Seine Majestät der König
1799 – 1853
Ab und an stellte Oskar sich schon die Frage, wie es eigentlich zu alldem gekommen war. Geboren wurde er in Paris, nur wenige Monate vor der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert. Damals hatte er auf den Namen Joseph gehört und einige glückliche frühe Jahre als Sohn des Fürsten von Pontecorvo verlebt.
Danach war alles rasend schnell gegangen. Oben im Norden hatten sich die Schweden weit über das Normalmaß hinaus Ärger eingehandelt. Alles fing damit an, dass jemand den König erschossen hatte, der Gustav III . hieß. Und dass der Nachfolger des Ermordeten den mächtigen Herren in Regierung und Reichstag auch bald nicht mehr genehm war. Gustav IV . Adolf bewies nämlich fehlendes Urteilsvermögen, indem er sich mit Napoleon Bonaparte anlegte.
Napoleon Bonaparte! Mit. Dem. Legte. Man. Sich. Nicht. An.
Zum einen, weil er nun mal der war, der er war, aber vor allem, weil Frankreich und die Franzosen (samt der einen oder anderen Französin) das Höherstehende, Verfeinerte und Erstrebenswerte repräsentierten.
Aber Gustav besaß die Frechheit, sich mit den Engländern zu verbünden, entgegen des ausdrücklichen kaiserlichen Befehls. Irgendwann hatte Napoleon die Nase voll von diesem eigensinnigen König. Folglich erlaubte er dem russischen Zaren, dem dreisten Schweden ganz Finnland wegzunehmen, damit der auf andere Gedanken kam, als dem Kaiser und ganz Europa die Stirn zu bieten.
Die mächtigen Männer hatten ja vorher schon von Gustav genug gehabt. Sie beschwerten sich, dass er nicht auf sie hörte, erreichten mit dieser Botschaft nur leider nie den Adressaten, da der ja nun mal nicht auf sie hörte.
Dass Schweden nun durch den Verlust von Finnland um ein Drittel geschrumpft war, brachte das Fass zum Überlaufen. Gustav wurde arretiert, abgesetzt und des Landes verwiesen, mit dem Bescheid, dass er, sein Kronprinz und seine ganze übrige Familie der schwedischen Krone auf allezeit verlustig gingen .
Aber jetzt wurde es frickelig. Der Bruder des ermordeten Gustav III . hätte zwar zum König gekrönt werden können, hatte ja aber keine Söhne! (Doch, schon, aber die waren nun mal unehelich über das ganze Land verstreut und zählten nicht.) Jedes anständige Königreich brauchte nicht nur einen König, sondern auch einen Kronprinzen in Warteschleife. Man musste ja an die Erbfolge denken.
So kam eins zum anderen, bis die frankophilen hohen Herrschaften in Stockholm schließlich Josephs (will sagen: Oskars) Vater aus Paris importieren ließen – natürlich mit Billigung des Kaisers! Sie sorgten dafür, dass der frisch gekrönte König den Franzosen adoptierte, der auf einen Schlag Erbe des schwedischen Throns und mit der Zeit König wurde. Plötzlich war der junge Joseph – der sich mittlerweile an seinen neuen Namen Oskar gewöhnt hatte – Kronprinz von Schweden. Die Namensänderung war vonnöten, weil der neue König, so sehr die Schweden die vornehmen Franzosen auch liebten, um keinen Preis einen französischen Namen haben durfte. Das Gleiche hatte übrigens für Oskars Vater gegolten: Aus Jean Baptiste war Karl Johan geworden. In der Reihenfolge offenbar der vierzehnte, anders als Oskar, der nach dem Ableben seines Vaters der Erste seines Namens wurde.
Oskar nahm bereits als Kronprinz seinen Auftrag sehr ernst. Vor allem, indem er flugs Schwedisch lernte, damit er für seinen königlichen Vater dolmetschen konnte. (Karl Johan unternahm in seinen ersten Jahren im Land zwar einige Versuche, gab aber alsbald wieder auf. Zum einen, weil ja alle, mit denen sich zu konversieren lohnte, Französisch sprachen, zum anderen, weil er sich partout nicht an die Buchstaben Å, Ä und Ö gewöhnen konnte.)
