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Der alte Hörsaal
Unai · Oktober 2019
Alles begann mit Estíbaliz’ Anruf am Nachmittag. Sie klang besorgt.
»Unai, bitte komm zu mir. Ich glaube, ich muss dir etwas zeigen. Vorher musst du in meine Wohnung, Alba hat die Schlüssel. Bring mir das mit, was du im Kleiderschrank in meinem Schlafzimmer unter den Winterpullovern findest.«
Nachdem ich bei ihr gewesen war und mir angehört hatte, was sie mir erklärte, rief ich Doctora Leiva an und verabredete mich mit ihr für den folgenden Vormittag, diesmal außerhalb des Schwimmbads. Marina erwartete mich in einem leeren Hörsaal der Polizeischule in Arkaute. Trotz ihrer gut sechzig Jahre trug sie immer Sneakers und taillierte Kleider.
»Wie lange war ich nicht mehr in diesen Hörsälen«, sagte ich und sah mich um. Seit ich meine Ausbildung beendet hatte, hatte sich hier nur wenig verändert. Dieselben alten Holzpulte, dieselben kahlen Wände, damit nichts vom Unterricht ablenkte. Große Fenster, durch die reichlich Licht hereinfiel.
»Mit der Zeit findet man Gefallen an der Lehrtätigkeit. Du solltest es ausprobieren, es ist sehr befriedigend. Wobei mir der Hörsaal lieber ist, wenn er voll ist. Dann ist hier eine andere Energie«, bemerkte sie und sah sich um. »Junge Leute, die alles aufsaugen, was du ihnen erzählst, die sich begierig die Richtlinien aneignen, die du ihnen erklärst, um damit Verbrecher fassen zu können.«
»So war ich auch mal. Impulsiv. Hungrig. Da war ich noch nicht auf der Straße gewesen. Ich vermute, die Straße ist das, was einen verändert und dazu bringt, den Beruf zu verabscheuen.«
»Du verabscheust deinen Beruf?«
»Ach, das war nur so dahingesagt«, gestand ich ein.
Verabscheue ich ihn?, fragte ich mich im Stillen verwirrt.
»Ich habe dir zwei Dokumente mitgebracht«, sagte ich dann und zwang mich, das Thema zu wechseln. »Ich brauche deine Hilfe.«
»Dokumente? Und wobei genau brauchst du mich?«
»Ich weiß, dass du als Schriftsachverständige bei einigen Verfahren wegen Testamentsfälschung mitgewirkt hast.«
»Stimmt.«
»Und du hast forensische Schriftvergleichung gelehrt …«
Sie sah mich schief an und schob die rote Halbbrille auf die Nasenspitze.
»Na los, gib mir diese Papiere. Warum hast du sie mir mitgebracht?«
Ich reichte ihr zwei Blatt Papier in Klarsichthülle und ein Paar Handschuhe, allerdings waren sie in meiner Größe, XL , zu groß für ihre kleinen Finger.
»Ramiro und Alvar. Alvar und Ramiro. Schreiben Briefe. An Inspectora Ruiz de Gauna. Gestern rief sie mich an, und ich habe sie im Krankenhaus besucht. Seit dem Sturz scheint Alvar verschwunden zu sein. Du weißt ja, ich habe sie miteinander konfrontiert. Alvar wurde durch Estíbaliz’ Gegenwart nicht aktiviert. Ramiro Alvar hat sie nicht erkannt. Er hat sich entschuldigt und ihr seine psychische Störung eingestanden.«
»Das ist sehr gut«, unterbrach sie mich. »Ein großer Schritt in Richtung Heilung.«
»Ganz deiner Meinung. Kurz darauf erhielt Estíbaliz diesen Brief. Ramiro Alvar hatte eine Krankenschwester mit seinem hübschen Gesicht und seinen guten Manieren eingewickelt, so dass sie ihr den Brief da zukommen ließ.«
Marina las aufmerksam und konzentriert. Eine senkrechte Falte zwischen den Augenbrauen teilte ihre Stirn in zwei Hälften.
»Und?«, fragte sie, als sie fertig war.
»Meine Kollegin bat mich, zu ihr nach Hause zu fahren und ihr die Briefe zu holen, die Alvar ihr geschrieben hat. Handschriftliche Liebesbriefe, die er ihr persönlich gab. Sieh dir den Absender an.«
»Alvar de Nograro, 25 . Herr des Hauses Nograro«, las sie vor.
