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Verstärkung
Diago Vela · Im Jahr des Herrn 1199 , Sommer
»Na schön, Alix. Ich habe einen Plan. Sprich mit allen Tuchhändlern.« Wir gingen hinunter auf den Platz, und dort zeichnete ich ihr mit einem Stock ein Bild in die Erde.
Alix beleuchtete es mit der Fackel, bückte sich und nickte.
»Drei Ellen genügen. Sie sollen alles stehen und liegen lassen, alle Männer und Frauen der Stadt, die du dafür gewinnen kannst, sollen in den Werkstätten nähen. Unermüdlich.«
»Und du glaubst, das wird diese gewaltigen Bauwerke aufhalten?«
»Nein, aber wir müssen es versuchen.«
Ich ging zum Haus des Metzgers und betätigte ungestüm den Klopfer, bis er an die Tür kam, noch im Nachthemd, das kaum seine behaarten Beine bedeckte.
»Schlachte ein halbes Dutzend Schweine, die strammsten.«
Ich glaube, das machte ihn sofort wach.
»Wäre es nicht vernünftiger, damit noch zu warten?«
»Sie werden nie so viel Fett haben wie jetzt. Ihr Metzger müsst mir sämtlichen Speck bringen, den ihr zusammenbekommt. Wir brauchen ihn noch heute. Wir haben reichlich Salzvorräte, also pökelt das Fleisch und lagert es ein.«
Ich ging zurück auf den Platz. Mittlerweile war die halbe Stadt auf den Wehrgang gestiegen und blickte zwischen den Zinnen hindurch. Auch ich stieg über die Holztreppe zum Turm hinauf.
Die Fackeln kennzeichneten den Weg. Ein Heer, diesmal wesentlich vielköpfiger, näherte sich der Stadt.
Ich suchte auf den Straßen nach Chipia und entdeckte ihn am Portal del Norte. Er gab den Bogenschützen, welche die Körbe zu ihren Füßen mit Pfeilen füllten, Befehle. Ich rannte zu ihm.
»Was glaubt Ihr, wie viele es sind?«
»Mindestens dreitausend«, antwortete er besorgt. Ich sah keine Spur des ironischen Lächelns, das seine Worte sonst immer begleitete. »Und es sind nicht unsere Soldaten, verdammt sei der Allerhöchste. Ich habe die Standarten des Ordens von Calatrava und des Santiago-Ordens gesehen, machtvolle Verbündete hat Alfonso VIII . Und sie kommen mit drei von Ochsen gezogenen Belagerungstürmen. Drei robuste Türme und anderes Gerät. Der Angriff steht unmittelbar bevor. Sie werden ausnutzen, dass unsere Hilfstruppen aus Pamplona noch nicht eingetroffen sind. Die Mauer wird standhalten, sie ist gut verstärkt. Übrigens muss ich Euch zu der Entscheidung beglückwünschen, heißen Sand anstelle von Öl zu verwenden.«
»Öl ist sehr teuer, und wir haben nicht viel davon. Vielleicht brauchen wir es später noch. Ein so wertvolles Hilfsmittel werde ich nicht vergeuden.«
»Jeder andere hätte es getan, sobald er sich angegriffen sah.«
»Ich denke nicht an heute, ich denke nicht an das, was innerhalb eines Monats geschehen wird. Ich stelle mir den schlimmsten Fall vor, und wenn sie uns über lange Monate hinweg belagern, gibt es für Öl mehr Verwendung als für Sand. Und solange hier Häuser aus Stein stehen und Mäuerchen zwischen Gärten und Straßen, besteht die Möglichkeit, Stein zu Sand zu zermahlen und in der Schmiede zu erhitzen. Jetzt lasse ich Euch allein. Ich muss mit meinen Geschwistern reden.«
Ich ließ ihn stehen und lief zur Eisenhütte, wo ich Lyra und Nagorno beim Verteilen von Waffen antraf. Nagorno holte Körbe mit Bolzen für die Armbrustschützen von Nova Victoria.
»Lyra, du musst für mich größere Pfeile als diese herstellen. Dicker und länger. Sie müssen mehr Gewicht tragen können. Eigentlich müsste man auch einen Metallring daran anbringen, aber dafür ist jetzt keine Zeit. Schick einen der Hüttenmeister zu den Seilern. Sie sollen uns Schnüre bringen.«
Ich erklärte ihnen mit wenigen Worten meinen Plan, und sie nickten beide.
»Dafür ist eine hohe Treffsicherheit vonnöten. Nur du und ich werden die nötige Ruhe bewahren können«, murmelte Nagorno.