Der Vater war wesentlich konservativer als sein Sohn. Oskar hatte schon früh eigene Vorstellungen und passte die Zeiten ab, in denen sich sein Vater in den Vasallenstaat Norwegen verfügte und gerne ein halbes Jahr oder länger fortblieb. Der hochgebildete Kronprinz legte den Finger auf ein Problem in dem Land, das eines Tages sein Königreich werden sollte: nämlich dass die Bevölkerung im Allgemeinen weder lesen und schreiben noch überhaupt selbstständig denken konnte. Zwar gab es etwa tausend Schulen im ganzen Land, doch sie deckten nicht einmal die Hälfte aller Gemeinden ab. Zudem bestand Volksbildung in vielen Fällen einzig und allein darin, den Katechismus auswendig zu lernen. Auf dem Stundenplan standen weder Mathematik noch Geschichte oder gar Erdkunde.
Während der Abwesenheit seines Vaters war der Kronprinz stellvertretender Regierungspräsident. Als solcher heizte er sämtlichen Domkapiteln des Landes tüchtig ein: die Schulpflicht sollte in Volksschulen, die ihren Namen verdienten, eingeführt werden! Doch unter welchen Prämissen? Wie nahm man all die vielen Armenhäusler mit? (Von denen es außerdem immer mehr gab.) Und sollte die Pflicht auch für Mädchen gelten?
Der Stein war ins Rollen gekommen. Nachdem Oskar dann tatsächlich den Thron bestiegen hatte, konnte er die Früchte seiner Bemühungen ernten. Seither lernten alle Kinder in Schweden nicht nur, dass Gott Himmel und Erde erschaffen hatte – sondern auch, dass zwei und zwei vier war.
***
Jetzt saß König Oskar in seinem Schloss in der schwedischen Hauptstadt und beantwortete Fragen aller möglichen Mitglieder seines Hofstaats, vom Reichsmarschall über den Hofmarschall, die Hofrevisoren, Hofkanzlisten, Hofsekretäre und so weiter – bis hinab zum zweiten Chef der Küchengerätekammer. Man befand sich nämlich mitten in den Vorbereitungen für eine lange Reise an den Hof des dänischen Königs Fredrik in Kopenhagen.
Schnapsnase Fredrik, wie Oskar sagte, wenn ihn keiner hörte.
Vielleicht war der Spitzname ein wenig übertrieben, doch die paar Male, die die beiden sich bislang begegnet waren, hatte Oskar ihn noch nie nüchtern erlebt. Oder auch nur halbwegs nüchtern.
Andererseits war der Däne erfrischend freimütig, kein Kind von Traurigkeit und hatte sympathische Ideen hinsichtlich Verbrüderung zwischen dem dänischen und dem schwedischen Volk. Gerne auch mit dem norwegischen, und warum nicht gleich auch dem finnischen. Nur dass dort leider eine Mehrheit darauf bestand, Finnisch zu sprechen, eine Sprache, die niemand außer ihnen verstehen konnte.
Zurück zum Dänisch-Schwedischen. Diese beiden Länder trennte ja nur eine schmale Meerenge, die Dänen und die Schweden stimmten in vielen Dingen überein, und wenn man ganz konzentriert hinhörte, verstand der Schwede, was der Däne sagte, und umgekehrt. Wenn es knifflig wurde, konnte man immer noch ins Französische ausweichen.
Historisch betrachtet hatten die beiden Länder so einiges gemeinsam. Bereits zur Wikingerzeit wurde zur Wahrung des Friedens in dänischen und schwedischen Sippen untereinander geheiratet. Und seine Götter teilte man sich brüderlich.