»Hübsche Schrift, oder? Ganz anders als die von Ramiro Alvar. Ohne Experte darin zu sein, ebenso wenig wie Estíbaliz, besteht zwischen den beiden Schriften ein …«
»… himmelweiter Unterschied«, beendete sie meinen Satz, ganz vertieft in den anderen Brief, den ich ihr gerade gereicht hatte.
Dann legte sie die beiden Briefe nebeneinander auf den Dozententisch. Nachdem sie sie eine gute Weile verglichen hatte, wandte sie sich wieder mir zu.
»Das ist mehr, als ich erwartet hätte«, sagte sie schließlich.
»Was meinst du?«
»Sieh dir Ramiro Alvars Schrift an. Diese unverbundenen Buchstaben deuten auf Vereinsamung und Introversion hin. Aber das Auffälligste ist der Grad der Schrägstellung: Eine Linksneigung von etwa fünfundsechzig Prozent ist sehr unüblich. Das geht schon auf die negative Ebene. Da ist ein Kampf um die Selbstbeherrschung. Eine Unterdrückung des Ich, hinter der sich Angst und Hemmungen verbergen. Und es ist eine Schrift, die auf einen sehr sensiblen Menschen hindeutet.«
»Was kannst du mir über Alvar sagen?«, fragte ich und deutete auf seinen Brief.
»Dies ist ein Mann, der von sich überzeugt ist, eine überlegene, reife Psyche. Er umgibt sich mit Kunst, mit Schönheit. Ein Hedonist, jemand, der das Leben in vollen Zügen genießt. Der andere ist ein Asket, seinen Buchstaben fehlen die Schleifen, sie sind fast martialisch. Andererseits hat Alvar einen großen Konflikt mit dem Tod seines Vaters, seiner Mutter oder mit beiden. Irgendein ungelöster Konflikt. Achte auf die sehr hohe Schleife bei seinem großen D. Das ist ein Zeichen von Verwaisung. Ramiro Alvar verrät nichts dergleichen. Sein großes D ist sehr ausgeglichen.«
Ich hörte schweigend zu. Es war unübersehbar, dass Marina fasziniert war.
»Ich habe dir die Briefe gezeigt, damit du mir sagst, ob Alvar sich womöglich hinter dem bettlägerigen Ramiro Alvar verbirgt und Estíbaliz weiter den Hof macht, weil er sie nicht verlieren will. Kurz, weil ich wissen wollte, ob dieser letzte Brief von Alvar ist, der so tut, als wäre er Ramiro Alvar.«
»Nein, auf keinen Fall. Das sind zwei verschiedene Personen. In Ramiro Alvars Brief ist keine Spur von Heuchelei. Kein einziges Anzeichen dafür, dass der Schreiber etwas vortäuscht. So etwas kann man normalerweise am Ende des letzten Wortes in einem Satz erkennen, oder am berühmten Fälscherzöpfchen, einer leichten Zittrigkeit im letzten Abschnitt der Unterschrift. Das ist hier nicht der Fall. Diese Schrift ist von Anfang bis Ende Ausdruck der Psyche des Individuums, das den Brief geschrieben hat. Mir lagen ähnliche Dokumente in anderen berühmten Fällen von dissoziativen Störungen vor, aber das hier …«
»Was? Was ist, Marina?«
»Das hier geht weit über eine Psyche mit zwei Persönlichkeitsanteilen hinaus. Diese Briefe wurden von zwei verschiedenen Personen geschrieben, Unai. Ich will dir eine Frage stellen, die dich vielleicht ein bisschen aus dem Konzept bringt, aber kannst du mir hundertprozentig versichern, dass Alvar Nograro tot ist?«
»Seit Jahren.«
»Hast du das überprüft? Gibt es ein Grab? Und falls ja, sind es seine Überreste, die dort ruhen? Wurde er verbrannt? …«
»Moment mal eben, bitte«, bremste ich sie. »Nein, ich weiß es nicht. Wir können bei Gericht nicht die Exhumierung der Überreste sämtlicher Toter in der Familiengeschichte unseres Verdächtigen beantragen. Die Bewohner von Ugarte haben auch erzählt, Alvar sei in die Turmfestung zurückgekehrt, als er schon schwerkrank war, und nach kurzer Zeit gestorben. Allerdings habe ich dir ja schon gesagt, dass niemand bei seiner Beerdigung war.«
»Ja, ich erinnere mich. Und das ist eigenartig in einem kleinen Dorf, findest du nicht? War Alvar nicht ein gutaussehender, charmanter Priester?«
»Ich weiß nicht, vielleicht eben deshalb.«
»Du musst zurück zu Ramiro Alvar, dem ANP . Du musst mit ihm an den Punkt gelangen, an dem seine Psyche sich aufgespalten hat. Zu dem Trauma, das Alvar erzeugt hat, falls wir es nicht mit einer grandiosen Simulation zu tun haben und er uns alle täuscht. Oder sie.«
»Sie?«
»Beide. Diese Briefe sind einfach so verschieden, dass ich nicht weiß, was ich glauben soll. Da sind keinerlei Gemeinsamkeiten, nichts. Sie drücken sogar den Stift unterschiedlich fest aufs Papier.«
»Ramiro Alvar erholt sich von seinem Sturz und seinen Verletzungen«, rief ich ihr in Erinnerung. »Das könnte sich doch auf die Kraft in seiner Hand ausgewirkt haben.«
»Unai, du musst ihn ein für alle Mal zur Rede stellen. Er muss dir alles erzählen. Das hier leuchtet mir überhaupt nicht ein.« Sie sah auf die Uhr.
