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Verhandlungen
Diago Vela · Im Jahr des Herrn 1199 , Sommer
Am nächsten Tag ließ Chipia mich holen. König Alfonso hatte Verhandlungen angekündigt und wartete vor den Toren der Stadt.
Der Statthalter Chipia, der Richter, der Rat der Einwohner und die Adligen stiegen hinauf auf den Wehrgang. Alle trugen wir unsere Rüstungen, mitsamt Helmen und Brustpanzern, denn nach dem Angriff fühlte sich da oben niemand mehr sicher.
»König Alfonso bietet Euch erneut die Möglichkeit der Übergabe!«, brüllte López de Haro. »Chipia, Ihr habt das Recht, die Festung ohne Verlust Eurer Ehre zu übergeben. Es besteht kein Grund, bis zum Tode zu kämpfen, wenn Euer König Euch nicht zu Hilfe eilt. Und wenn seine Truppen bis jetzt nicht gekommen sind, dann öffnet die Augen: Sie werden auch nicht mehr kommen.«
»Deshalb habt Ihr die Verteidigungslinie errichtet? Ihr wisst so gut wie ich, dass unsere Truppen kommen werden«, erwiderte Chipia lächelnd.
»Meine Boten bringen Nachrichten von Siegen an sämtlichen Orten, die wir zurückerobern wollten. Fast alle Festungen haben sich nach mehr oder weniger heftigem Widerstand ergeben. Ergebt Euch endlich, Eure Händler wünschen sich sicherlich, dass dies weiter ihr Marktflecken bleibt. Öffnet die Tore, und alle Einwohner mögen weiter ihrer Arbeit nachgehen«, rief König Alfonso.
»Und ich glaube, die Festungen Treviño und Portilla halten stand, denn ich kenne ihre Statthalter. Sie haben sich Euch bestimmt nicht ergeben«, behauptete Chipia.
Sowohl der König als auch sein Standartenträger wirkten unruhig.
Nagorno trat zu Chipia und dem Richter.
»Er wird nicht noch einmal angreifen. Er will die Stadt nicht entvölkern, die Festung schleifen und neu errichten müssen. Er will von Vitoria, was Vitoria ist: Wegkreuzung und unumgänglicher Pass zwischen Kastilien, den Häfen des kantabrischen Meers und Aquitanien.«
»Vielleicht sollten wir uns ergeben und verhandeln, solange es noch etwas zu verhandeln gibt«, warf Onneca ein.
Die Isunzas unterstützten sie darin. »Wenn sie die Stadt zerstören, gibt es für uns alle nur das Schwert, und danach siedeln sie neue Leute hier an. Wir aus Nova Victoria sind für die Übergabe.«
»Wir aus der Villa de Suso ziehen es vor, auf die Verstärkung aus Pamplona zu warten«, sagte der Richter.
»Ich befolge König Sanchos Befehle, und seine letzten Worte waren: ›Vitoria ergibt sich nicht.‹ Vielleicht sind sie den anderen Festungen oder San Sebastián zu Hilfe geeilt und vertrauen darauf, dass wir standhalten«, beharrte der Statthalter.
»Chipia, wenn jemand will, dass das alles endet, damit er endlich hinaus und seinen Sohn suchen kann, dann bin ich das«, sagte ich. »Aber warum diese Verzögerung in Pamplona?«
»Ich glaube allmählich, König Sancho hat sein Bündnis mit den Almohaden schon geschlossen und kommt von Süden, deshalb braucht er so lange. In einem Monat sind sie hier, schätze ich, man muss der Belagerung noch einen Monat standhalten. Zudem werden wir im Vorteil sein, wenn das schlechte Wetter kommt. Bei Regen und Schnee werden sie es in ihren Zelten nicht aushalten, auch wenn sie im Umland jagen und fischen können, denn die Kälte und die Krankheiten werden ihnen zusetzen. An einer Belagerung sind sie nicht interessiert.«
»Dann kommen eben neue Soldaten nach!«, sagte Nagorno in scharfem Ton. »Das ist Kastilien, glaubt Ihr, sein Heer besteht nur aus diesen dreitausend Mann?«
Alle betrachteten wir die Truppen zu unseren Füßen. König Alfonso war ungeduldig und ließ sein Pferd mehrfach drehen.
»Was sagt Ihr? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Dass es keine Übergabe gibt!«, schrie Chipia.
Der König ritt zu seinem Standartenträger und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Nagorno und ich wechselten einen besorgten Blick.
Keiner von uns rührte sich von der Stelle. Besorgt warteten wir auf den nächsten Befehl des Königs. Chipia gab den Bogenschützen auf den Türmen ein Zeichen. Sie spannten ihre Bögen.
Doch was wir dann sahen, war das Ausschwärmen des kastilischen Heeres, bis es die gesamte Stadt umzingelt hatte. Von den Karren holten die Soldaten Leinwände und errichteten weitere Zelte. In einem anderen Bereich des Lagers wurden Dreifüße errichtet und daran Kessel für das Essen aufgehängt. Die Bewohner des Außenbezirks der Messerschmiede mussten ohnmächtig mit ansehen, wie Soldaten in ihre Häuser einzogen.
Als niemand mehr auf dem Wehrgang war, als alle mit gesenkten Köpfen die Treppen hinabgegangen waren und über Unglück und schlechte Vorzeichen brüteten, blieben nur mein Bruder Nagorno und ich dort zurück.
»Da hast du es, Bruder«, flüsterte er mir zu. »Das ist eine Belagerung nach allen Regeln der Kunst. Bete zu deinen Göttern, dass die Victorianos sich nicht am Ende gegenseitig aufessen müssen.«