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Arkaute
Unai · Oktober 2019
Ich nahm den Wagen und fuhr zur Polizeischule nach Arkaute, am Rande Vitorias, wo ich Jahre zuvor die Ausbildung zum Polizeibeamten und später zum Fallanalytiker bei der Kriminalpolizei gemacht hatte. Sie befand sich ganz in der Nähe des Friedhofs, den ich so gern aus den Augen verlieren wollte. Viele Male hatte ich mein Lauftraining auf den Wegen gemacht, die die Schule umgaben, wo die Neulinge neun Monate lang zusammenlebten, bis das Wort »Kollege« etwas Verlässliches bedeutete.
Ich wollte zu meiner Mentorin, der Psychiaterin Marina Leiva – die Frau, die von Anfang an meine Begleiterin durch die dunklen Hirne von Psychopathen, Psychotikern und den übelsten Serientätern, meiner Spezialität, gewesen war.
Am Eingang der Polizeischule verstellte eine Schranke mir den Weg, und ich musste mich ausweisen.
Ein Neuling hätte Marina in den Hörsälen und Seminarräumen gesucht, in denen sie unterrichtete, aber ich war mit ihren Gewohnheiten vertraut.
Auf dem Handy sah ich nach der Uhrzeit und betrat dann das Gebäude, welches das Hallenbad beherbergte. Dort fand ich sie: In einem roten Badeanzug und mit einer Badehaube, unter der ihre rote Mähne gefangen war, schwamm sie im leeren Becken ihre Bahnen.
Schuhe und Strümpfe in der Hand, die nackten Füße in einer Pfütze aus Chlorwasser, stand ich geduldig da und wartete, bis sie fertig war und mich bemerkte.
»Unai, was für eine Überraschung, dich wieder mal hier zu sehen!«, sagte sie, während sie auf der Metallleiter aus dem Becken stieg.
»Ich war dir einen Besuch schuldig. Ich fürchte, ich habe zu viel Zeit vergehen lassen.«
»Allerdings. Du bist im Alleinflug unterwegs und machst deine Sache gut, wie ich so höre.«
»Es geht, Marina. Ich habe ein paar Fälle ganz ordentlich abgeschlossen, aber jetzt brauche ich deine Hilfe. Ich bin da mit etwas konfrontiert … mit jemandem, der mich ratlos macht.«
Ich bedeutete ihr, uns auf die Tribüne zu setzen. Sie folgte mir. Marina war ruhig und geduldig, lächelte und beobachtete genau, ohne dass man das Gefühl hatte, analysiert zu werden. Sie beschränkte sich darauf, da zu sein und zuzuhören. Ich hatte ganz vergessen, dass ihre Gegenwart Balsam für meine Seele war.
»Und du brauchst ausgerechnet mich?«, fragte sie, während sie sich in aller Ruhe abtrocknete.
»Ja, ausgerechnet dich. Ich habe mich daran erinnert, dass du mir erzählt hast, wie deine Zusammenarbeit mit der Polizei anfing. Mit dem Fall des Serienvergewaltigers, der El Charlatán genannt wurde.«
Dieser Charlatán war ein Kerl, der während der Vergewaltigung unentwegt auf seine Opfer einredete, sie nach ihren Phantasien und Vorlieben fragte. Alle berichteten hinterher von der Redseligkeit dieses Arschlochs. Er sei keinen Moment still gewesen und habe einen osteuropäischen Akzent gehabt. Bei einigen der Opfer, die ihn angezeigt hatten, fand man glücklicherweise Sperma.
Die Polizei suchte also einen vorbestraften Sexualtäter mit osteuropäischem Pass, wurde aber nicht fündig.
Zur gleichen Zeit und in derselben Gegend trieb allerdings ein weiterer Vergewaltiger sein Unwesen. Diesen Mann beschrieben die Opfer als schweigsamen Spanier, der sehr brutal war, weshalb man ein anderes Profil für ihn erstellte. Aber dann konnte man zur allgemeinen Verblüffung feststellen, dass die DNA dieses zweiten Täters mit der von El Charlatán übereinstimmte. Der Vergewaltiger konnte verhaftet werden, und dabei stellte sich heraus, dass er seit Jahren wegen seiner DIS , seiner dissoziativen Identitätsstörung, bei Doctora Leiva in Behandlung war. Damals wandte die Polizei sich an sie.
