marquis war pikiert von der Ausdrucksweise der jungen Frau. Doch sie fuhr fort:
»Selbiges dürfte für seinen Sohn gelten.«
Helmut hatte den Eindruck, dass er seiner Tochter besser die Gesprächsführung abnahm, bevor sie sich zu weit aus dem Fenter lehnte.
»Leutnant Mauritz kam heute auch schon hier vorbei und hat sich von uns ein kurzfristiges Darlehen über fünfzigtausend Reichstaler geben lassen. Wenn wir es recht verstanden haben, beabsichtigt er, das Geld an die Königsfamilie zu verschwenden, die anscheinend auf dem Weg hierher ist.«
Das zuletzt Gesagte erklärte die erste Bemerkung des Druckermeisters, als Gérard noch in der Tür stand. Doch vor allem war es hochinteressant!
»Ach, stehen die Finanzen dort drüben also auf wackligen Beinen? Sechsundzwanzigtausend Hektar Feld und Wald sind ja kein Pappenstiel.«
»Sechsundzwanzigtausendundeiner «, berichtigte ihn Algot.
Manches konnte man nun mal nicht vergessen.
»Außerdem …«, sagte Helmut, »…wollte er sich von uns die elf arabischen Vollblüter leihen, die ins Geschäft eingeflossen sind, das wir soeben mit den Bielkegrens abgeschlossen hatten. Nur für einen Tag. Wozu, blieb unklar, doch steht zu vermuten, dass auch dies mit dem Pekuniären zusammenhing.«
Marquis Lemot reagierte wieder entsetzt. Die Vollblüter waren schließlich durch seine Hände gegangen, was in nicht geringem Ausmaß zum Überleben seines Weinguts beigetragen hatte – und jetzt waren sie hier gelandet?
»Teufel auch, nein«, sagte Helmut. »Was sollen wir mit arabischen Vollblutpferden? Wir haben sie stante pede weiterverkauft!«
»Wohin, wenn ich fragen darf?«
Jetzt schaltete sich Anna Stina wieder ins Gespräch ein. Denn sie hatte dem Leutnant erzählt, die Araber wären in Sundvall.
»Um auf Eure Frage zu antworten: Wünscht Ihr die Wahrheit oder die alternative ebensolche zu hören?«
Gérard Lemot lächelte. Wer, wenn nicht er, wusste, dass sich die Wahrheit häufig störend bemerkbar machen kann. Hingerissen von der guten Stimmung sowie der Qualität des Getränks, das in seinem Glase funkelte, eröffnete er den neuen Freunden ganz offenherzig:
»Ich habe mein gesamtes Leben in einer alternativen Realität verbracht. Ich fühle mich nämlich hoffnungslos zu Männern hingezogen, so ist das nun mal, seit ich denken kann. So, jetzt ist es heraus, dafür darf ich aber wohl verlangen, dass Ihr mich ebenso aufrichtig aufklärt.«
Algot sagte, der Marquis täte gut daran, sich just diesbezüglich weiterhin an die alternative Wahrheit zu halten, zumindest solange er in Schweden weilte. Ansonsten erwarte ihn im ärgsten Falle die Todesstrafe.
Und dann erzählte er von dem Gestüt südlich von Växjö, das die Tiere mit Freuden zu dreitausend Reichstaler das Stück übernommen habe.
»Dreitausend?«, sagte Gérard Lemot. »Der Graf hat zehntausend per Kopf berappt, zuzüglich Transportkosten.«
Helmut stellte fest, dass Anna Stina die offenen Worte des Marquis über seine Veranlagung mit Gelassenheit aufnahm. Das wunderte ihn nicht. Wenn offenbar alles andere in ihrer Welt anging, warum dann nicht auch das?
Verfluchter Almqvist , dachte er. Der schwachsinnige Pfarrer schien allen den Kopf zu verdrehen, ihn selbst, Helmut, eingeschlossen. Zeit zum Themenwechsel:
»Was all die verschiedenen Wahrheiten angeht, die mit dem erlesenen Wein des Herrn Marquis um die Wette fließen, was für Pläne hegt Ihr für Euch und Eure Schwester? Habt Ihr etwa ein Hotel in Växjö aufgesucht, weil … Ihr auf Kronogården unerwünscht seid?«
Gérard Lemot nahm kein Blatt vor den Mund: Seine Schwester fehle ihm furchtbar und schon viel zu lange. Jetzt wäre ihm nichts lieber, als dass sie mit ihm und ihrer Tochter Sophia nach Frankreich zurückkehre – ohne besagten Grafen, der nichts von Lemots Anwesenheit hier in diesen Gefilden wisse.
»Das gäbe einen Skandal, von dem sich die ganze Gegend nie im Leben erholen würde«, sagte Anna Stina nicht ohne eine gewisse Begeisterung in der Stimme.
»Und zwar hier wie da, leider«, sagte der Marquis.
Helmut bat darum, ihm Wein nachzuschenken, denn jetzt hatte er eine Idee, die nur etwas Unterfütterung brauchte, um ausformuliert zu werden.
