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Das Portal del Sur
Diago Vela · Im Jahr des Herrn 1192 , Winter
Ein Schrei zerriss meine durchwachte Nacht. Der Schrei einer Frau. Im Tagesanbruch waren bereits die Umrisse des Wehrgangs zu erkennen. Ich fand keinen Trost in meinem alten Bett. Es war leer und eisig, wie mit Raureif überzogen. Das Feuer im Kamin meines Schlafgemachs war erloschen, die morgendliche Kühle hielt mich wach. Wenigstens träumte ich nicht von Schiffbrüchen.
»Sie haben den Conde gefunden! Sie haben den Conde gefunden!«, ließen sich Rufe aus Richtung der Rúa de las Tenderías vernehmen.
Ich öffnete die Truhe, die einst mir gehört hatte, wählte Kleidung aus, die nicht allzu häufig getragen worden war, denn ich wollte nicht erneut für einen Herumtreiber gehalten werden. Dann wusch ich mich mit dem Wasser in der Waschschüssel und lief die Treppe hinab.
Die Frage nach dem Wo erübrigte sich. Ich musste einfach nur den bestürzten Rufen der Nachbarn folgen. Also zum Portal del Sur, dachte ich. Gleich darauf stand ich am Fuße der Mauer, neben dem Tor. Hinter der Mauer erhob sich der Turm der Kirche Sant Michel, gleichgültig gegen die Tragödie.
Einige Köpfe umringten den Toten. Ich drängte mich zwischen ihnen hindurch. Er war bereits ziemlich kalt, als ich bei ihm ankam. Der, der mein Schwiegervater hatte sein sollen und es nicht geworden ist.
Der Conde Furtado de Maestu. Als ich mich gestern Abend von ihm verabschiedet hatte, hatte er nicht gerade kerngesund gewirkt, sondern unruhig und ausgezehrt. Einer seiner Ärmel hatte nach frisch Erbrochenem gestunken. Er hatte sich damit über den Mund gewischt. Ich hatte es mir mit dem Festessen und dem reichlich geflossenen Wein erklärt.
Doch einen solchen Anblick hatte ich schon einmal gesehen.
Ich hatte das schon einmal gesehen, musste mich aber vergewissern. Nur wie, inmitten eines solchen Menschenauflaufs?
Ich trat näher heran. Der dunkle Stoff seiner Kleidung verbarg den Fleck gut.
Dennoch sah ich es: Dieser Mann hatte beim Wasserlassen geblutet.
Da sah ich sie. Alix de Salcedo, zum Glück ohne ihre angriffslustige Schleiereule. Das Haar trug sie diesmal unter einer sehr auffälligen Haube mit drei Spitzen verborgen, doch die Befriedigung meiner Neugier hob ich mir für später auf. Mit einem Blick bat ich sie zu mir.
»Er ist ein gerechter Mann gewesen. Ich dachte, er würde an Altersschwäche sterben«, bemerkte sie leise, ohne den Blick von der bereits steifen Leiche abzuwenden.
»Könntet ihr mir ein Kaninchen beschaffen?«, flüsterte ich.
»Tot oder lebendig?«
»Der Balg genügt mir.«
»Ich glaube nicht, dass sie mich im Augenblick aus der Stadt lassen, aber der Sohn des Metzgers hält welche auf seinem Hof. Kaufen oder stehlen?«
Ich ließ zwei Sueldos in ihre Hand gleiten. Sie hatte die Schwielen eines Menschen, der Waffen trägt und mit ihnen übt und der auch den Hammer schwingt.
»Wo bringe ich ihn hin?«
»Zum Haus des Conde. Wir treffen uns dort.«
Sie war fort, ehe ich mich wieder umgedreht hatte.
»Jeder geht zurück an seine Arbeit!«, befahl ich. »Und jemand soll einen Karren und ein Zugtier holen, wir müssen den guten Conde nach Hause schaffen.«
»Seid Ihr es, unser Senior, Don Diago Vela?«, fragte der Armbruster.