»Ich weiß«, erwiderte ich. »Wir werden es ja auch tun. Ich werde nicht einmal Chipia von dem Plan erzählen, womöglich billigt er ihn nicht und würde uns davon abhalten. Er hofft weiter auf eine Hilfe, die nicht kommt. Und diese falsche Hoffnung wird die Stadt entvölkern.«
Ich hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da fielen die ersten Steine auf die Dächer. Man hörte Schreie und das Krachen von Holz, das unter der Wucht der Steinwürfe brach.
Alle drei liefen wir auf die Straße.
»Lyra, mach mir sofort diese Pfeile!«, rief ich.
Mit ihrem Wurfgerät schleuderten sie nicht nur große Steine, sondern die Angreifer ließen jetzt auch brennende Strohkugeln auf die Dächer herabregnen. Im Nu herrschten tumultuöse Zustände. Die Straßen füllten sich mit schwarzem Rauch und Trümmern.
»Alle in Deckung!«, schrie jemand. »Nach Santa María!«
Dann kamen die Pfeile, und diesmal rannte niemand los, sie einzusammeln. Ich sah ein kleines Mädchen, eine der Töchter der Totenwächterin, und rannte ihr hinterher. Sie konnte keine fünf Sommer alt sein. Fast hatte ich sie erreicht, da kam mir ein Pfeil zuvor und traf sie in den Rücken. Als ich mich über sie beugte, regte sie sich schon nicht mehr. Ich hob ihre Leiche auf, legte sie in den nächsten Hauseingang, den ich offen vorfand, und nahm mir vor, nach dem Angriff zurückzukommen, damit sie ein christliches Begräbnis erhielt.
Wird es ein Danach geben?, fragte ich mich.
Sie konnten uns auslöschen. Sie konnten so lange Feuer, Steine und Pfeile auf uns herabregnen lassen, bis nicht einmal die Fundamente übrig bleiben würden. Sie konnten den Ort neu besiedeln. In zwei Generationen würde sich niemand mehr an uns erinnern.
Ich rannte zur Werkstatt der Tuchhändler.
»Haben sie Euch den Speck gebracht?«, fragte ich.
»Sie sind noch dabei, die Schweine zu schlachten, wie Ihr befohlen habt, aber sie bringen uns schon einmal den frischen Speck, der zum Verkauf bestimmt war.«
»Dann breitet die Tücher auf dem Boden aus und reibt sie mit dem Fett ein. Ich komme sie bald holen, ich glaube nicht, dass wir noch lange standhalten.«
In der Nähe waren Aufschläge zu hören. Mit den Katapulten warfen sie riesige Steine gegen die Mauer. Diese Wurfgeräte waren nicht sehr genau, aber ein erfahrener Soldat wusste sie dort hinzustellen, wo sie größtmöglichen Schaden anrichten konnten.
Ich beobachtete den Wehrgang. Chipia hatte die Bogen- und Armbrustschützen geschickt zwischen den Zinnen verteilt. Ich betrat jedes brennende Haus und vergewisserte mich, dass ich keine Schreie hörte und niemand dort festsaß.
Nachdem ich in mehrere Feuerhöllen vorgedrungen war und mich an einem brennenden Balken verbrannt hatte, der mir tückisch auf den Arm gefallen war, hörte ich Stimmen, die nach mir riefen.
»Conde Don Vela, Eure Geschwister suchen Euch! Sie warten in der Eisenhütte, und Ihr sollt die Tücher mitbringen.«
Eine gute Weile später stiegen Nagorno und ich westlich vom Portal del Norte auf den Wehrgang. Vor uns rückte einer der drei Belagerungstürme vor. Er hatte mehrere Stockwerke. Die Ochsen hatten ihn bis zum ersten Graben gezogen, aber eine Gruppe Soldaten war bereits dabei, den Graben mit zusammengebundenen Ast- und Rutenbündeln aufzufüllen, damit der Turm bis zur Mauer vorrücken konnte.
Falls es den Soldaten darin gelang, die Zinnen zu erklimmen und in die Stadt vorzudringen, würden wir gegen das Heer von dreitausend Soldaten nichts ausrichten können.
Mein Bruder und ich trugen jeder einen langen Bogen aus Eibenholz, wie sie die Bogenschützen der Angeln verwendeten, und einen robusten Pfeil, an dem mit einer Schnur eine Ecke eines gewaltigen Leinentuchs befestigt war.
Nagorno schnupperte wie ein Wildschwein.
»Es weht Wind von Süden. Das wird ein großartiges Schauspiel«, murmelte er mit seiner rauen Stimme.
