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Der Cantón de Las Carnicerías
Unai · Oktober 2019
Ich fand meine Stimme wieder. Alba in Aktion zu sehen, wie sie Anordnungen gab, ohne die Fassung zu verlieren, zwang mich, von dort, wohin mein Verstand sich geflüchtet hatte, zurückzukehren und wieder einsatzfähig zu werden.
Ich nahm das Telefon, das Iago am Boden liegen gelassen hatte, und rief Germán an.
»Ich mache es kurz: Es ist Großvater. Komm«, gelang es mir, ihm zu sagen.
Mein Bruder verstand. Er war Rechtsanwalt und dekodierte tagtäglich die Abstufungen der menschlichen Verzweiflung.
»Wo?«
»Im Hospital de Santiago.«
»Und du?«
»Deba. Ich lege auf.«
Das genügte. Ich wusste, er würde sich um Großvater kümmern, damit Alba und ich uns auf Debas Entführung konzentrieren konnten.
Alba hatte bereits einen Einsatz organisiert. Der mittelalterliche Stadtkern war abgeriegelt. An sämtlichen Straßen waren Kontrollen eingerichtet. Ich wusste, es war ein Wettlauf mit der Zeit: Sobald Comisario Medina erfuhr, dass das verschwundene Mädchen unsere Tochter war, würde er uns von dem Fall abziehen.
Ich musste an die Belagerung der Stadt denken. Tausend Jahre zuvor hatten die Einwohner den Angreifern den Zutritt verwehrt.
Jetzt belagerten wir die Straßen der Altstadt, damit ein Ungeheuer nicht hinauskonnte.
»Hier!« Es war Miláns Stimme, die ich trotz des Chaos, das in der Altstadt herrschte, erkannte.
Alba und ich rannten zum Cantón de las Carnicerías.
Milán hockte da und betrachtete etwas am Boden.
»Das gehört dem Mädchen, stimmt’s?«, sagte sie, als wir angesprintet kamen.
Debas rotes Armbändchen mit der kleinen Silberdistel, das Estíbaliz ihr geschenkt hatte.
Braves Mädchen.
Ich hatte ihr immer eingeschärft, sie solle Brotkrumen auf den Weg streuen, wenn sie sich verirrte.
Aber meine Tochter hatte sich nicht verirrt. Jemand hatte Großvater mit seinem eigenen Stock niedergeschlagen. Und Großvater hätte niemals zugelassen, dass jemand ihm seinen Gehstock aus Buchsbaumholz abnahm. Er hatte sich dem Angreifer entgegengestellt, und dieser hatte ihn ausgeschaltet. Was wenig Raum für Spekulationen ließ: Jemand hatte Deba entführt. Meine Tochter hatte sich nicht in den Gassen der Altstadt verirrt.
»Ruf die Spurensicherung. Sie sollen beide Tatorte untersuchen«, sagte Alba bloß.
Iago kam zu uns. »Ich weiß, das ist jetzt kein guter Zeitpunkt, um mich vorzustellen. Sie sind sicher Subcomisaria Díaz de Salvatierra.«
»Das ist Iago del Castillo. Er hat versucht, Großvater wiederzubeleben«, erklärte ich Alba.
Iago schüttelte ihr gemessen die Hand. Dann trat ich ein Stück zur Seite und winkte ihn unauffällig zu mir, während Alba weitere Anweisungen erteilte.
»Nur eine Frage, Iago, denn im Moment kann ich sonst an nichts anderes denken. Der kleine Sohn des Conde Don Vela verschwand ja im Roman. Haben sie … haben sie ihn irgendwann gefunden? Steht in der Chronik oder einem anderen Dokument der Familie ein Todesdatum für ihn?«
Iago wandte den Blick ab und schloss die Augen, als wollte er eine schmerzliche Erinnerung verdrängen.
Dann fasste er sich. Er legte mir seine starke Hand auf die Schulter, wie ein Mammutbaum, der mit einem seiner Äste einen jungen Ableger stützt.
»Nein, Unai. Tut mir leid. Tut mir sehr leid. Yennego, Diago Velas Sohn, ist nie wieder aufgetaucht.«