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Die Kirche Santa María
Diago Vela · Im Jahr des Herrn 1199
, Sommer
Alix strich sich über den Bauch, während wir fassungslos auf dem Marktplatz von Santa María standen und die vierunddreißig Totenhemden zu unseren Füßen betrachteten. Auf dem Friedhof unserer Kirche war kein Platz mehr. Im Inneren von Sant Michel wurden einige Gräber geöffnet, und auf dem kleinen Friedhof von Sant Viçente wurden alte Knochen zusammengeschoben, um Platz für die neuen Bewohner zu schaffen.
»Alle Familien haben jemanden verloren«, bemerkte sie mit abwesendem Blick. »Siebzehn Kinder sind Waisen geworden, jede Zunft nimmt sich der Ihren an. Aber Milia hat ihre Jüngste noch gestillt, und Tello ist ebenfalls tot. Ich werde die Milch der Fischhändlerin kaufen, und falls sie noch nicht abgestillt ist, wenn unsere Tochter im Winter geboren wird, übernehme ich.«
Ich nickte. Für Alix stand fest, dass wir eine Tochter bekommen würden. Immer wieder suchte sie heimlich ein bestimmtes Grab auf dem Friedhof von Sant Michel auf, das halb unter der Mauer begraben lag. Einen Teil des Grabsteins sah man in Nova Victoria, der andere Teil befand sich in der Villa de Suso. Ich wusste, dass die Lavendelzweige auf dem Grab und das rote Bändchen zum Gedenken an Yennego waren. »Komm zurück«, besagten sie, »deine Mutter hat dich nicht vergessen, mein Junge«.
Doch Yennego war bereits weit weg, aus den Gedanken verdrängt von dem Grauen, das wir gerade erlebten. Beinahe war
ich froh, dass er den Angriff nicht erlebt hatte wie andere kleine Kinder, die ziellos durch die Straßen strichen und nach ihren Eltern riefen, bis irgendjemand sich erbarmte und ein Stück Brot und ein paar freundliche Worte für sie fand.
Der Pfarrer von Santa María gedachte all der Seelen, die wir verloren hatten. Danach gingen die Leute schlafen, viele von ihnen in ihren abgebrannten Häusern und Werkstätten, wo sie zusammensuchten, was ihnen geblieben war, nachdem der Lohn eines Lebens harter Arbeit zu Schutt und Asche geworden war.
Alix ging, nach Großmutter Lucía zu sehen. Unsere Häuser standen noch, auch das von Großmutter Lucía, aber das Getöse machte ihr immer noch Angst, und sie sagte ein ums andere Mal, die Donnerschläge vom Morgen würden wiederkehren.
Ich verbarg mich noch in der Kirche, ich brauchte ein wenig Frieden, oder jedenfalls einen Ort, an dem es nicht nach Rauch und Blut stank.
Alle waren fort, nur eine Kerze brannte noch. Die Schatten, die sie warf, tanzten auf der Wand neben dem Altar. Da entdeckte ich, dass ich nicht allein war, und diese stumme Gestalt kannte ich sehr gut.
Nagorno, ein Knie gebeugt, schien zu weinen. Befremdet ging ich zu ihm.
»Ich hab nie zu ihm gebetet«, murmelte er, ohne sich umzudrehen. Er wusste, dass ich es war, er erkannte mich immer am Schritt. »Zum Gekreuzigten. In meinem Herzen bin ich immer noch ein Heide.«
»So sehr Heide wie ich. Aber ich bitte die Götter Sonne und Mond um Erklärungen, und beide schweigen, genau wie dieser hier, zu dem wir nun so oft beten. Hast du ihn um dein Leben angefleht?«
»Nein, du weißt, dass der Tod mir gleichgültig ist und ich keinerlei Respekt vor ihm habe.«
»Und warum tust du dann so, als betetest du?«
»Weil er mir deine Hilfe gewähren soll«, sagte er sehr bedächtig, stand auf und sah mir in die Augen.
»Dann sprich. Was willst du von mir? Deine Vorbemerkungen lassen nichts Gutes ahnen.«
»Du sollst meiner Frau beiliegen.«
Ich nahm sein Anliegen schweigend auf. Onneca …
»Darum bittest du mich nicht«, erwiderte ich leise, »und schweig, du bist im Hause eines Gottes, der nicht einmal den Gedanken daran gestattet. Du bist verheiratet. Morgen sehen wir uns auf der Mauer. Es gibt Wichtigeres als deine absonderlichen Begierden.«
»Sie glaubte, sie sei unfruchtbar. Da habe ich es ihr erzählt.«
Befremdet sah ich ihm in die Augen.
»Dass du der Unfruchtbare von euch bist und ihr keine Kinder schenken kannst?«
Er nickte und wandte den Blick ab.
»Das hast du noch nie einer Frau gesagt. Somit … ist Onneca dir wichtig?«
»Ich will, dass du sie schwängerst.«
Ich schüttelte den Kopf. Der Mann war des Wahnsinns.
»Such dir einen anderen dafür«, erwiderte ich erbost.
»Er muss von unserem Blut sein.«
»Dann Gunnarr«, schlug ich vor.
»Du weißt, dass er enthaltsam lebt.«
»Dann Héctor.«
»Der ist nicht hier.«
»Du wirst schon jemanden finden.« Ich wandte mich zum Gehen.
Doch Nagorno war schneller und stellte sich mir in den Weg. »Sie will nur mit dir!«, klagte er.
»Such dir einen anderen dafür!«, schrie ich erneut und wollte das Gotteshaus verlassen, bevor noch die ganze Stadt wach wurde.
»Du hasst sie, ist es das?«, fragte er und packte mich am Arm. »Und ist das nicht das Gleiche wie die Liebe, die du früher für sie empfunden hast, nur ins Gegenteil verkehrt?«
Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen und nicht auf heiligem Boden irgendeine Gräueltat zu verüben.
»Alix ist mein Eheweib, wir suchen noch immer nach unserem Sohn, und das nächste Kind ist unterwegs. Ich werde nicht zulassen, dass du meine Familie zerstörst. Weder du noch Onneca.«
»Ich fürchte nicht, bei einem Angriff zu sterben, und ich fürchte keine Belagerung, aber du weißt, dass König Alfonso auf diese Festung nicht verzichten wird. Ich hoffe, du begreifst allmählich, dass wir sie übergeben müssen, bevor sie ganz entvölkert ist. Du kennst die kastilischen Gesetze. Wenn Onneca und ich keine Nachkommen haben, wird der König von seinem Recht Gebrauch machen, und der gesamte Besitz der Maestus fällt an die Krone.«
»Und ich werde keinen Finger rühren, um dir deine Titel zu retten.« Damit ging ich davon.