Rundgang
Da Majestät vor der Tafel ein weiteres Fläschchen von den Wundertropfen gegen finstere Gedanken serviert bekam und Madame Bayards gebratenes Rebhuhn genau nach seinem Geschmack war, besserte sich seine Laune flugs wieder. Freilich war das mit dem Apotheker, der sich als Schweinezüchter entpuppt hatte, oder wie auch immer sich das nun verhielt, sonderbar. Noch dazu das Ehepaar, das gar nicht verheiratet war, und das mit dem … hatte sie Freudenmädchen gesagt? Wer lädt Personen dieses Schlags zu einem Galasouper ein? Noch dazu, wenn man zuvor selbst bei ihr verkehrt hatte!
Oskar kam zu dem Schluss, dass er sich nie im Leben an die Schweden gewöhnen würde, und wenn er selbst noch so viele schwedische Anteile in sich vereinte.
Dennoch wurde es ein einigermaßen angenehmer Abend, und das Bett, in dem Ihre königlichen Majestäten der Ruhe pflegten, besaß genau den richtigen Matratzen-Härtegrad. Hinzu kam, dass das Frühstück, welches sie soeben genossen, demjenigen im Königsschloss in nichts nachstand (wahrhaftig mit französischem Flair!) und dass selbst an diesem Tag die Sonne schien.
Dieser Bielkegren war vielleicht doch gar nicht so übel.
***
Das Herrscherpaar hatte darum gebeten, die Morgenmahlzeit in seiner Suite serviert zu bekommen. Und zwar auf Wunsch der Königin, denn so musste sie sich nicht bereits vor Sonnenaufgang präsentabel herrichten.
Der Graf, die Gräfin und Sophia folgten jeder für sich dem Beispiel der Majestäten. Daher saß Mauritz nun allein im Spiegelsaal und genoss pochierte Eier mit Sauerteigbrot und frisch gepflückten Pilzen. Mangels Tischgesellschaft blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in seinen eigenen Gedanken zu ergehen.
Bereits zur Schlafenszeit hatte er tags zuvor eine gewisse Anspannung vor dem verspürt, was ihn erwartete.
Die sich nunmehr steigerte.
Bald würde Seine Majestät der König ja ein abgebranntes Sägewerk vorgeführt bekommen. Anschließend die glückliche Wendung, wenn er die so gut wie komplette Branntweinfabrik zu Gesicht bekam. Mit königlichem Segen wäre Kronogårdens Zukunft gesichert, und die achte Generation Bielkegrens könnte das Zepter an die neunte übergeben.
Doch man konnte es nie mit letzter Sicherheit wissen. Alles Mögliche konnte einem dazwischenfunken. Das Vertrauen, das der Graf seinem Sohn in letzter Zeit entgegenbrachte, war ein zartes Pflänzchen und hing ganz vom Ausgang dieses Tages ab.
Mauritz hätte nur zu gern ein paar Fläschchen Zaubertropfen gegen finstere Gedanken gehabt. Doch der Vater hatte jedes einzelne mit Beschlag belegt und verteilte sie nach völlig unstrategischen Gesichtspunkten. Nicht zuletzt an Seine Majestät höchstselbst.
Das Fehlen des Wundermittels machte sich noch schmerzlicher bemerkbar, als ein junges Küchenmädchen mit zwei vollen Gläschen seiner Morgenschnäpse hereinkam, auf die Mauritz abonniert war. Der Ex-Leutnant betrachtete sie angewidert. Seit er den Wasserburg Wodka kannte, war der Kronogården-Schnaps ja ungenießbar geworden.
»Will Sie mich vergiften?«, blaffte er das Dienstmädchen an, schnappte sich die beiden Gläser und schüttete sie in die Vase der afrikanischen Blume, die die Gräfin für teuer Geld angeschafft und auf die Anrichte hatte stellen lassen.
»Nicht doch«, sagte das Mädchen, dem die Pelargonien der Gräfin ans Herz gewachsen waren.
