Bei Tisch mit dem Engländer
Der Graf hatte auf seinem langen Rundwanderweg von Kate zu Kate weidlich Zeit zum Nachdenken gehabt. Als er endlich wieder zu Hause im Sägewerk angekommen war, beschloss er, dass es die Dinge nicht voranbringen würde, Mauritz mit einem stumpfen Gegenstand gegen den Kopf zu schlagen. Anderes ging vor. Denn das Sägewerk musste sich unbedingt aus der Asche erheben!
Was nichts anderes bedeutete, als dass sich Gustav auf den Weg nach Aringsås machen musste.
***
Dies eine Mal war Frank Miles wach geblieben, bis der Abendbrottisch gedeckt war. Mit den Jahren hatte er die schwedischen Köttbullar lieben gelernt, vielleicht lag es daran.
Daher drehte sich das Tischgespräch um ihn. Helmut erklärte, dass es den Apotheker Algot H. Otterdahl nicht mehr gab und den Destillierapparat für den Hausgebrauch sehr bald ein ähnliches Schicksal ereilen würde, da er sonst womöglich als Beweismaterial herhalten könnte, falls Graf Bielkegren sich zur Rache an ihrer Rache entschließen sollte.
»Dann habe ich ja nichts mehr zu verkosten?«, sagte Frank Miles betrübt.
»Vielleicht doch«, sagte Algot. »Herr Zimmermann und ich, wir haben nämlich nachgedacht.«
Helmut legte ein frisch gedrucktes Etikett auf den Tisch:
Zaubertropfen
gegen finstere Gedanken
von Algot H. Otterdahls Nachf.
»Hatte Algot H. Otterdahl denn Kinder?«, fragte Frank Miles.
»Wir haben uns gedacht, dass Ihr der Nachfahre sein könntet«, sagte Helmut.
Der Vorschlag sah so aus, dass die Firma einen Wohnsitz in zwölf, dreizehn Meilen Entfernung von ihrem derzeitigen Firmensitz kaufte. Dorthin konnte Frank Miles mit all seinem Sack und Pack umziehen – und mit dem Destillierapparat!
»Ich habe doch überhaupt kein Sack und Pack. Aber erzählt weiter!«
Nun ja, mithilfe der Druckerpresse würden sie die Identität des Engländers ändern.
»Kein Schotte!«, sagte Frank Miles.
Das versprach ihm Helmut.
»Auf Wunsch könnt Ihr weiterhin englischer Herkunft sein. Aber es würde vieles für Euch erleichtern, wenn Ihr einen anderen Namen hättet.«
»Zum Beispiel?«
»Frank H. Otterdahl«, schlug Algot vor. »Naher Verwandter des verstorbenen Algot.«
»Wofür steht das H.?«
»Das wissen wir nicht. Kannst du dir selber aussuchen!«
»Danke!«, sagte Frank Miles. »Ich hab zwar noch nicht alles ganz genau verstanden, aber es hört sich doch ganz so an, als hätten wir auf etwas anzustoßen, oder?«
Da klopfte es an der Tür.
»Das darf nicht wahr sein«, sagte Helmut.
»Ich mach auf«, sagte Maja. »Wer weiß, vielleicht hab ich mehr Glück als ihr anderen.«
Sie ging zur Tür.
»Graf Bielkegren! Das hätte ich nicht gedacht, denn es waren ja nur zwei Klopfzeichen. Ihr habt doch sonst immer viermal hintereinander angepocht.«
***
Der Graf trat weder böse noch anmaßend auf, sondern machte eher einen ergebenen, wenn nicht gar verzweifelten Eindruck. Er bekam den einzigen freien Stuhl am Tisch angeboten. Bis auf einen erkannte er alle in der Runde wieder.
»Otterdahl«, sagte Frank Miles. »Apotheker Frank H. Otterdahl. Wir sind uns wohl noch nicht begegnet?«
»Ich kann nicht mehr«, sagte der Graf.