»So ist es, Paricio. Man hat Euch fälschlich von meinem Tod benachrichtigt, ich weiß. Doch ich bin zurückgekehrt. Und während ich in Ordnung bringe, was ich in der Stadt hinterließ, werden wir uns um diesen Notfall kümmern. Tut kund, dass ich wieder hier bin. Ich werde mich um Eure Angelegenheiten kümmern, wie ich es immer tat.«
»Das tut jetzt Euer Bruder, der Conde Nagorno. An wen sollen wir uns wenden?«
Ich täuschte Gelassenheit vor. Lächelte. »An mich, ohne jeden Zweifel. Er wird sich um alles kümmern, wenn ich wirklich tot bin.«
Alle lachten erleichtert.
Jemand lud sich den Conde de Maestu auf die Schulter, trug seine Leiche die alte Treppe hinauf bis ins Hauptgeschoss und legte sie in dasselbe Bett, in dem nur Stunden zuvor seine Tochter die Ehe mit meinem niederträchtigen Bruder vollzogen hatte.
»Ist die Hüttenmeisterin schon hier?«, fragte ich, während ich den Verstorbenen entkleidete. In diesem Augenblick erschien Alix de Salcedo mit einem weißen Kaninchen in der Hand.
»Hinaus alle miteinander«, befahl ich.
Zwei Nachbarn, die mich begleitet hatten, sowie Remiro, der alte Diener des Conde, gingen die Treppe hinab, die unter ihrem Gewicht knarrte und ächzte.
Alix gehorchte nicht, sondern warf mir einen Blick zu, den ich mir wie folgt übersetzte: Ich rühre mich nicht vom Fleck.
»Wie Ihr wünscht. Könnt Ihr rasieren?«
»Ich habe meinen Vater und meine beiden Brüder rasiert. Ich habe eine ruhige Hand.«
»Es genügt, wenn Ihr das Kaninchen rasiert.«
»Senior?«
»Entweder dies, oder ich rasiere das Kaninchen, und Ihr schlitzt den Toten auf. Wir werden uns beeilen müssen, damit uns niemand daran hindert.«
Alix zog einen Dolch und stellte keine weiteren Fragen. Sie trat ans Fenster, um mehr Licht zu haben, und ich schob Furtados Tunika nach oben, um mit der Aufgabe zu beginnen, ihm einen Teil seiner Eingeweide zu entnehmen.
Ich fasste sie mit einem Tuch an, um sie nicht zu berühren, und legte sie in die Waschschüssel.
»Bringt mir den Kaninchenbalg, Alix. Wir werden damit die Eingeweide abreiben.«
»Was sucht Ihr?«
Auf dem rasierten Teil des Kaninchenbalgs bildeten sich Blasen.
»Das, was gerade passiert ist. Ein Arzt aus Pamplona hat es mich vor Jahren gelehrt. Das ist die Wirkung des Ölkäfers, wenn man zu viel davon einnimmt.«
»Ist das dieses braune Pulver, das die Soldaten in Bordellen nehmen, wenn ihre Männlichkeit versagt?«
Ich lächelte.
»Ihr wisst eine Menge für eine Novizin. Eure Brüder, nicht wahr?«, fragte ich und überging das Rätsel der Haube mit den drei Spitzen.
»Meine Brüder, Senior. Kann ich es mir wenigstens vor Euch sparen, so zu tun, als würde ich rot? Es ist anstrengend, eine brave Christin zu sein.«
»Ihr braucht nicht so zu tun. Ich bin darüber hinaus, Anstoß zu nehmen. Hatte der alte Conde eine Geliebte?«
»Es heißt, seit er Witwer wurde, habe er am Grab der Condesa geweint und lieber an einem kalten Altar gebetet, als sich in einem warmen Bett zu vergnügen.«
»Also hatte er keinen Bedarf an diesem Pulver.«
»Ehrlich gesagt fällt mir kein Mann ein, dem fleischliche Gelüste ferner lagen als dem Conde.«
»In diesem Fall muss man nach jemandem suchen, der sich mit Giften auskennt …«, murmelte ich, nachdem ich die Eingeweide des Conde wieder in seine Bauchhöhle gestopft und ihm die Tunika mit dem Gürtel gerichtet hatte. »Könnt Ihr das Blut abwaschen, Euch des Kaninchens entledigen und über das, was Ihr hier gesehen habt, Stillschweigen bewahren?«
Alix befolgte meine Anweisungen so tüchtig wie eilig. Dabei wirkte sie nicht unterwürfig, im Gegenteil, auf mich machte sie sogar einen ein wenig unbändigen Eindruck. Sie erinnerte mich an meine Schwester Lyra, die unbeherrschbare Lyra.