Wir stellten uns einige Ellen auseinander. Das große, mit Schweinespeck eingeriebene Tuch wog das Seine. Mit dem verbrannten Arm zog ich die Schnur straff, zielte und konzentrierte mich. Lehnte mich nach hinten.
»Zielen!«, rief ich meinem Bruder zu, hielt den Atem an und stieß die Luft aus. »Los!«
Beide Pfeile lösten sich gleichzeitig von den Bögen und bohrten sich ganz oben in den Belagerungsturm. Das Tuch sank herab und schmiegte sich ans Holz.
Lyra reichte mir einen Pfeil mit brennender Spitze. Andere Hüttenarbeiter taten dasselbe bei den übrigen vier Bogenschützen, die uns begleiteten.
»Zielen!«, befahl ich. »Los!«
Sämtliche brennenden Pfeile bohrten sich ins Tuch, und das Fett fing Feuer. Blaurote Flammen verzehrten den Belagerungsturm, und die Soldaten, die sich darin verbargen, sprangen, schreiend und in Flammen gehüllt, zu Boden. Der Wind wehte, als wäre er unser Verbündeter, und fachte das Feuer noch an. Bald stürzte der Turm in sich zusammen.
Einige unserer Männer stießen Freudenschreie aus, doch Lyra, Nagorno und ich rannten die Treppe hinab. Der zweite Belagerungsturm rückte uns über den Außenbezirk der Messerschmiede zu Leibe.
Erneut erklommen wir den Wehrgang, und die Tuchhändler schleppten ein weiteres riesiges, mit Speck eingeriebenes Leinentuch auf ihren Schultern durch die Rúa de la Astería, das ihnen zugleich als Schutz vor den gegnerischen Pfeilen diente. Unterwegs sah ich Leichen, doch wir gingen so schnell, dass ich niemanden erkennen konnte. Da waren versengte Hauben, und unter Trümmern ragten reglose, rußgeschwärzte Beine hervor.
Der zweite Belagerungsturm wurde nicht vollständig zerstört. Die Soldaten waren gewarnt und sprangen zu Boden, sobald wir die großen Pfeile mit dem Tuch abschossen. Vom Boden aus zogen sie am Tuch, und wir konnten mehrere Pfeile hineinbohren, ehe es sich vollständig löste, aber es gelang uns nur, den Fuß des Turms in Brand zu stecken.
»Das genügt!«, schrie Nagorno mir zu. »Nehmen wir uns den dritten vor!«
»Ja, gehen wir, aber sie werden ihn ausbessern, wir haben ihn nicht vollständig zerstört«, sagte ich.
Der dritte Belagerungsturm bedrohte die Stadtmauer von Nova Victoria in Höhe des Portal Oscuro. Hier war der Turm fast an der Mauer angekommen. Einige Soldaten schoben mit Seilen gesicherte Bretter zwischen die Zinnen zum Wehrgang.
Mendoza und mehrere seiner Männer schossen unermüdlich mit ihren Armbrüsten. Eines der Bretter fiel in die Tiefe.
»Zielen!«, befahl ich, obwohl die Entfernung nur wenige Meter betrug. »Los!«
Das dritte Leinentuch legte sich um den letzten Turm, und eine neue Salve brennender Pfeile setzte ihn in Brand. Binnen kurzem war der große Belagerungsturm zerstört.
Wir hätten weitergemacht, wir hätten die Katapulte verbrannt und auch versucht, die Truppen, die unsere Mauern angriffen, in Brand zu setzen, doch da hörten wir zu unserer Verblüffung erneut den erlösenden Schrei: »Rückzug!«
Er wurde dutzendfach aufgenommen.
»Rückzug!«, war auf dem Camino de la Cruz Blanca zu hören.
»Rückzug, gehorcht dem König!«, schrien sie auf dem Campillo de los Chopos.
Der Pfeilhagel versiegte, das Trommeln der Steine gegen die Mauer verstummte. Es blieben nur das Tosen der Brände, die unsere Dächer verzehrten, und die Schreie der Leute, die nach ihren Angehörigen suchten.
Einen Freudentaumel gab es an diesem Tag nicht.
Hunderte rußgeschwärzter Gespenster schrien sich zwischen den Trümmern die Kehlen heiser. Die Hühner, an deren Rettung niemand dachte, gackerten verängstigt, gefangen in ihren Pferchen.
Ich warf den Bogen zu Boden und rannte die Treppe des Turms hinab.
»Yennego!«, schrie ich und rannte stundenlang durch die Stadt, bis mich meine Stimme im Stich ließ. »Yennego, mein Sohn, hier bin ich!«