Gustav Bielkegren berichtete in Kurzfassung von der abgrundtief peinlichen Szene in Gegenwart Ihrer Majestät am Vorabend. Und sagte, damit sei es nun einmal, wie es sei. Seine Beziehung zum König gehe ohnehin komplett den Bach runter.
Gefolgt von dem Satz:
»Ich bin hier, weil ich Hilfe brauche.«
Alle bis auf Frank Miles dachten, dass sich der grässliche Graf da mal keine allzu großen Hoffnungen machen sollte. Der Engländer hingegen hatte die perfekte Menge Wundermedizin im Blut.
»Da seid Ihr hier genau richtig, Herr Graf! Wir werden alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um Euch zu helfen! Darauf gebe ich Euch mein Apothekerehrenwort!«
Frank Miles hatte sich also bereits mit seiner neuen Identität angefreundet, stellte Algot fest. Und das nur wenige Sekunden nachdem er sie erhalten hatte.
Der Graf schilderte weiter in bewegenden Worten, wie er vom Pech verfolgt worden war – und zwar zweimal hintereinander. Erst sei das so gewinnbringende Sägewerk ein Raub der Flammen geworden und liege jetzt in Schutt und Asche. Und hernach habe sich herausgestellt, dass Ihre Majestät der König die Branntweinproduktion höchstpersönlich mit eiserner Hand zu regulieren gedenke.
»Wir bekommen keine Genehmigung für den geplanten Betrieb.«
Helmut, der damit rechnete, dass der Graf jetzt den Kauf der französischen Destilliermaschine rückgängig machen wollte, stellte sich schon darauf ein, den unterschriebenen Vertrag zu holen, in dem beide Parteien eindeutig vereinbart hatten:
Das Gerät wird verkauft wie besehen. Der Verkäufer trägt weder Verantwortung für den Wiederaufbau noch für die künftige Funktionsfähigkeit oder für notwendige Vereinbarungen zwischen dem Käufer und der zuständigen Behörde.
Aber so verhielt es sich ganz und gar nicht. Offensichtlich hatte Rechtsanwalt Elias Henriksson seinen Auftrag tüchtig ausgeführt, und der Graf schien das einzusehen.
»Um es kurz zu machen: Das Sägewerk muss von Grund auf neu errichtet werden. Leider wird das rund hunderttausend Reichstaler verschlingen. Und mein gesamtes Kapital ist bedauerlicherweise in Wäldern und Immobilien gebunden.«
Als ob du noch ein Fitzelchen Wald besitzen würdest, dachte Helmut.
Algot griff auf seine Erinnerungen von früher zurück:
»Ich weiß ja nicht, wie es in Eurer Welt zugeht, Herr Graf, aber in meiner kommt man seinen Verpflichtungen nach. Das kurzfristige Darlehen über fünfzigtausend läuft bald ab; wolltet Ihr das mit den hunderttausend begleichen, nach denen Ihr heute fragt?«
Nein, dann könnte das Sägewerk nicht fertiggestellt werden. Bielkegren hatte vielmehr an eine angemessene Verlängerung des kurzfristigen Darlehens zusätzlich zum neuen gedacht.
Anna Stina merkte, dass Algot kurz davor war, den Grafen mit einem Nein vor die Tür zu setzen. Aber so leicht wollte sie den Kerl nicht davonkommen lassen.
»Wir machen es so …«, sagte sie und warf Algot einen Blick zu, der besagte, dass sie es sich gut überlegt hatte und er jetzt still sein sollte. »Wir haben Eure Worte vernommen, Herr Graf, und versprechen, uns die Angelegenheit gründlich durch den Kopf gehen zu lassen.«
»Gründlich!«, wiederholte Frank Miles, ohne zu wissen, wovon die Rede war.