Ich traf Nagorno in der kleinen Werkstatt an, die neben der Schmiede unserer Familie errichtet worden war. Nagorno hätte ein bedeutender Goldschmied werden können, wenn er nicht in eine Familie mit Sonderstellung hineingeboren worden wäre.
Er bearbeitete gerade mit einem feinen Hammer eine Brosche aus Gold mit Glasschmelz. Ein sich aufbäumender Adler kämpfte gegen eine Schlange, die sich ihm um den Hals gewunden hatte.
»Ist dieses Schmuckstück für dein Weib? Du weißt, dass Prahlsucht der Kirche neuerdings nicht gefällt«, sagte ich.
»Du brauchst nicht anzuklopfen, Bruder«, erwiderte er. »Für dich ist immer geöffnet. Papst Coelestin III . hat Händlern, die zu Geld gekommen sind, gerade Pelze, Edelsteine und Gürtel mit Schnallen verboten. Aber meine Frau stammt aus einem alten Geschlecht und wird meine Geschenke nicht verstecken. Ich freue mich, dass du lebst, lieber Diago.«
»Gestern, als du noch dachtest, ich sei tot, wirktest du erfreuter«, bemerkte ich und setzte mich auf die Werkbank, an der er arbeitete.
Seufzend hielt Nagorno inne. »Höre ich da Bitterkeit, Diago? Ich habe es für unsere Familie getan. Irgendjemand musste ja das Durcheinander richten, das du vor zwei Jahren hinterlassen hast.«
»Indem du die mir Versprochene heiratest?«
»Du bist gegangen, ohne irgendeine Erklärung abzugeben, nur ein ›Ich komme wieder‹, das im Lauf der Monate immer weniger glaubwürdig wurde. Wirst du mir sagen, warum du fortgingst?«
»Das kann ich nicht, Nagorno. Der weise König hatte mich unter feinsinnigen Drohungen mit einer Aufgabe betraut, und ich konnte mich nicht weigern. Die Reise erwies sich als viel schwieriger, denn zu erwarten gewesen war. Ich bin nicht einmal an den Hof von Tudela zurückgekehrt, aus Angst, er könnte mir Gott weiß welchen neuen gefährlichen Auftrag erteilen. In ein paar Jahren kann ich dir vielleicht anvertrauen, was geschehen ist und worin ich verwickelt war, doch nicht jetzt«, log ich, denn ich musste in Erfahrung bringen, wie viel er wusste.
»Na schön«, gab Nagorno zurück, der wusste, wann es sinnlos war, Druck auszuüben. »So sehr plagt es dich, dass ich Onneca geehelicht habe? Für mich hat es ein gewisses Opfer bedeutet. Du weißt, dass ich es nicht ertrage, verheiratet zu sein. Wie oft bin ich schon verwitwet?«
»Zu oft«, flüsterte ich.
