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Im Regen
Ramiro Alvar · April 2017
Ramiro Alvar ging im Regen spazieren. Es machte ihm nichts aus, mit schlammverkrusteten Stiefeln nach Hause zu kommen, und er liebte den Geruch der Landschaft nach einem Gewitter. Er nahm den Weg, der nach Ugarte führte, und spazierte in aller Ruhe durch den Pappelwald. Kurz erwog er, ins Dorf zu gehen und ein Schwätzchen mit dem einen oder anderen zu halten, doch der Wind frischte auf, und er hielt es für das Vernünftigste, in den Turm zurückzukehren, ein Feuer im Kamin zu machen und einen guten Roman zu lesen.
Als er an der Kirche vorüberkam, fiel ihm auf, dass das Tor zum Privatfriedhof seiner Familie offen stand, dabei ließ er es niemals offenstehen.
Vorsichtig betrat er den Friedhof. Seine Brille war nass, und deshalb konnte er nicht gut sehen, aber da stand jemand vor einem der Gräber.
»Entschuldigung, suchen Sie etwas Bestimmtes?«
Der junge Mann schrak zusammen und drehte sich zu ihm um. Seine Augen waren geschwollen, als hätte er geweint.
»Verzeihung, ich dürfte wohl gar nicht hier sein«, erwiderte er.
»Stimmt, das ist Privatbesitz. Kenne ich dich von irgendwoher?«
Das Gesicht kam ihm bekannt vor – dieses kantige Kinn, das dunkle wellige Haar. Obwohl der junge Mann völlig durchnässt war und einen bedauernswerten Anblick bot, sah man doch, dass seine Kleidung von guter Qualität war, und er schien wohlerzogen zu sein.
»Ich heiße Gonzalo Martínez, ich bin der Sohn von Gemma Martínez. Sie wurde in Ugarte geboren. Vor kurzem habe ich erfahren, dass mein Vater der Mann war, der hier begraben liegt, Alvar Nograro. Bis dahin wusste ich nichts von dieser Familie, und jetzt sehe ich hier sein Grab. Er muss es sein, er wurde 1969 geboren.«
»Und er starb 1999 , so ist es«, bestätigte Ramiro Alvar.
Gemmas Sohn. Also hatte sie nicht abgetrieben, sondern das Geld genommen und das Kind bekommen, den Sohn zweier Halbgeschwister.
»Woran ist er gestorben?«
»Thalassämie, eine erbliche Blutkrankheit in ihrer schwersten Form.« Er wusste selbst nicht, warum er einem Fremden eine so ausführliche Information gab, und ihm wurde klar, dass er gerade zum ersten Mal jemandem erzählt hatte, woran Alvar gestorben war. Mit achtzehn hatte er nicht die Kraft gehabt, ins Dorf zu gehen und jemandem in die Augen zu sehen.
»Kannten Sie ihn?«, fragte Gonzalo, und Ramiro Alvar betrachtete ihn genauer. Er hatte eine kaum sichtbare Narbe von einer Hasenscharte zurückbehalten, was ihm etwas Tigerartiges verlieh.
»Ich bin sein Bruder.«
Gonzalo musterte ihn ausgiebig. »Verzeihung, Sie sind der erste aus der Familie meines Vaters, den ich kennenlerne.«
»Und deine Mutter?«, fragte Ramiro Alvar. Normalerweise war er in diesen Dingen nicht so schnell oder so direkt, aber dieser junge Mann hatte sämtliche Erinnerungen an eine Phase geweckt, die Ramiro vor langem verdrängt hatte.
»Meine Mutter ist seit einiger Zeit verschwunden. Ich vermute, sie ist mit ihrem neuen Freund abgehauen, ich war wohl eine Last für die beiden. Die Polizei kann sie in Spanien nicht finden und glaubt, sie sei aus freien Stücken gegangen. Kurz bevor sie verschwand, habe ich sie so lange nach meiner Familie gefragt, bis sie mir schließlich von Ugarte, Alvar Nograro und der Familie Martínez erzählt hat. Ich war auch schon im Dorf, aber meine Großeltern sind ebenfalls tot. Es ist niemand mehr übrig. Ich wollte mich eigentlich nach meinem Vater erkundigen. Verzeihen Sie, dass ich Ihr Eigentum betreten habe. Ich wollte sowieso gerade gehen.«
»Das macht nichts. Wo übernachtest du?«
»Es gibt eine Landpension hier in der Nähe, La Ferrería . Die junge Wirtin hat mir gesagt, sie habe noch Zimmer frei. Danach reise ich ab«, sagte er und wandte sich zum Gehen.
»Warte«, hielt Ramiro ihn auf. »Wohin? Wohin ist Gemma von Ugarte aus gegangen, als sie mit dir schwanger war?«
»Ich wurde in einem kleinen Dorf in Asturien geboren, aber wir haben an vielen Orten gelebt.« Gonzalo blieb bewusst vage, er merkte, dass Ramiro Alvar kurz davor stand umzufallen. »Hören Sie, mir ist klar, dass Sie denken, ich sei gekommen, weil ich irgendetwas von meinem Vater fordern wollte. Aber ich will kein Geld, da können Sie ganz ruhig sein. Wobei ich keine Angst vor einem DNA -Test hätte, um es zu beweisen. Ich glaube meiner Mutter, sie hatte keinen Grund, mich anzulügen, nur um hinterher zu verschwinden. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und ohne Familie und ohne Wurzeln aufgewachsen. Jetzt ist meine Mutter auch noch weg, und ich bin ganz allein. Ich wollte einfach mehr darüber erfahren, woher ich komme, aber hier gibt’s nicht viel für mich, das ist mir jetzt klar.«
Und er ging durch den Regen davon Richtung Ugarte. Die junge Wirtin der Landpension, deren Namen er schon wieder vergessen hatte, wartete auf ihn. Sie hatten gestern Abend miteinander geschlafen, und Gonzalo wusste, er würde das Zimmer noch ein paar Tage nutzen können, ohne dafür zu bezahlen.
Ramiro Alvar blickte ihm hinterher. Er sah Gemma so ähnlich …
Am nächsten Morgen wachte er halb erfroren auf. Jemand hatte das Fenster in seinem Schlafzimmer offen gelassen, und es hatte hereingeregnet. Offenbar war er einfach aufs Bett gefallen, ohne auch nur die Decke zurückzuschlagen. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass er Alvars Soutane trug. Wo kam die bloß her? Hatte er denn nicht nach der Beerdigung Alvars gesamte Kleidung entsorgt? Er suchte auf dem Nachttisch nach seiner Brille, fand sie aber nicht.
Alvar hatte sie versteckt. Er war in seinen Kopf eingedrungen und hatte begonnen, ihm Streiche zu spielen.