Dieser Wunsch wurde dem Druckermeister erfüllt. Er kostete vom Wein und schloss die Augen, während er noch ein wenig weiterkostete. Und dann war es so weit:
»So wie ich es sehe, handelt es sich um ein zweigeteiltes Problem: zum einen der Ruf des Grafen hier, zum anderen der Ruf der Gräfin und damit des Herrn Marquis dort – vorausgesetzt, Ihr macht Euch in ungeordneten Verhältnissen und hinter dem Rücken des Grafen von dannen.«
Der Marquis nickte.
»Und welche Wahrheit entsteigt nun dem soeben von mir nachgeschenkten Wein?«
Nun, vielleicht diese:
Der Marquis habe ja gehört, dass Helmut Druckermeister sei. Als solcher könne er einfachen Pächtern oder wem auch immer, der über Grenzen müsse, Reisepässe drucken. Die Neigung des Herrn Marquis zum männlichen Geschlecht werde aller Wahrscheinlichkeit nach die beklagenswerte Kehrseite der Medaille zur Folge haben, dass es nie einen kleinen Marquis oder gar eine kleine Marquise nach ihm gebe.
So weit konnte Gérard Lemot ihm folgen. Und er war aufs Äußerste gespannt, was noch kommen würde.
»Aber nehmt gerne zuvor noch einen Schluck.«
Das ließ sich Hemut nicht zweimal sagen, ehe er fortfuhr:
»Mit einem entsprechend ausgestellten Reisepass könnten die Gräfin und ihre Tochter Sophia doch wohl mit Euch in Eurem schönen Loiretal als Eure Gattin und Tochter eintreffen? Die Schwester, die seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr vor Ort war, wird gewiss niemand wiedererkennen? Dann hätte das Weingut auf einen Schlag sowohl einen Marquis als auch eine Marquise samt Nachfolgerin. Und falls dem Marquis – Ihr entschuldigt schon – etwa gerade sein Gärtner ins Auge stechen sollte, wäre das ja nur eine Frage der Diskretion. Eure frischgebackene Gattin wird sich da mit Sicherheit heraushalten.«
»Weniger der Gärtner als mein Verwalter«, sagte Gérard Lemot bekümmert. »Doch die Tür zu diesem Paradies ist mir leider verschlossen.«
Ansonsten war er dankbar für die Idee, auch wenn sie noch etwas verfeinert werden musste. So frischgebacken konnte seine Gattin angesichts einer bald achtzehnjährigen Tochter ja wohl kaum sein.
Doch im Großen und Ganzen konnte das Problem dort damit aus der Welt geschaffen sein. Fragte sich nur noch, wie mit demjenigen hier zu verfahren war.
»So weit bin ich gedanklich noch nicht gekommen«, sagte Helmut. »Und mehr Wein hilft da auch nicht weiter, sonst lege ich hier noch einen Frank Miles hin.«
»Einen was?«, fragte der Marquis.
»Lange Geschichte«, sagte Anna Stina. »Aber ich glaube, Vater meint, dass er allmählich müde wird.«
***
Eine Entschädigung für das ramponierte Möhrenbeet kam nicht infrage.
»Da ist gar nicht dran zu denken, Herr Marquis«, sagte Anna Stina. »Das war schon vorher nicht nur ramponiert, sondern auch alkoholisiert.«
Mit Helmut, Algot und Maja war sie ihm nach draußen gefolgt, um sich am Sechsspänner von ihm zu verabschieden. Helmut ergriff die Hand des Franzosen und sagte, der Marquis sei ihnen jederzeit willkommen. Und das mit dem Reisepass sei für ihn ein Kinderspiel.
Maja hatte während der langen Unterhaltung mit dem Adligen schweigend dagesessen. Zum einen, weil sie diejenige war, die am allerwenigsten verstand von dem, was da am Tisch hin und her geredet wurde. Zum anderen, weil sie ahnte, dass sie auf der Lösung für die übrigen Probleme des Marquis und der Gräfin sitzen könnte. Es gab da nur noch etwas, das sie zuvor mit sich ausmachen musste.
***
Der Sechsspänner war noch nicht ganz in der einsetzenden Abenddämmerung verschwunden, als die Tür zur nahe gelegenen Kate aufging. Ein gerade aufgewachter Frank Miles stand plötzlich auf der Schwelle und wunderte sich, was los war.
»Wie gut, dass Ihr erst jetzt aufgewacht seid, Herr Miles«, sagte Anna Stina.
»Ach was?«, sagte der frisch Erwachte.
Woraufhin die Tochter des Druckermeisters deutlicher wurde:
»Außerordentlich gut!«
***
Kaum saßen sie wieder in der Küche, klopfte es – als ob es damit nicht reichen würde – schon wieder an der Tür.
»Ich bin dran!«, erbot Algot sich rasch, damit der Duckermeister seine vorherige Drohung nicht wahr machte, die Tür zuzunageln.
Es war einer der Hausknechte von Kronogården. Er zog artig die Schirmmütze und sagte, er komme in gräflichem Auftrag.
»Um was geht’s?«, fragte Algot besorgt.
»Er würde gern ein paar Flaschen mit Apotheker Otterdahls Wundermedizin gegen finstere Gedanken kaufen. Lässt sich das machen?«
»Na, und ob!«
Algot bekam deutlich bessere Laune. Bis es ihm dämmerte:
»Auf Kredit?«
»Ja, genau«, sagte der Hausknecht.