»Wenn ich nur gewusst hätte, dass du lebst, wenn ich nur diese Gewissheit gehabt hätte, hätte ich nicht geheiratet. Aber Onneca hatte zwei Heiratsanträge nacheinander zurückgewiesen. Du weißt, dass sie nach dem Gesetz von Navarra verpflichtet war, den dritten anzunehmen.«
»Wer machte ihr diese beiden Anträge?«
»Der Senior von Ibida, Bermúdez de Gobeo, und Vidal, der Sohn des Senior von Funes.«
»Ein Greis und einer, der noch grün hinter den Ohren ist. Kein Wunder, dass der Conde sie zurückwies.«
»Das Onneca sie zurückwies«, berichtigte er mich. »Unterschätze sie nicht.«
»Das tue ich nie. Auch ihre Ländereien hätten dem Vater nicht viel gebracht. Niederer Adel …«
»Begreifst du jetzt, dass ich dir einen Gefallen getan habe, Bruder?«
»Du schienst es zu genießen.«
»Jede Strafe verdient eine Entschädigung. Ich kann es kaum erwarten festzustellen, wie unsere Dame ungestört und ohne Zeugen ist … aber du kannst es mir sicher sagen.«
»Das wird mich nie wieder etwas angehen, wie du selbst gesagt hast«, sagte ich lächelnd. Ich musste lernen, dieses Lächeln besser vorzutäuschen.
»Nein … nein, das ist es nicht. Du hast gesehen, dass mein Weib mir zugetan ist. Das nagt an dir. Ich kenne dich. Bisher hattest du nie Grund, an dir zu zweifeln, aber jetzt … Ich weiß die Feinheiten deines Ärgers zu unterscheiden, und da ist er, kaum wahrnehmbar: der Selbstzweifel – nach dem, was du gestern sahst.«
Ich ignorierte die versteckte Spitze. Nagorno tastete nur meine Schwachpunkte ab. Wie ein Schwert, das an der Schulter trifft, am Oberschenkel, am Rücken, in der Hoffnung, dass der Krieger sich krümmt, weil die Rüstung eine aufgeplatzte Narbe verbirgt.
In der gerade vergangenen schlaflosen Nacht hatte ich meine Wunde genäht.
Die Wunde namens Onneca blutete nicht mehr. Die Welt durfte nichts von ihr wissen, das würde mich schwächen. Und diesen Vorteil durfte ich unseren Feinden nicht gewähren.
Ja, es gab Feinde, und die Frage war: Wie nahe waren sie mir in diesem Augenblick?
»Du weißt, dass du ihr einen Erben schenken musst …« Jetzt stocherte ich meinerseits in einer wohlbekannten Wunde.
Seine Miene blieb unverändert, ein Anzeichen dafür, dass ich ihn tiefer getroffen hatte, als ich gedacht hatte.
»Das erwartet man selbstverständlich von mir.«
»Und wie gedenkst du, das zu tun, Bruder?«, hakte ich nach.
»Alles zu seiner Zeit, Bruder
»Nun gut. Ich werde nicht an deiner Fähigkeit zur Täuschung zweifeln, du wirst dir zu helfen wissen. Reden wir von etwas anderem. Was weißt du über das Schreiben, das mich zum verblichenen Conde Don Vela machte?«
»Der Bote war wie ein Trugbild, auf dem Wehrgang gab es widersprüchliche Aussagen. Als ich hinlief und nach ihm fragte, konnte sich niemand an sein Aussehen erinnern. Zwei der Wachmänner behaupteten, sie hätten ihn bei Einbruch der Dunkelheit nahe dem Portal del Sur gesehen. Ich ließ ihn verfolgen, aber als er den Mühlbach überquert hatte, verschwand er.«
Jetzt war meine Geduld erschöpft. »Du hättest ihn selbst verfolgen müssen! Du hättest seine Spur nicht verloren!«, schrie ich.
»Das Schreiben war für den Conde Maestu bestimmt. Du weißt, dass ich ein Auge für Fälschungen habe …«
»Was du nicht sagst.«
Er lächelte. Manche Sünden reizten ihn mehr als andere. Hochmut hatte ihn noch nie gestört.