Und machte, dass sie wieder in die Küche kam.
Zurück blieb Mauritz mit den leeren Gläsern, der afrikanischen Blume – und dem halb vollen Cognac-Krug direkt daneben.
Den französischen Branntwein konnte man ja in der Tat trinken. In Ermangelung von Zaubertropfen war der Cognac für den künftigen Grafen angesichts der anstehenden Herausforderungen vielleicht genau das Richtige?
Er füllte die beiden Gläser. Erst ein, dann noch ein zweites und drittes Mal, ehe er den Krug ohne unnötige Zeitverschwendung direkt zum Mund führte.
***
Jeder, der in einer halben Stunde einen Viertelliter mit Opium versetzten Cognac getrunken hat, kann sich die Wirkung ausmalen. In Mauritz’ Fall kam es zu einem gewissen Verzögerungseffekt, da er den letzten Schluck direkt vor dem Treffen mit dem Königspaar und der restlichen Familie nahm. Als er sich zu den anderen gesellte, fühlte er sich stark.
Der Graf hingegen war ein wenig nervös. Er hatte seinem König noch nicht gebeichtet, dass es kein Sägewerk mehr vorzuzeigen gab. Auf dem Weg dorthin kamen sie an dem ehemaligen Stall, will sagen, der angehenden Branntweinfabrik vorbei. Gustav hatte sich vorgenommen, dort haltzumachen und den König damit zu beeindrucken – um erst danach auf die entsetzliche Feuersbrunst noch vor wenigen Tagen zu sprechen zu kommen.
Der Spaziergang begann denkbar günstig. Königin Josephine reagierte entzückt auf die zwei arabischen Vollblüter, die sich auf der Koppel tummelten. Und das mitten in dem hässlichen, buckeligen Schweden! Ihre Majestät dachte sich, vielleicht bestünde dennoch und trotz alledem Hoffnung für das Königreich ihres Gemahls.
»Wie einmalig schön!«, sagte sie beeindruckt.
Antoinette und ihr Bruder waren ja übereingekommen, die Liquidität des Grafen zu strapazieren. Zu diesem Behufe hatte sie nicht geplant, zu sagen, was ihr nun im Überschwang nach den Lobesworten der Königin über die Lippen kam:
»Danke, Euer Majestät! Ich kann Euch nur beipflichten. Erst heute Morgen habe ich nach zwei weiteren Araberpferden schicken lassen.«
»Was, zum Teufel, hast du da gesagt?«, entfuhr es Mauritz. Womit er drei Fehler auf einmal beging: Erstens, vor König und Königin zu fluchen. Zweitens auch noch auf Schwedisch. Vor allem anderen aber gebrauchte er dabei einen heftigen Ton.
»Aber mein allerliebster Mauritz!«, ließ sich die Gräfin vernehmen, die noch nicht verstand, dass das Opium aus ihm sprach.
Glücklicherweise war der König zu gespannt auf den weiteren Verlauf des Spaziergangs, um sich über einen kleinen Familienzwist zu ereifern.
»Ist es nun Zeit für das Sägewerk?«
»Unbedingt!«, sagte der Graf, während er sich im Geiste notierte, dass er Frau und Sohn bei nächster sich bietender Gelegenheit zurechtstutzen würde. »Aber unterwegs haben wir noch eine Überraschung für die hohen Herrschaften. Ich bitte, mir zu folgen.«
»Und dabei denkst du nicht an das verfluchte Sägewerk, das in Schall und Rauch aufgegangen ist«, sagte Mauritz feixend.
Schon wieder geflucht! Diesmal auch noch auf Französisch. Jetzt verstand auch Antoinette. Im Gegensatz zu Gustav, der eher den Eindruck machte, als wollte er seinen Sohn umbringen.
»Wie meinen?«, sagte der König.
Hatte es gebrannt? Er hatte doch einzig und allein wegen Schwedens modernstem Sägewerk beschlossen, einen Tag länger als nötig auf Kronogården zu verweilen! Jetzt fühlte er sich betrogen!
