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Das Portal Oscuro
Diago Vela · Im Jahr des Herrn 1199
, Sommer
»Ob er außerhalb der Stadtmauern eingeschlafen ist? Vielleicht in irgendeiner Scheune?«, hörte ich hinter mir.
»Vielleicht hat er Frösche im Zapardiel gefangen, darüber die Zeit vergessen und dann vor verschlossenen Toren gestanden.«
Anglesa, Pero Vicia und Sabat, der Seiler, flüsterten untereinander.
»Dann wäre er heute Morgen zurückgekommen«, sagte ich zu ihnen. »Sein Onkel hat ihm gestern sein erstes Fohlen geschenkt, und er hat sich schon darauf gefreut, es heute wieder zu reiten. Sucht weiter. Hinter jeder Hecke, in jedem Garten.«
Nach einer Nacht, die wir damit verbracht hatten, nach Yennego zu rufen, löschte ich die Fackel in einer Pfütze, denn jetzt brauchten wir sie nicht mehr. Mit dem ersten Hahnenschrei waren die Tore der Stadt geöffnet worden. Die Nachbarn, die uns geholfen hatten, vor den Stadtmauern zu suchen, gingen direkt in ihre Werkstätten oder zu ihren Verkaufsständen.
Ich suchte Nagorno. Er war innerhalb der Stadtmauern geblieben, um in den Gärten, den Werkstätten und an allen anderen Orten zu suchen, an denen sich ein so lebhafter Junge wie Yennego hätte verstecken können.
Am Lärm erkannte ich, dass etwas vor sich ging. Und die Menschenansammlung am Portal Oscuro gefiel mir gar nicht.
Mein Bruder hatte einen der Isunzas an der Kehle gepackt und drückte ihm die Spitze seines Dolchs ins Fleisch. Ein rundes
Dutzend Leute standen um sie herum, darunter die Brüder Ortiz de Zárate und die Mendozas.
»Wenn mein Neffe nicht wieder auftaucht, wird es keine Familie in der Villa de Suso oder in Nova Victoria geben, die nicht weint. Falls jemand ihn festhält, ist es Zeit, ihn zurückzugeben. Ich werde keine Fragen stellen. Aber mein Neffe muss am Leben sein«, sagte er, und ich wusste, er meinte es ernst.
Ich ging zu ihnen. Mehrere drehten sich zu mir um, viele hoben auf der Suche nach ihrer Waffe die Hand zum Gürtel.
»Lass ihn los, Nagorno. Das hilft Yennego auch nicht.«
»Natürlich hilft ihm das. Falls einer von euch sich für das, was mit Ruiz de Maturana passiert ist, gerächt hat, werde ich zu jedem Einzelnen von euch kommen, und ehe man mich fasst, werdet ihr alle sterben.«
»Lass ihn endlich los! Es reicht!«, schrie ich.
Widerwillig gab Nagorno ihn frei. Alle rannten davon, und gleich darauf war der Platz am Stadttor verlassen.
»Du bist ein Narr, Bruder. Was du getan hast, wird ihn nicht zurückbringen«, rügte ich ihn.
Nagorno war außer sich, und so sah man meinen Bruder nicht oft.
»Und was gedenkst du zu tun, hm?«, murmelte er wütend. »Willst du tatenlos zulassen, dass wir unser Fleisch und Blut verlieren?«
»Ich bin gekommen, dich zu holen. Lass uns zur Festung San Viçente gehen, die besten Männer des Statthalters nehmen und uns weiter auf die Suche nach meinem Sohn machen.«
Wir gingen durch den Cantón de Angevín und durchquerten zwei Tore, ehe wir am Portal del Sur anlangten. Dort trafen wir den Statthalter beim Satteln seines Pferdes an.
»Er ist nicht wieder aufgetaucht?«, fragte Martín Chipia, als er uns herankommen sah.
»Nein«, antwortete ich und sah durch das große Tor.
Alix war vor der Stadt geblieben und suchte weiter. Sie weigerte sich, ohne Yennego zurückzukehren.
»Diese Burschen spielen Streiche, verbringen die Nacht im Freien … er wird zurückkehren. Sicher ist er nicht sehr weit gegangen, wie ich gesehen habe, ist eines seiner Beine …«
»Yennego ist nicht gegangen, er wurde entführt«, unterbrach ich ihn. »Ich habe ein rotes Bändchen mit einem Amulett gefunden, das ihm die Ururgroßmutter seiner Mutter geschenkt hat. Er hätte es aufgehoben, um es zu flicken und ihr nicht solchen Kummer zu machen. Nein, Chipia. Ich werde Eure besten Kundschafter nehmen und nach ihm suchen. Mein Sohn befindet sich außerhalb der Mauern und wird immer weiter fortgebracht, wie ich fürchte.«
Doch in diesem Augenblick ritt einer der Wachmänner des Statthalters auf einem schweißüberströmten, völlig erschöpften Pferd durchs Portal del Sur.
»Statthalter, sie haben mehrere Festungen angegriffen!«
»Hat es bereits begonnen?«, rief Chipia. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell geht. Sprecht, welche Festungen?«
»Alle im Süden, und von Westen kommen sie auch: Puebla de Arganzón, Treviño, Salinas de Añana und Portilla.«
»In Portilla ist Statthalter Martín Ruiz. Er ist so erfahren wie stur. Was könnt Ihr mir sagen? Halten sie stand?«
»So gut es geht. Senior, da ist noch mehr …«
»Was? Sprecht!«
»Roderico sagt, unterwegs habe er einen Reiter auf einem weißen Pferd mit der Standarte der zwei Burgen gesehen. Viele Fußtruppen, Bogen- und Armbrustschützen. Nicht allzu viele Berittene. Aber ihnen folgen Wagen mit Verpflegung. Sogar ein geschlossener Wagen, sehr prachtvoll, der kann nur dem König gehören. Und er kommt mit López de Haro, dem Standartenträger von Kastilien.«
Chipia sah mich besorgt an.