»Er sagte, er habe das königliche Siegel einigermaßen gründlich betrachten können, Diago.«
»Man kann alles fälschen.«
»Man kann alles fälschen«, räumte er ein. »Ich selbst habe es dir gezeigt. Aber es war ein Brief von König Sancho VI ., dem Weisen, höchstselbst. Und wenn man sein Siegel fälscht, tut man das auf die Gefahr hin, wegen Hochverrats an den Galgen zu kommen. Gib zu, es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass jemand das wagt. Was hätte ich machen sollen, Bruder, als dich zu beweinen, nach vorn zu blicken und mich um das zu kümmern, was unsere Familie erreicht hat?«
Seiner ganzen Falschheit überdrüssig, packte ich ihn am Hals. Ich wollte ein echtes Gespräch mit meinem Bruder, keine Abfolge von Unaufrichtigkeiten.
»Denk ja nicht, ich würde dir glauben, dass du mich für tot gehalten hast. Du und ich, wir haben gemeinsam genügend schwere Zeiten durchgemacht, um zu wissen, dass wir nicht so leicht zu Fall zu bringen sind«, sagte ich. »Ich muss in Erfahrung bringen, wer dieses königliche Schreiben geschickt hat.«
»Du glaubst wirklich, dass es nicht vom König war?«
»Ich sehe keinen Grund, warum er mir das hätte antun sollen.«
»Ich weiß, du glaubst mir nicht, aber ich war es nicht.«
Nein, ich glaube dir nicht, Nagorno. Du bist der Herr der Lügen. Wie sollte ich dir glauben, wo ich dich seit unserer Kindheit kenne? Doch diesen Gedanken behielt ich für mich, denn hier gab es nichts zu gewinnen. Ich wechselte das Thema.
»Da ist noch etwas. Du hast unseren geliebten Gunnarr kommen lassen.«
»So ist es.«
»Wofür?«
»Die üblichen Geschäfte. Am Hof von Tudela herrscht Nachfrage nach dem Horn des Einhorns.«
Das Horn eines Einhorns, das vielen vertrauenswürdigen Quellen zufolge das beste Mittel für Männer war, deren Glied nicht hart werden wollte, war nicht zu finden. Gunnarr brachte von seinen Fahrten über die Nordmeere einen zweckdienlichen Ersatz mit, und niemand bemerkte den Unterschied.
»Der Stoßzahn des Narwals ist das einzige den Geschlechtstrieb anregende Mittel, nach dem man am Hof verlangt?«
»Es ist das teuerste und das einzige, was sich für mich lohnt.«
Meinen Verdacht hinsichtlich des Ölkäfers verschwieg ich ihm einstweilen. Dieses Tier war in Navarra nicht anzutreffen, sondern bewohnte wärmere Gegenden. Jemand musste es von weither mitgebracht haben. Aber Vitoria war eine Stadt der Händler. Hatten Nagorno oder gar Gunnarr etwas mit dieser Bestellung zu tun?
Die Totenglocke wurde geläutet.
»Vom Tod meines Schwiegervaters hast du sicher erfahren«, sagte er da.
»Unmöglich, in diesem Dorf etwas nicht zu erfahren. Wie nimmt Onneca es auf?«, fragte ich ihn.
Nagorno wich meinem Blick aus.
»Es geht ihr nicht gut, sie leidet«, murmelte er, bekümmert, hätte ich gesagt.
Befremdet verzog ich das Gesicht. Onneca war ihm wichtig?
»Die Bestattung des Conde beginnt zur Stunde des Angelusgebets«, fuhr er in eisigem Ton fort. »Ich habe einen Chor von Klageweibern bezahlt. Vermutlich wird das ganze Dorf zum Haus des Conde kommen, wie es bei uns Sitte ist … die Cabezada . Es wäre gut, wenn sie uns zusammen sehen.«
»Du hast Klageweiber verpflichtet?«
»Der Conde verdient sämtliche Ehrungen, die ich bezahlen kann. Ich vergesse nicht, dass er ein Mann von Ehre war. Onneca ist jetzt in seinem Schlafgemach und hält die Totenwache. Ich bestehe darauf: Es wäre gut, wenn sie uns zusammen sähen. Die Obrigen der Stadt werden alle kommen, ebenso der Richter, der Henker und der Geistliche unserer Kirche Santa María. Ich habe verfügt, dass er auf unserem Friedhof bestattet wird. Wir sind schon eine Familie, er wird umgeben von unserem Blut, von anderen Velas, ruhen.«
Ich nickte. Ausnahmsweise war ich mit Nagorno einer Meinung.