»Führt mich auf der Stelle hin! Ich will mir mit eigenen Augen ein Bild von dem Unglück machen!«
Da man seinem König nicht widerspricht, führte der Graf die ganze Gruppe zu den Überresten dessen, was einst sein ganzer Stolz gewesen war. König Oskar konstatierte ungnädig, nichts als Asche sei davon übrig.
»Ein furchtbares Unglück, Euer Majestät«, sagte der Graf. »Wir sind vernichtet! Doch wir haben, wie gesagt, eine Überraschung, allenfalls einen Steinwurf von hier entfernt.«
»Noch mehr Überraschungen?«, sagte der König verstimmt. »Davon habe ich ja gestern, kurz bevor wir die Tafel eröffnet haben, weiß Gott genug geboten bekommen.«
»Überraschung ist nicht gleich Überraschung«, sagte der Graf mit untertänigem Lächeln. »Wenn Ihr die Güte habt, mir zu folgen, so werde ich Euch diese zeigen.«
Als sie schon den halben Rückweg zurückgelegt hatten, bog der Graf zu der Behausung ab, die ehedem der Stall des Schweinezüchters für seine dreihundert Tiere und anschließend ein Stall für elf Pferde gewesen war. Und jetzt etwas gänzlich anderes beherbergte!
»Hat Euer Majestät schon jemals etwas so Imposantes gesehen?«, tönte der Graf. »Sie ist auf eine Kapazität von sechstausend Litern täglich ausgelegt; ein Liter entspricht in etwa einem unserer Hohlmaße, wenn auch nicht ganz.«
»Ich weiß, wie viel ein Liter ist«, sagte der König.
»Kurz und gut«, fuhr der Graf fort, »hier sind Steuereinnahmen in Millionenhöhe zu gewärtigen, man muss das Ganze nur noch in Betrieb nehmen!«
»Es handelt sich also um Branntwein?«
Branntwein stellte für den König so ziemlich das Ärgste überhaupt dar. Jetzt schlichen sich neue finstere Gedanken an. Er hatte noch ein halb volles Fläschchen Wundermedzin in der Rocktasche und nahm einen tüchtigen Schluck, während sich der Graf in seinen Ausführungen erging:
»Jawohl, es handelt sich um Branntwein, Euer Majestät! Um småländischen Branntwein allererster Qualität! Überdies wäre es uns eine Ehre, königlicher Hoflieferant werden zu dürfen.«
Königlicher Hoflieferant des Ärgsten überhaupt? Graf Bielkegren verstand sich wahrlich auf Überraschungen.
»Oberbefehlshabender, war Euer Name Klerbring?«
»Ganz recht, Euer Majestät. Gunnar Klerbring.«
»Wenn Er dies hier genehmigt, kann Er auf seine Absetzung zählen.«
Was ist jetzt los? , dachte der Graf.
»Welch abscheulicher Apparat«, sagte Königin Josephine.
»Fürwahr«, sagte die Gräfin, die sich in Gustavs überraschendem Misserfolg sonnte.
»Pfui!«, stimmte Sophia ein.
Unterdessen ließ sich Mauritz auf etwas Abstand im Rest-Stroh nieder. Ihm war nach Ausruhen zumute.
Graf Bielkegren fand sich zwischen all den Ereignissen und Meinungen nicht mehr zurecht. Dass sein Sohn es sich im Stroh gemütlich gemacht hatte, grenzte ja nun an Majestätsbeleidigung, aber … würde es etwa Schwierigkeiten mit der Genehmigung geben? Was konnte der König denn gegen frischen Unternehmensgeist in der småländischen Provinz haben? In seiner gesamten Regentschaft war ihm doch stets daran gelegen gewesen, Erleichterungen für den Kommerz zu schaffen und dem Lande zu Wohlstand zu verhelfen.
»Ist Graf Bielkegren etwa ganz und gar entgangen, dass sich meine Untertanen um Kopf und Kragen saufen?«, sagte König Oskar.