»Das ist schlimmer, als die Berater von König Sancho es mir dargelegt hatten. Wenn sein Vetter Alfonso Toledo schon verlassen hat, dann kommt er nicht wegen einiger kleiner Festungen auf irgendwelchen Hügeln. Das ist ein regelrechter Feldzug. Er kommt, um den Schlüssel zur Grenze zu bezwingen: Vitoria. Ich fürchte, Vela, ich werde Euch brauchen, um diese Stadt auf einen möglichen Angriff vorzubereiten. Bis jetzt kenne ich niemanden, der entschlossener wäre als Ihr. Ich werde mich mit dem Richter und dem Henker in der Festung San Viçente treffen, aber währenddessen müsst Ihr für mich die Menschen des Bezirks außerhalb der Mauern zusammenholen. Wenn wir angegriffen werden, sind sie nicht sicher. Die Bürger sollen Platz in ihren Scheunen und Hauseingängen schaffen, um sie aufzunehmen. Und die Ernte geht zum Teufel. Ruft trotz allem die Landarbeiter. Heute sollen sie in ihren Gärten so viel wie möglich ernten und in die Stadt bringen. Fällt Euch noch etwas ein, was uns helfen kann?«
Yennego, Ihr habt vergessen, dass ganz Vitoria meinen Sohn suchen müsste, dachte ich, schwieg aber voller Gram.
»Entsendet einen Eurer Männer zum Steinbruch von Ajarte«, zwang ich mich, zu sagen. »Sie sollen Karren mit Steinen beladen und hierherbringen. Wir werden sie brauchen, wenn sie gegen unsere Mauern anstürmen. Und Mühlsteine, ihren Nutzen erkläre ich Euch später. Unsere Hütte ist frisch mit Eisen aus den Minen von Bagoeta ausgestattet. Ich werde meine Schwester bitten, ihre Männer Lanzenspitzen schmieden zu lassen. Für Rüstungen fehlen Zeit und Material. Die Lederer sollen stattdessen Brustpanzer aus Leder herstellen. Die Holzfäller sollen in die Wälder gehen und Holz für Lanzen, Pfeile und Armbrustbolzen schlagen. Und viel Feuerholz.«
»Es ist Sommer, das ist nicht nötig«, wandte Chipia ein.
»Kümmert Ihr Euch darum, Feuerholz herbeizuschaffen«, beharrte ich. »Heute soll auch sämtliches Vieh auf die Weiden
gebracht werden: Rinder, Schweine, Schafe und Ziegen, aber man soll vor dem Torschluss mit den Tieren zurückkehren. Ich weiß, jetzt ist kein guter Zeitpunkt, aber wenn Ihr mir ein halbes Dutzend Männer gebt, führen wir eine kurze Suche durch. Ich möchte in die Montes Altos …«
»Ich glaube, Ihr habt den Ernst der Lage nicht verstanden, verehrter Conde«, unterbrach er mich. »Ich werde den Befehl geben, sämtliche Stadttore zu schließen, sobald alle Bürger und Tiere in der Stadt sind sowie alles sonst, was uns in den Stand versetzt, möglichst lange durchzuhalten, bis König Sancho uns zu Hilfe kommt.«
»Dann gehen wir allein, ohne weitere Männer«, mischte Nagorno sich ein.
»Nein, ich brauche Euch beide hier. Ich bin des Königs Mann in dieser Stadt, und wenn Ihr sie verlasst, im Angesicht der Gefahr, die vor den Toren lauert, werde ich Euch als Verräter gegen die Krone betrachten.«
»Gebt uns bis zum Angelusläuten, ich verspreche, vorher zurück zu sein. Ich verspreche es«, beharrte ich.
»Ich weiß, Ihr seid ein Ehrenmann, aber ich wäre kein guter Statthalter, wenn ich Euch jetzt gehen ließe.« Er wandte sich an die Torwache. »Schließt das Tor, jetzt sofort! Und dann steigt auf den Wehrgang. Lasst nur Bürger passieren, die Schutz für sich selbst und ihre Tiere suchen.«
»Wartet, nicht schließen!«, schrie jemand.
Die Stimme gehörte Alix. Sie stieg den Hügel, auf dem der Markt der Obsthändlerinnen stattfand, herauf, das Kleid gerafft. Von ihrer Haube war nichts zu sehen, und das Haar klebte ihr im schweißnassen Gesicht.
Ich rannte ihr entgegen. Sie atmete schwer.
»Yennego?«, flüsterte ich.
»Ich habe nichts gefunden, Diago. Nichts.«
Der Statthalter trat zu uns.
»Ich weiß von Eurem Unglück, aber Ihr müsst hereinkommen, das Heer von …«, setzte Chipia zu einer Erklärung an.
»Deshalb bin ich zurückgekommen. Ich habe es gesehen. Auf dem Weg von Ibida erhob sich Staub, aber das war nicht der Wind … Hunderte von Soldaten nähern sich. Wir sind in der Stadt gefangen.«