Als wir die kleine Werkstatt verließen, entging mir nicht, wie er die Brosche, die er Onneca schenken wollte, in eine verborgene Tasche seiner prächtigen roten Tunika steckte.
Zwischen Marktbuden und Schweinen, Wasserträgerinnen und Krämerinnen hindurch gingen wir Richtung Cantón de la Armería. Schon von weitem sahen wir den Auflauf der Leute, die gekommen waren, um der Familie des Conde ihr Mitgefühl auszusprechen. Alle waren da, die Einwohner von Nova Victoria und sogar die des Bezirks der Messerschmiede außerhalb der Stadtmauern.
Bei der alten Sitte der Cabezada standen die Angehörigen beim Toten, der in seinem Schlafgemach aufgebahrt war. Die Ärmsten bahrten ihre Toten auf dem Tisch auf, an dem sie sonst aßen und der üblicherweise lediglich aus einer Holzplatte bestand, die jeden Abend, wenn die Familie sich zum Nachtmahl zusammensetzte, auf- und wieder abgebaut wurde. Dann kamen nacheinander die Nachbarn herein und sprachen den Angehörigen ihr Mitgefühl aus, und diese antworteten mit einem Nicken – eben der Cabezada . Es war ein langer, langweiliger und lästiger Brauch, aber er war in der Gegend seit Jahrhunderten fest verankert und nicht auszurotten.
»Und die übrigen Kinder des Conde kommen nicht zur Bestattung?«, fragte ich Nagorno.
»Ich bezweifle es. Sein Erstgeborener, dieser Narr, ist in Edessa und tötet Ungläubige. Die beiden kleinen Töchter mussten das Gelübde der Finsternis ablegen.«
»Alle beide?«, fragte ich ein wenig befremdet.
Nagorno machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten. Er war in Gedanken wohl bereits bei dem Totenbrauch, dem er gleich vorstehen würde, und blieb in der Nähe der Haustür, um zu verfolgen, wer alles eintrat.
Die Familientradition der Einmauerung war mir bekannt. Wenn die Condes zu viele Töchter hatten, ließen sie sie in irgendeiner Kirche in der Nähe einmauern. Man trennte einen kleinen Raum ab, in dem die Mädchen oder Frauen ihr Leben in vollständiger Abgeschiedenheit dem Gebet widmeten. Manche aus Überzeugung. Andere nicht so sehr.
Ich wollte schon eintreten, aber Nagorno packte mich unauffällig am Arm und flüsterte mir ins Ohr: »Du hast mich noch nicht danach gefragt. Ist das vielleicht ein Waffenstillstand?«
»Ich habe dich noch nicht gefragt, ob du es warst, der den guten Conde umgebracht hat? Meinst du das? Du hättest starke Gründe, du hättest die Mittel dazu, und an Einfallsreichtum hat es dir noch nie gemangelt«, bestätigte ich.
»Ist es ein Waffenstillstand?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil auch du mich noch nicht danach gefragt hast«, gab ich zurück.
Dann betraten wir schweigend das angesehene Haus, während die Leute sich am Fuß der schmalen Holztreppe drängten. Die einen gingen nach oben, die anderen kamen wieder herab. Dieser Brauch würde uns den gesamten Vormittag beschäftigen.
Ich stellte mir Onneca vor, allein bei der Leiche ihres Vaters – einer Leiche, die ich entweiht hatte, und fühlte mich ein wenig schuldig.
Doch in diesem Augenblick fiel uns ein hölzernes Inferno auf den Kopf. Die alte Treppe gab unter dem Gewicht des halben Dorfes nach. Es gab einen ohrenbetäubenden Krach, und dann wurden wir unter einem Durcheinander aus Holztrümmern und blutigen Leibern begraben.