»So spektakuläre Fälle wie diesen findet man nicht oft«, sagte sie und legte sorgfältig ihr Handtuch auf ihren Knien zusammen. »Und die Mehrheit meiner Kollegen glaubt nicht an die DIS . Es gibt viele Fälle von Simulation. Siehst du, die Multiple Persönlichkeitsstörung wurde in den fünfziger Jahren dank dieses Films mit dem Titel The Three Faces of Eve bekannt. Dieser Film hatte eine starke Wirkung auf die Gesellschaft, und viele Straftäter simulierten daraufhin die Symptome, damit die psychiatrischen Gutachter DIS bei ihnen diagnostizierten und sie vor einer Haftstrafe bewahrten. Sie täuschten Amnesie oder eine dissoziative Identitätsstörung vor. Aber heute haben wir gutes klinisches Werkzeug, mit dem wir feststellen können, ob jemand nur so tut. Was die Verbreitung in der Bevölkerung angeht, gibt es keine genauen Zahlen, aber die DIS ist so selten, dass die meisten Psychiater in ihrer gesamten Berufstätigkeit nie auf einen solchen Fall treffen. Ich habe im Lauf von dreißig Jahren mehrere behandelt. Warum willst du mit mir über diesen Fall sprechen?«
»Ich werde dir einen Menschen beschreiben, nennen wir ihn Alvar.«
»Okay.«
»Er ist Priester und noch keine vierzig Jahre alt. Hat ein gewisses narzisstisches Profil, ist extrovertiert, selbstsicher. Ein Verführertyp, besteht darauf, gesiezt zu werden. Ihm ist immer warm, ihm genügt die Soutane, selbst in einer kalten Nacht auf der Straße. Überlegenheitskomplex, Oberschicht und sich dessen sehr bewusst. Erbe einer vermögenden Familie, die seit tausend Jahren eine privilegierte Stellung innehat.«
»Ich habe eine ungefähre Vorstellung.«
»Am nächsten Tag stellt derselbe Mann sich mir als Ramiro Alvar vor. Er erkennt mich nicht und erinnert sich nicht an das, was er am Tag davor getan hat. Jetzt ist er introvertiert und trägt keine Soutane mehr, dafür aber eine Brille, im Gegensatz zu Alvar. Er duzt mich. Außerdem ist er extrem schüchtern, weist keinerlei narzisstische Züge mehr auf. Vermutlich ist er hochbegabt: Universitätsabschlüsse in Geschichte, Wirtschaftswissenschaften, Jura und Psychologie. Letzteres ist sonderbar, er sagt, er hätte seine Ausbildung so gewählt, dass er sich dem Vermächtnis seiner Familie würdig erweisen kann. Ein Theologiestudium hat er nicht erwähnt. Das Familienvermögen verwaltet er gut. Überhaupt wirkt er sehr verantwortungsvoll. Ich glaube, er zieht die Gesellschaft von Büchern der von Menschen vor, aber ich ahne, dass der Grund dafür eine traumatische Erfahrung ist. Da ist eine Angst, die sich sofort im Umgang mit ihm zeigt. Auf seinem Sofa liegt ein abgegriffenes Exemplar von Marc Aurels Selbstbetrachtungen . Einen Stoiker zu lesen stellt einen krassen Gegensatz zu seinem hedonistischen Auftreten tags zuvor dar. Ramiro Alvar ist verfroren, und seine Stimme ist nicht so tief wie die von Alvar. Diesen Unterschied in der Stimme muss man mal gehört haben.« Ich sah sie an, und sie lächelte, als würde sie das nicht überraschen. »Ich hätte geschworen, dass es zwei verschiedene Menschen sind.«
»Fahr fort. Was hast du sonst noch?«
»Etwas Verwirrendes: Ramiro Alvar behauptet, der fünfundzwanzigste Señor de Nograro zu sein, während Alvar sagte, er sei der vierundzwanzigste. Außerdem vermute ich, dass Ramiro Alvar unter Agoraphobie leidet. Die wenigen Menschen, die ihn persönlich kennen, schwören, dass er das Gelände seiner Turmfestung nie verlässt.«
»Nur eine Rückfrage, ehe wir fortfahren: Bist du dir hundertprozentig sicher, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt?«
»Ja. Dieselbe Statur, derselbe Körpergeruch, identisch gezeichnete Iris, und die Ohrläppchen sind bei beiden angewachsen, eine genetisch bedingte Variation, die nicht so häufig vorkommt. Außerdem: Nachdem Alvar die Nacht durchgefeiert hatte, hatte unser Ramiro Alvar Ringe unter den Augen, war unrasiert und müde. Ich habe nur von Alvar ein Foto, von Ramiro Alvar konnte ich noch keines machen. Aber ich habe Alvars Foto vergrößert und genau betrachtet, und da ist ein Detail, das ihn verrät: Auf dem Nasenrücken ist der Abdruck der Brille zu sehen, die Ramiro Alvar trägt. Als ich den Priester Alvar kennenlernte, hatte er Ramiro Alvar gerade abgelegt, einschließlich der Brille. Dann traf ich Alvar zufällig auf der Straße und würde sagen, er hat mich erst erkannt, als ich ihm schon sehr nahe war, deshalb dachte ich sofort, dass er kurzsichtig ist.«
»Dann haben wir also Alvar, den Priester, und Ramiro Alvar, die Leseratte«, schloss die Doctora.