Anna Stina warf dem Engländer einen energischen Blick zu. Und zwar so, dass er das Gefühl bekam, er brauche seine Gedanken nicht weiterzuspinnen. Er hatte ohnehin keine zu spinnen.
Die Tochter des Druckermeisters fuhr fort:
»Wenn wir fertig überlegt haben, lassen wir ohne unnötigen Verzug von uns hören. Ist es Euch recht, Herr Graf, wenn wir uns in drei bis vier Tagen erneut zusammensetzen?«
Das war es durchaus nicht, doch was blieb ihm anderes übrig? Bielkegren stand auf, bedankte sich für das Gespräch und wünschte der Gruppe noch einen schönen Tag.
Auf dem Weg zur Tür hatte er ganz stark das Gefühl, dass er ein, zwei Schluck aus Apotheker Otterdahls Flasche mit Zaubertropfen gegen finstere Gedanken brauchte. Aus diesem Grund blieb er stehen und fragte:
»Frank H. Otterdahl? Seid Ihr womöglich verwandt mit Algot Olsson hier, der sich bis vor Kurzem ganz ähnlich genannt hat?«
»Algot H. Otterdahl ist mein geliebter Onkel«, sagte Frank Miles. »Olsson hingegen ist meines Wissens schlicht und einfach Olsson.«
Algot lächelte in sich hinein. Ab und an hatte der Engländer tatsächlich einen Geistesblitz.
»Dass ich Apotheker bin, das war bloß ein Scherz«, sagte er. »Nicht wahr, Ihr versteht ja Spaß, Herr Graf?«
Das nun nicht gerade.
***
Gustav Bielkegren konnte gerade noch die Tür hinter sich schließen und den Rückweg antreten, bevor Algot unbedingt erfahren musste, was Anna Stina sich vorgestellt hatte. Erwog sie etwa, diesem Menschen wirklich zu helfen?
»Ach wo! Aber jetzt muss er sich ja noch drei weitere Tage quälen, bis wir ihm absagen.«
Algot bedankte sich lächelnd für ihren Einsatz. Von Maja und Helmut kamen auch lobende Worte. Frank Miles bat, jemand möchte es ihm erklären. Oder ihm einen Schnaps einschenken.
Angeregt von der Initiative seiner geliebten Anna Stina, erzählte Algot, was er von Stallburschen aufgeschnappt hatte, als er zum Gestüt südlich von Växjö gefahren war, um die dreiunddreißigtausend Reichstaler für die elf verkauften Vollblutpferde der Gräfin abzukassieren.
»Angeblich hat sie zwei schon zurückgekauft, höchstwahrscheinlich von nicht vorhandenem Geld.«
»Und was musste sie dafür berappen, falls sie überhaupt bezahlt hat?«, wollte Helmut wissen.
»Zehntausend Reichstaler pro Pferd.«
Der Preis hatte sich also mehr als verdreifacht. Das Gestüt wäre zu beglückwünschen gewesen, wenn es denn mit einer Bezahlung hätte rechnen können.
»Armes Gestüt«, sagte Maja.
»Nicht unbedingt«, sagte Algot.
Und er berichtete von den Geschehnissen vor gut einem Jahr, als der Graf sämtliche Schuldscheine auf Sven Olsson aus – wie er selbst gesagt hatte – praktischen Gründen aufgekauft hatte. Mit dem Ergebnis, dass alle Macht über Sven Olssons Schicksal damals schließlich in seinen Händen lag.
»Wie wär’s, wenn wir mit den Vollblutarabern ebenso verfahren? Dann würde uns der Graf noch mehr von dem Geld schulden, das er nicht hat.«
Helmut kam es ganz so vor, als sei er von lauter intelligenten Menschen umgeben! Und natürlich dem Engländer.
»So machen wir es! Fahr du zum Gestüt und biete ihnen fünftausend über Wert für den Schuldschein. Unterdessen kann ich mit der Sparkasse reden.«