Oskar meinte zu wissen, was der gewiefte Fredrik bei ihrem Treffen für ihn auf der Agenda hatte. Der wollte nämlich erreichen, dass die Deutschen endgültig die Finger vom Herzogtum Schleswig ließen. Das zusammen mit Holstein dem dänischen König unterstand, wobei vor allem Schleswig in etwa so dänisch war, wie es dänischer kaum ging. Fredrik fand, alle, die sich dort aufhielten, obwohl sie Deutsch sprachen, könnten ruhig auf Nimmerwiedersehen auf die andere Seite der Eider verschwinden.
Mit all dem eilte es gewissermaßen etwas, denn die zersplitterten deutschen Kleinstaaten waren derzeit im Begriff, sich zusammenzuraufen. In ganz Europa ging der Trend übrigens gerade ein wenig in diese Richtung: Die Venezianer und Sizilianer verstanden einander ja so wie die Dänen und die Schweden. Von den Bayern und Preußen ganz zu schweigen.
Napoleon hatte die Idee gehabt, das Volk über den Willen des Volks hinweg zu regieren. Jetzt wehte der Wind von woanders her. Wer das Gleiche aß und trank, über Ähnliches lachte und weinte und, vor allem, wer miteinander in ein und derselben Sprache redete – der sollte ja wohl miteinander eine Nation bilden!
Das Problem des dänischen Königs war: Man konnte die These der Preußen nicht ganz von der Hand weisen, dass Schleswig nämlich ebenso deutsch wie dänisch war. Folglich gab es womöglich Unruhen, wenn Fredrik das Herzogtum von einem Tag auf den anderen Dänemark einverleibte. Das war nämlich schon früher versucht worden, mit eher mäßigem Erfolg.
Nach Oscars Auffassung kam sein Reich hier ins Spiel: Die schwedischen Brüder sollten Dänemark mit ihren Musketen zu Hilfe eilen und die Preußen bei Bedarf Mores lehren.
Doch der französische Oskar kannte seine schwedische Geschichte. All die vielen Kriege hintereinander hatten die Schweden nicht nur arm, sondern zur ärmsten Nation Europas gemacht. Oder jedenfalls zur zweitärmsten. Solange die Untertanen des Königs im Straßengraben verhungerten, im Armenhaus oder wegen Herumtreiberei hinter Gitter landeten, schlief er nachts ja nicht unbedingt besser, nur weil die Zustände anderswo womöglich noch schlimmer waren. Etwa in Irland. Dort war es auch kein Zuckerschlecken.
Kurzum: Die Schnapsnase Fredrik mochte noch so nett und die Idee einer Verbrüderung noch so sympathisch sein – Oskar verlockte es nicht, sich in einen Krieg mit Preußen hineinziehen zu lassen. Auch wenn man sich natürlich allzeit bereitwillig anhören konnte, was der Däne zu sagen hatte.
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Bevor es gen Süden ging, setzte sich Majestät weiter für Verbesserungen in seinem Königreich ein. Es war ihm bereits gelungen, das schwedische Gefängniswesen zu reformieren und das Zunftwesen mit seinen Restriktionen abzuschaffen. Zudem tüftelte er an breiter Front Möglichkeiten für neue Steuereinnahmen aus und unterstützte vorbehaltlos den Bau von Eisenbahnstrecken im ganzen Land.
Letzteres erinnerte Oskar daran, wie lang und strapaziös sich die Reise von Stockholm nach Kopenhagen gestaltete, solange die Eisenbahn noch nicht fuhr. Unterwegs mussten sie dreimal übernachten, was jeweils entsprechende Repräsentationspflichten mit sich brachte. Und der letzte Aufenthalt, ehe sie in Kopenhagen anlangten, auf Schloss und Landgut Kronogården, sollte zudem zwei volle Tage und Nächte dauern. Graf Bielkegren hatte seinem Wunsch Ausdruck verliehen, das vorzuzeigen, was er das modernste Sägewerk Schwedens nannte, und dem hatte Oskar gerne stattgegeben. Männer wie Bielkegren ließen im König die Hoffnung aufkeimen, dass Schweden eines Tages wieder zu einer prosperierenden Nation auferstehen würde.