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Der alte Friedhof
Unai · Oktober 2019
»Danke, dass du mich noch einmal nach Hause fährst«, murmelte Ramiro Alvar, der neben mir auf dem Beifahrersitz saß.
»Mache ich gerne«, antwortete ich und parkte am Graben. »Bei langen Krankenhausaufenthalten tut es gut, hin und wieder da rauszukommen, auch wenn es nur für ein paar Stunden ist. Hinterher bringe ich dich zurück in dein Zimmer. Wie geht es dir?«
»Ehrlich gesagt kann ich es kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen. Obwohl ich noch wochenlang im Krankenhaus bleiben muss. Die Genesung geht sehr langsam voran. Ich dachte, ihr würdet mich festnehmen, und ich käme vom Krankenhaus aus direkt in Untersuchungshaft. Jetzt bin ich froh, dass ich nicht mehr bewacht werde, zwei Polizisten vor der Tür, das ist sehr beängstigend.«
»Es gibt keine Beweise dafür, dass du die Inspectora von der Treppe geworfen hast«, sagte ich, aber unwillkürlich umklammerte ich das Lenkrad fester.
»Du weißt, was ich meine.«
»Sag du es mir, damit es keine Missverständnisse gibt.«
»Ich meine, dass nicht einmal ich selbst sicher sagen kann, ob es nicht mein EP war, der das getan hat.« Er schob die Brille hoch, während er zugleich zuließ, dass ihm eine blonde Strähne in die Augen fiel.
»Du hast ja eine sehr schlechte Meinung von deinem EP
»Wenn du wüsstest …«
»Genau deshalb bin ich mit dir hierhergefahren. Weil ich es wissen will, weil du es mir endlich erzählen sollst. Gehen wir.« Ich öffnete die Beifahrertür, holte seinen Rollstuhl aus dem Kofferraum, hob Ramiro Alvar hoch und setzte ihn hinein.
»Wohin gehen wir?«, fragte er, während ich den Rollstuhl schob.
Zum Friedhof der Nograros, dachte ich. »Das siehst du gleich.«
Ich lenkte meine Schritte zu der kleinen Familienkapelle, an deren Seitenwand sich ein kleines eingezäuntes Gelände befand. Dorthin wollte ich. Ein schmiedeeisernes Tor verwehrte uns den Zugang.
»Du kannst es einfach aufschieben, es ist nicht abgeschlossen«, sagte Ramiro Alvar angespannt.
Der Efeu an der Friedhofsmauer sah nicht sonderlich gesund aus, und die Rinde der Zypressen am Eingang schien geschwächt. Der Friedhof wirkte vernachlässigt, ein wenig befremdlich bei einer Familie, der ihre Vorfahren so wichtig waren.
Vor ein paar Grabsteinen blieben wir stehen. Auf allen stand der Name Alvar.
Verstohlen sah ich zu Ramiro Alvar neben mir. Er schluckte.
»Du weißt, welches Grab wir hier besuchen, oder?«
»Warum tust du mir das an, Unai?«, fragte er in flehentlichem Ton. Er wollte seinen Rollstuhl zurück zum Friedhofstor lenken, doch ich hinderte ihn daran.
»Weil ich mich schon zu tief in diese Ermittlung habe hineinziehen lassen und das Gesamtbild sehen muss. Du zeigst mir nur Fragmente. Wenn ich nur ein paar Fragmente kenne, kann ich dich nicht verstehen. Estíbaliz kennt andere Fragmente. Und da sind wir nun und stecken fest. Nicht mal du weißt, ob du der Schuldige bist. Wir werden das Puzzle jetzt zusammensetzen, Ramiro. Welches ist das Grab deines Bruders?«
Ramiro Alvar rieb sich die Arme. Nicht verwunderlich zwar auf diesem feuchten, düsteren Friedhof, doch ich glaubte, dass sein Frösteln andere Ursachen hatte.
»Das da, das linke.« Er deutete darauf.
Ich schob ihn ein bisschen näher heran, bis sein Rollstuhl vor dem Grabstein stand.
»Alvar Nograro, 24 . Herr von Nograro. 19691999 .« Es war das jüngste Grab, aber der Grabstein war geborsten. Jemand hatte mit einem schweren Gegenstand daraufgeschlagen, und der Granit hatte Risse bekommen. Komisch, dass Ramiro Alvar den Grabstein seines eigenen Bruders nicht hatte austauschen oder reparieren lassen.
»Ist es leer?«, fragte ich.
»Wie kommst du denn darauf? Um Gottes willen, nein!«, erwiderte er entsetzt. »Er starb und wurde hier begraben.«
»Warst du dabei?«
»Ja, ich habe mich um die Beerdigung und alle Formalitäten gekümmert.«
»Und warum war niemand aus dem Dorf dabei? Warum warst du allein?«
»Weil er ein schlechter Mensch war! Weil er alle Familien in Ugarte entzweit hatte. Weil keiner aus dem Dorf bei der Beerdigung die anderen treffen wollte.«
»Hat er dich schlecht behandelt?«, drang ich in ihn.
»In seinem letzten Lebensjahr, nachdem unsere Eltern gestorben waren, ja. Ich denke schon. Ein echter Kretin.«
»Aber so war er nicht immer gewesen, oder?«
»Bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr war er mein bester Freund, obwohl er mein großer Bruder und schon fünfundzwanzig Jahre alt war. Er war mein Vorbild, mein Idol. Dann ging er aufs Priesterseminar, und als er zurückkam, war er ein anderer.«
»Was glaubst du, was ihn verändert hat? Dein Vater? Etwas, was er gesehen hatte?«
»Nein, Unai. Es war nicht mein Vater.«
»Wer dann?«
»Und wenn ich mich nicht daran erinnern möchte?«, schrie er mich an. Das war das erste Mal, dass er ausfällig wurde, und der Kontrast zu seiner normalen Stimme, die immer so gemessen war, versetzte mich in Alarmbereitschaft.
»Du wirst dich daran erinnern müssen, wenn du aus diesem Schlamassel rauswillst«, erwiderte ich nachdrücklich.
»Du kannst mich nicht dazu zwingen, mich zu erinnern.«
»Hör zu, Ramiro Alvar, denn langsam verliere ich die Geduld.« Ich beugte mich zu ihm hinab. »Menschen sterben wegen eines Buchs, das du geschrieben hast, um dich von einer psychischen Krankheit zu heilen, die du vielleicht nur falsch diagnostiziert hast. Und meine Kollegin wäre fast in diesem Turm ums Leben gekommen, aber sie hält dich immer noch für unschuldig. Du wirst dich ein bisschen anstrengen müssen, du musst endlich aufmachen und dich deiner Vergangenheit stellen. Was ist Alvar passiert? Was war so schlimm, dass du einen EP für dich erfunden hast und ihn dann töten wolltest?«
Mit bebendem Kinn streckte Ramiro Alvar einen Finger aus und wischte den Staub vom Namen seines Bruders.
»Es begann, wie vermutlich alle Geschichten beginnen, wenn man jung ist. Es begann der Liebe wegen.«