Die ersten Studierenden kamen in den Hörsaal. Marina gab mir die beiden Briefe zurück und zog die Handschuhe aus.
»Eine letzte Frage«, sagte sie leise. »Deine Anwesenheit in der Polizeischule ist nicht unbemerkt geblieben. Du weißt, dass du eine Legende bist und man dich sehr schätzt. Der Direktor hat mich gebeten, dich zu fragen, ob du einen Vortrag über die Praxis der operativen Fallanalyse halten würdest. Den Studierenden würden deine Erfahrungen sehr weiterhelfen. Was sagst du?«
Ihr Ansinnen überrumpelte mich ehrlich gesagt.
»Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Du weißt ja, wie beschäftigt ich im Moment bin«, entschuldigte ich mich.
»Versprich mir bloß, dass du darüber nachdenkst.«
In diesem Moment unterbrach uns das Klingeln meines Telefons.
Ich verabschiedete mich mit einem Blick von Marina und holte mein Handy hervor.
Es war Milán, die ebenfalls einen arbeitsreichen Vormittag gehabt hatte.
»Warst du bei der Gemeindeverwaltung Quejana?«, fragte ich sie.
»Ja. Es hat ein bisschen gedauert, aber ich habe eine Liste mit allen, die in den letzten Jahren im Kloster gearbeitet haben, inklusive Museum, Gärten und Parkplatz. Keiner der Namen sagt mir etwas. Ich leite sie dir weiter.«
»Sehr gut. Hast du mit Doctora Guevara gesprochen?«
»Sie hat die Überreste ans forensische Institut geschickt. Die werden da DNA -Tests machen. Was sie entdeckt hat, ist sehr interessant, Kraken.«
»Unai«, berichtigte ich sie. Ich wollte, dass diejenigen, die mir nahestanden, mich wie einen Menschen behandelten und nicht wie einen verfluchten Mythos.
»Unai«, wiederholte sie. »Ich sagte ja, dass Guevaras vorläufige Untersuchung mehr als eine Überraschung erbracht hat.«
»Und zwar?«
»Genauso, wie wir vermutet haben, sind es drei vollständige Skelette: zwei Frauen, ein Mann. Aber das Seltsame ist, dass eines der Frauenskelette sehr viel jünger ist. Möglicherweise ist diese Leiche unter freiem Himmel verwest und erst später in das Grab gebracht worden.«
»Wir haben also den Canciller, seine Frau und einen zeitgenössischen weiblichen Eindringling.«
»Für Mutmaßungen ist es zu früh. Und die Analysen werden Wochen dauern.«
»Hast du über das alles mit Alba gesprochen?«
»Man wird eine separate Ermittlung eröffnen. Dieser Fund hat nichts mit unserem Fall zu tun. Hausfriedensbruch und Körperverletzung. Mutmaßliche Grabschändung, vielleicht auch bloß ein Akt von Vandalismus. Der Bischof wird Anzeige erstatten und die Gemeindeverwaltung Quejana auch. Bis jetzt bleiben die vom kulturellen Erbe außen vor, es sei denn, es stellte sich heraus, dass doch etwas entwendet wurde. Mehr Arbeit für alle, und uns fehlt Estíbaliz.«
»Dann schick die Spurensicherung nach Quejana«, bat ich sie. »Mal sehen, ob die Kollegen irgendwelche Fingerabdrücke oder Reifenspuren finden können. Der Täter ist nicht zu Fuß gekommen.«
»Wenn sie uns eine Marke nennen können, können wir damit in den Datenbanken nach jemandem suchen, der wegen Diebstahl von kulturellem Erbe vorbestraft ist.«