»Ganz genau.«
»Ramiro Alvar ist der ANP , der anscheinend normale Persönlichkeitsanteil. Alvar, der Priester, ist der EP , der emotionale Persönlichkeitsanteil. Die sind immer so: theatralisch, übertrieben. Sie sind eine Erfindung des Gehirns, das aus sehr konkreten Gründen einige sehr markante Züge ausgewählt hat. Der EP ist keine Person wie du und ich, mit zahllosen Abstufungen im Charakter. Er ist eine mit grobem Pinselstrich gezeichnete Figur.«
»Wie kannst du das wissen?«
Sie zuckte vergnügt mit den Achseln. »Der EP ist der, der den anderen missbraucht. Er zermalmt unseren Ramiro Alvar.«
»So funktioniert das? Ein vom Hirn eines Menschen mit DIS erschaffener emotionaler Persönlichkeitsanteil behandelt seinen Schöpfer schlecht?«
»Die EP s sind Abwehrmechanismen. Die Psyche von Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung ist fragmentiert. Ich spreche nicht gern von Multiplen Persönlichkeiten, ich spreche lieber von alternierenden Identitäten und behandele sie wie fragmentierte Zustände unserer Persönlichkeit, die nicht korrekt integriert sind.«
Mit einem Blick ermunterte ich sie weiterzusprechen.
»Nehmen wir ein Beispiel. Bei dir zu Hause, bei deiner Familie bist du Unai. Bei der Arbeit bist du Inspector López de Ayala und setzt andere Fähigkeiten ein. Vielleicht musst du im Umgang mit manchen Verdächtigen ein bisschen schroffer sein und verhältst dich auf eine Art und Weise, wie du es zu Hause nicht tätest. Deinen Freunden gegenüber bist du vielleicht ein Rowdy, du kehrst zu der Persönlichkeit zurück, die du in deiner Jugend hattest. Und für die Presse und die Menschen, die dich nicht kennen, bist du Kraken, und sie schreiben dir andere Charakterzüge zu, aber jedenfalls bist du ihnen gegenüber nicht der private Unai, den dein Umfeld kennt.«
Unbehaglich starrte ich in eine Pfütze.
Ich hatte noch nie viel dafür übriggehabt, am lebendigen Leib seziert zu werden.
»Normalerweise funktionieren wir alle so«, fuhr sie fort. »Wir sind die Mutter, die Freundin, die Tochter, die Geliebte, die Vorgesetzte … Und je nachdem, wen wir vor uns haben und ob wir uns in einer beruflichen, familiären, gesellschaftlichen oder intimen Situation befinden, verhalten wir uns unterschiedlich. Aber die meisten von uns haben alle ihre unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile integriert und greifen jeweils auf den Anteil zurück, den sie gerade benötigen. Jemand mit DIS hat die verschiedenen Anteile nicht integriert, und deshalb tritt die Amnesie auf. Es ist keine generelle Amnesie, sie betrifft lediglich konkrete Aspekte, zum Beispiel das, was sein EP am Vortag getan hat. Und darum finden sich bei DIS -Patienten oft ein tiefsitzendes Misstrauen und auch Paranoia. Sie trauen sich selbst nicht über den Weg, oder besser gesagt dem, was ihre EP s getan haben. Die verschiedenen Persönlichkeitsanteile halten ihre Taten voreinander geheim, von daher die Amnesie. Aus diesem Grunde sind viele dieser Menschen Einzelgänger und sondern sich ab. Sie können kein normales Leben führen, ohne enttarnt zu werden, und sie können auch nicht ganz normal einen Beruf ausüben. Es ist eine sehr behindernde psychische Störung, und die meisten daran erkrankten Menschen leben nur dafür, sie vor ihrer Umwelt zu verbergen.«
»Du hast gesagt, es seien Abwehrmechanismen – wogegen?«
»Man glaubt, dass hinter einer DIS immer ein traumatisches Erlebnis in der Kindheit oder extrem negative Lebensumstände in den ersten Lebensjahren stecken. Die Psyche fragmentiert sich angesichts eines Schocks, den sie nicht verarbeiten kann, in mehrere Persönlichkeiten: Opfer, Verfolger und Retter. Eine dieser Persönlichkeiten meidet die Erinnerung an das traumatische Erlebnis. Der oder die EP sind dagegen weiter auf das traumatische Erlebnis fixiert und führen Abwehrhandlungen aus. Es gibt einen aggressiven, einen ausweichenden und einen unterwürfigen Anteil. Man glaubt, dass sie sich untereinander hassen.«
»Denkst du, wenn ich dir den Mann bringe, kannst du eine Diagnose stellen und mir sagen, ob er simuliert? Ich muss wissen, was da vorgeht, Marina. Ich habe Indizien, aber der Richterin werden die nicht genügen. Und auch wenn alles auf ihn deutet, wäre eine professionelle Ansicht hilfreich für uns.«
»Es wäre ein sehr interessanter Fall, und wenn DIS -Patienten eine Therapie machen, ist die Prognose sehr vielversprechend. Du müsstest mit Ramiro Alvar reden. Der EP , der Priester Alvar, wird mich nicht sehen wollen.«
»Warum? Würde er nicht gesund werden wollen?«
»Du hast es noch nicht verstanden, Unai. Die EP s hecken alles Mögliche aus, um zu überleben. Alles Mögliche. Wenn er eine Therapie anfängt, ist das Ziel, dass Alvar zu existieren aufhört … und glaub mir, er wird alles tun, was in seiner Macht steht, damit das nicht passiert.«