»Aber doch wohl nicht alle?«, sagte Gustav und hörte selbst, wie dümmlich sich das anhörte.
»Noch nicht. Jedoch das scheint Er ändern zu wollen. Wir müssen der grassierenden Trunksucht Einhalt gebieten, bevor das Land vor die Hunde geht! Begreift Er das denn nicht, Graf?«
» ›Begreift Er das denn nicht, Graf?‹« , äffte Mauritz ihn aus dem Stroh nach.
Die Königin sah den jungen Mann angewidert an, der sich nicht nur gesetzt hatte, während die Majestäten standen, sondern sich jetzt auch noch hinlegte. Der König unterdes war immer noch ganz und gar auf sein Herzensanliegen konzentriert.
»Jetzt hört einmal her!«, sagte er.
Woraufhin er sich in Ausführungen darüber erging, was königlicherseits mit Unterstützung von Regierung und Reichstag geplant war:
Jegliches Schnapsbrennen für den Hausgebrauch sollte verboten, die industrielle Produktion zentralisiert und auf völlig neue Art kontrolliert werden. Die Steuern musste man natürlich kräftig erhöhen – doch vor allen Dingen war überhaupt erstmalig mit Steuereinnahmen zu rechnen, denn wie viel entrichteten all die Selbstbrenner-Bürger, Bauern und selbst die Geistlichkeit denn schon heutigentags?
Oder auch die Grafen, was das angeht, dachte Gustav Bielkegren. Er hatte jahrelang einen elenden Destillierapparat laufen lassen, weil alle Tagelöhner und Pächter bis auf einen (der vermaledeitete Olsson) für den praktisch ungenießbaren Fusel bezahlt hatten.
Aber noch war er nicht bereit, aufzugeben.
»Aber müsste die Branntweinproduktion dann nicht in die Hände von seriösen, ehrbaren und vertrauenswürdigen Stützen der Gesellschaft gelegt werden?«
»Wie Bielkegren?«, konterte der König. »Die Gesellschaftsstütze des Grafen ist ja wohl unlängst abgebrannt, nicht wahr? Und angesichts dessen, dass Ihr Herumtreiber, unverheiratet zusammenlebende Paare und Freudenmädchen zum Galasouper mit Eurem König einladet, solltet Ihr es Euch angelegen sein lassen, sowohl Euren Grad an Seriosität und Ehrenhaftigkeit als auch an – so würde ich meinen – Urteilsvermögen zu überdenken.«
»Hast du gestern ein Freudenmädchen zum Souper eingeladen, Gustav?«, sagte Antoinette. »Warum das denn?«
»Ja, warum wohl?«, brabbelte Mauritz aus dem Stroh. »Warum wohl, warum wohl, warum wohl?«
Nachdem der Graf über zehn Sekunden lang kein Wort herausgebracht hatte, bot der König seiner Königin den Arm und ließ verlauten, für sie sei es nun Zeit zu gehen; auf der Rückreise aus Dänemark beabsichtigten sie, sich eine andere Herberge als Kronogården zu suchen.
»Freilich sollt Ihr wissen, dass wir Eure Gastfreundschaft zu schätzen wussten. Vergesst nicht, auch Eurem wohlgeratenen Sohn meinen Dank auszurichten. Wenn er wieder aufgewacht ist.«
Und damit entschwanden König Oskar und seine Josephine.
»Was war das mit dem Freudenmädchen, Gustav?«, wiederholte Gräfin Antoinette.
»Was ist ein Freudenmädchen?«, fragte Sophia.
Mit leerem Blick sah der Graf Mutter und Tochter an:
»Könnt ihr nicht einfach zur Hölle fahren?«
Das Wort Hölle schlich sich dem weggetretenen Sohn in die Hirnwindungen. Immer noch mit geschlossenen Augen brabbelte er:
»So lasse ich nicht mit mir reden! Bielkegren mein Name. Graf. Mauritz. Bielkegren.«