»Wir werden nichts finden«, sagte ich. »Das war kein Profi. Er ist nicht vorbestraft, er hat das noch nie getan. Und er wollte nichts stehlen. Er wollte zum Grabmal. Der Priester hat ihn überrascht, er hat ihn auf der Treppe gehört. Nachts und bei der Stille, die dort herrscht, tragen Geräusche ungehindert von der Treppe bis in die Kapelle. Der Einbrecher hat das, was er da tat, abgebrochen, ist herausgekommen und hat den Priester weggestoßen. Er wollte ihn nicht töten, er ist nicht gewalttätig. Es wäre ja ganz einfach gewesen, ihn zu erledigen, als er am Boden lag, es ist ein alter Mann. Auch hatte er keine Waffe bei sich. Sonst hätte er sie eingesetzt. Er hat ihn einfach geschubst.«
Milán ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Ich stellte sie mir vor, wie sie sich auf irgendeinem Post-it, das sie aus den Tiefen ihres voluminösen Dufflecoats zutage gefördert hatte, Notizen machte.
»Wenn es kein Dieb und kein Gewalttäter ist, was haben wir dann?«, fragte sie schließlich.
»Jemanden, der etwas in diesem Grab gesucht hat. Jemanden, der zurückgekommen ist. Der schon einmal dort war und die Grabplatte bewegt hat. Jemanden, der zweimal Zugang zu den Schlüsseln hatte, sowohl beim ersten Mal vor über einem Jahr als auch jetzt, nachdem der Priester selbst das Schloss ausgetauscht hatte. Jemanden, der keinen Diebstahl vortäuschen wollte, denn dann hätte er die Tür aufgebrochen. Er wollte bloß zu diesem Grab, die Knochen stehlen oder was auch immer und wieder verschwinden, ohne dass ihn jemand sieht.«
»Oder vielleicht war es auch nur ein Streich, der ihm aus der Hand geglitten ist«, gab Milán skeptisch zurück. »Und vielleicht finden wir den Täter nie. Jedenfalls muss man priorisieren, und wir haben vier Leichen auf dem Obduktionstisch.«
»Ich weiß, ich weiß. Dieses Rätsel ist von untergeordneter Bedeutung.«
»Es gibt noch eine Neuigkeit, Kra … Unai. Du hattest recht, was die Gegenstände angeht, die man am Schauplatz des Mordes an MatuSalem gefunden hat. Die Kriminaltechnik hat den gesamten Müll untersucht, der auf dem Rasen am Fluss gefunden wurde: eine leere Getränkedose, eine leere Sonnenblumenkerntüte, rund fünfzig leere Sonnenblumenkernschalen, eine Eisverpackung … Und ein sehr spitzer Bleistift Nummer HB . Daran haftet genetisches Material. An der Spitze. Sie haben Blut an der Bleistiftspitze gefunden.«
»Verdammtes Genie!«, entfuhr es mir. Gesegnet sei MatuSalem.
»Wie meinst du das?«
»MatuSalem war im Gefängnis. Nur jemand, der im Gefängnis war, sieht in einem angespitzten Bleistift eine Waffe«, erklärte ich ihr. »Und er hatte einen dabei. Matu hatte immer einen Bleistift dabei, damit er sich auf Papier notieren konnte, wovon er nicht wollte, dass es nachverfolgt werden kann. Was übers Internet ging, dem traute er nicht. Er war paranoid, als guter Hacker, der er war. Wenn er sicher sein wollte, dass etwas nicht untersucht wird, benutzte er die analoge Welt. Also haben wir jetzt ein DNA -Profil des Mörders.«
Ich verließ das Gelände der Polizeischule. Eine Weile verlor ich mich in meinen labyrinthischen Gedanken, während ich ziellos über Wege ging, die ich einst regelmäßig benutzt hatte. Endlich eine handfeste Spur, endlich ein Ariadnefaden, an dem man ziehen konnte.
Danke, Maturana, betete ich stumm zu ihm. Jetzt bin ich näher daran, deinen Tod zu rächen.